05.07.2017


Viktor Hermann

Endlich wieder ein wichtiges Problem: Das "ß" als Großbuchstabe

Der Rechtschreibrat hat eines der wirklich zentralen Probleme der deutschen Orthografie gelöst. Oder so . . .

In jenen Zirkeln, die sich mit der Klarheit und Schönheit der deutschen Sprache befassen, tobt seit Kurzem eine ziemlich heftige Debatte darüber, dass es in Hinkunft auch möglich sein soll, das "scharfe s", mithin den Buchstaben "ß", auch als Großbuchstaben zu verwenden. Die einen glauben, der Rat für deutsche Rechtschreibung habe seine Kompetenzen weit überschritten, die anderen, er habe die Ge legenheit verpasst, diesen unsinnigen Buch staben endgültig abzuschaffen.

Es tut der Betrachtung gut, das Corpus Delicti genauer unter die Lupe zu nehmen. Das "ß" ist tatsächlich kein Buchstabe, sondern eine Ligatur, also ein Buchstabenverbund zweier Buchstaben, nämlich des heute nicht mehr existenten langen "s" und des "z". Deshalb heißt es in der Schweiz ja auch "sz". Nachdem der Rechtschreibrat bei der großen Rechtschreibreform das "ß" stark zurückgedrängt hat, macht dieselbe Institution den Buchstaben wieder wichtig, weil sie ihm gibt, was alle anderen Buchstaben haben: eine große Variante.

Nun möchte man meinen, nirgendwo ein Wort oder wenigstens einen Eigennamen finden zu können, der mit einem großen "ß" zu schreiben wäre. Wozu also das Theater? Nun, in der Werbung setzt man zunehmend Großbuchstaben ein, um ganze Botschaften zu vermitteln. Also ist wieder einmal die Werbung mit einem recht dümmlichen Auswuchs verantwortlich für die Verhunzung der Sprache. Wer ganze Sätze in Großbuchstaben schreibt, versucht damit besonders eindrücklich zu sein. Man könnte auch sagen, er schreit. Das erinnert an den Grundsatz aus der amerikanischen Radio- und Fernsehwerbung: "Wenn du nichts zu sagen hast, dann sing es." Und so brechen Werbetexter immer, wenn Argumente fehlen, in Großbuchstaben-Geschrei aus.

Und dafür erfindet jetzt der Rechtschreibrat einen neuen Großbuchstaben? Ganz abgesehen davon, dass noch kaum ein Computer in der Lage ist, solch ein Unding zu Papier zu bringen, schert sich die Werbung ohnehin kaum um Orthografie, Grammatik und sinnhafte Inhalte. Ihr gilt ja seit Langem, dass angebliche Kreativität wichtiger sei als korrektes und verständliches Deutsch, weshalb sie ja auch gern auf englische Phrasen ausweicht und diese dann auch noch falsch verwendet. Das große "ß" wird diesen Missstand mit Sicherheit nicht beheben.

Übrigens, seit mit der Rechtschreibreform der Konjunktion "daß" das "ß" weggenommen und durch ein "ss" ersetzt wurde, hat sich die Zahl der Verwechslungen des Bindeworts "dass" mit dem bezüglichen Fürwort "das" potenziert. Darüber freuen sich höchstens die Korrektoren, deren Jobs damit zusätzlich unverzichtbar geworden sind.

Quelle: Salzburger Nachrichten
Link: http://www.salzburg.com/nachrichten/meinung/kolumne/hevi/sn/artikel/endlich-wieder-ein-wichtiges-problem-das-ss-als-grossbuchstabe-254946/

Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=757