01.09.2017


Dierk Wolters

Keine Zeit für Rechtschreibung

Zwei Experten, die sich mit der deutschen Sprache beschäftigen, geben Auskunft

Die ganze Schulkindheit lang pauken Kinder Orthografie und Zeichensetzung. Und nebenher schreiben sie Kurznachrichten, in denen die korrekte Form überhaupt keine Rolle mehr spielt. Verändert die digitale Welt unser Denken?

(Bildunterschrift, die Abkürzungen in einem Smartphone-Chat erläutert: bidunowa=Bist du noch wach, kb=Keinen Bock, hase=Habe Sehnsucht, dubimeile=Du bist mein Leben, *gig*=Großes Grinsen, wdk=Will dich knutschen, xxx=Drei Küsse, akla=Alles klar, dn=Du nervst, 2g4u=Ich bin zu gut für dich, Sims=Schatz, ich mach Schluss.)

Wir sind durchdigitalisiert. Der erste Blick nach dem Aufstehen gilt dem Handy-Display, beim Frühstück werden Mails gecheckt, die ersten Antworten geschrieben, noch bevor der Kaffee ausgetrunken ist. Und so geht es weiter, den ganzen Tag lang: Die Kinder werden verabschiedet, doch kaum ist die Haustür ins Schloss gefallen, fällt einem noch etwas Wichtiges ein – kein Problem, man kann Sohn oder Tochter ja noch eine Nachricht in den Schulbus hinterherschicken.

Doch beim Tippen auf dem Handydisplay schließen Schnelligkeit und Korrektheit einander aus. Wer sich vornimmt, Groß- und Kleinschreibung oder gar die Zeichensetzung zu beachten, muss dauernd zwischen verschiedenen Tastaturseiten blättern. Wer es nicht tut, riskiert, seinem Kind an falscher Stelle ein Vorbild zu sein: im schlampigen Umgang mit der deutschen Sprache. Ein Gewissenskonflikt mit möglicherweise weiterreichenden Folgen, als man zunächst glaubt. Verändern Kurznachrichten von Diensten wie SMS oder WhatsApp unser Denken? Beeinflusst das Tippen auf dem Handybildschirm unser Verhältnis zur Sprache und dem, was wir für richtig oder falsch erachten?

Technische Revolution

„Es wird so viel geschrieben in dieser Welt wie noch nie. Aber: Es wurde auch noch nie so viel Falsches geschrieben“, stellt Roland Kaehlbrandt fest. Der Linguist ist Vorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft in Frankfurt, hat zahlreiche Bücher über Sprachgebrauch und -entwicklung geschrieben und ist seit vergangenem September Honorarprofessor für Sprache und Gesellschaft an der Alanus-Hochschule bei Bonn.

Falsch, relativiert er sogleich, sei Sprache aber immer nur im Vergleich mit einer Norm, die sich im Lauf der Jahrhunderte entwickelt hat. Was als richtig oder falsch gelte, verändere sich also. Und gegenwärtig verändere sich besonders viel, „unter dem Druck der technischen Revolution und der neuen Möglichkeiten der Kommunikation“.

Einen „Rückgang des Stellenwerts der Rechtschreibung“ konstatiert auch Sabine Krome. Sie ist Mitglied im Deutschen Rechtschreibrat und am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim zuständig für den Bereich „Forschungsinfrastruktur Schreibbeobachtung“. „Durch digitale Formen wie SMS, aber auch durch E-Mails, verändert sich unser Sprachverhalten“, sagt sie.

Aus „Verdichtung und Verkürzung“ könne leicht „Vereinfachung“ werden – das beginne schon auf der Rechtschreibebene mit der Nichtbeachtung von Groß- und Kleinschreibung: „Und das macht es natürlich schwieriger, sie in anderen Texten richtig anzuwenden“. Was noch weniger auffällt, sei mangelnde oder ganz fehlende Zeichensetzung. „Da hat auch die Rechtschreibreform einen Fehler gemacht, weil viele Kommas wegfallen durften. Gerade durch Zeichen aber setzt man eigene Zeichen“, sagt Sabine Krome.

Antike Rhetorik

„The Medium is the message“ – das Medium ist die Botschaft – formulierte schon der Sprachwissenschaftler Marshall MacLuhan Mitte der 60er Jahre. Er bezog sich, lange vor dem Internet-Zeitalter, auf das hypermoderne Fernsehen. Erst formen wir die Medien, dann formen die Medien uns: Das war seine zentrale Botschaft.

Gegen allzu viel Sprach- und Kulturpessimismus führt Kaehlbrandt ein bedenkenswertes Kriterium an: das der Angemessenheit. Schon die antike Rhetorik empfehle, zunächst sehr genau darauf zu achten, was wir sagen und wo. Ob wir etwas Offizielles schreiben oder informell kommunizieren, das gebe die Situation vor. „Das erkennen zu können ist ein Bildungsziel.“ Wer dazu fähig sei, könne entspannt bleiben. „Wenn Sie sich aufregen in der Familie, und Ihre Kinder entgegnen Ihnen: ,Chillma‘ – das ist schon sehr lässig, entwaffnend und cool.“ Als Gruß in einer Geschäftsmail, schreibt Kaehlbrandt in einem Aufsatz, wirke die gleiche Formel allerdings deplatziert.

Das Nicht-Erkennen der Angemessenheits-Grenzen sei schwieriger geworden. Das Mündliche sei heute im Schriftlichen viel präsenter als früher – „eine Art Kulturrevolution“. Das Mündliche, definiert er, habe „das Recht auf Spontaneität, Satzabbruch, Dialektismen“, es lebe sogar davon. Der Unterschied zwischen den Ausdrucksformen sei Jahrtausende alt. Seine Aufhebung erzeuge eine neue dialektische Spannung. „Einfach zu fragen ,wie jetzt?‘, statt zu sagen: ,Meinen Sie wirklich, dass es sich so verhält . . .?‘ – das kann sehr witzig sein. Oder aber: ,Das geht gar nicht‘, mit der Steigerungsform: ,Das geht sowas von gar nicht‘. Ich finde das wunderbar. Das ist kommunikationsstark und hat Witz – wenn es zur Situation passt.“

Gedanken verknüpfen

Kürze kann also kreativ sein. Aber auch eindimensional. Denn fehlende Rechtschreibfertigkeiten und mangelhaftes Grammatikverständnis haben Auswirkungen auf die Fähigkeiten, Gedanken richtig zu verknüpfen. „Das ist eindeutig nachgewiesen“, sagt Sabine Krome und verweist auf Untersuchungen an der Universität Duisburg-Essen. „Textverständnis, Orthografie und logisches Denken gehören eng zusammen.“ Wer nie zusammenhängende Texte schreibe, „denkt oft nur in einem vereinfachenden Bild: Nehmen Sie Ausdrücke aus der Comicsprache wie ,gähn‘ und ,würg‘: Das stellt nur plakativ punktuelle Befindlichkeiten dar.“

Auch an der Verwirrung, die die Rechtschreibreform 1996 ausgelöst habe, sehe man, wie wichtig korrekte Rechtschreibung sei: „Damals hatte man sich zum Beispiel bei der Zusammen- und Getrenntschreibung dafür entschieden, rein formal vorzugehen. Das gab die semantische Bedeutung aber oft nicht wieder. Ob etwas leicht falle oder leichtfalle, sei eben ein Unterschied. Das Lieblingsbeispiel von Hans Zehetmair, von 2004 bis 2016 Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung, sei immer der Unterschied von „sitzen bleiben“ und „sitzenbleiben“ gewesen.

Mehr Fantasie

Kurznachrichten, ergänzt durch Emojis, können die Art der zu kurz und damit danebengreifenden Kommunikation befördern. Kaehlbrandt bedauert, dass für den „langen Satz, den periodischen Stil, der im 19. Jahrhundert geprägt wurde, heute nur noch sehr wenig Geduld“ da ist. „Durch das auf schnelle Verständlichkeit getrimmte Schreiben geht uns die Übung dafür ein wenig verloren.“ Zugleich wisse man aber aus dem Vergleich von studentischen und von Schülertexten über die Jahrzehnte, dass sie „heute fantasievoller, gedankenreicher und vielgestaltiger“ seien als früher. „Die Sprachrichtigkeit ist allerdings deutlich zurückgegangen.“

Womit man wieder bei der Konvention und den Normen der Sprache angelangt wäre. Was ist richtig, was falsch? Kaehlbrandt, der in der Polytechnischen Stiftung viel mit jungen Menschen zu tun hat, führt einen der „Stadtteilbotschafter“ seiner Frankfurter Stiftung an. „Der sagte mir einmal, er könne mehrere Register ziehen, je nach Anlass: schnell etwas hinwerfen, eine kurze Fassung, das kann auch etwas Spielerisches, Ironisches haben. Er könne aber ebenso einen schönen Brief schreiben, oder eine Seminararbeit – und die schreibe er tatsächlich in korrektem Deutsch.“ Da komme eine neue Tonalität auf. Lässigkeit, sagt Kaehlbrandt, sei ja „auch eine Haltung sich selbst gegenüber. Nicht ideologisch, sondern offen für viele Richtungen. Sie muss allerdings gekonnt und angemessen sein“.

Quelle: Frankfurter Neue Presse
Link: http://www.fnp.de/nachrichten/kultur/Zwei-Experten-die-sich-mit-der-deutschen-Sprache-beschaeftigen-geben-Auskunft;art679,2754531

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