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01.03.2006
 

Schweizer Sonderweg
EDK-Präsident lehnt Ratsvorschläge »vorderhand« ab

Im Gespräch mit dem St. Galler Tagblatt erklärt Hans Ulrich Stöckling, daß die Schweiz »keine überstürzten Änderungen« an der Rechtschreibreform wünsche.

Währenddessen bemängelt der Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband die Verletzung »aller politischen Anstandsregeln« durch die Geschäftsführung des Rats für deutsche Rechtschreibung.


Im Durcheinandertal
Rechtschreibreform 06: Noch mehr Varianten, noch weniger Einigkeit

Morgen entscheiden die Kultusminister Deutschlands über die neuste Reform der Rechtschreibreform. Die Schweiz zieht voraussichtlich nicht mit. Kritiker reden von «Chaos». Erziehungsdirektor Stöckling sieht aber «keinen Grund zur Aufregung».

Peter Surber

Den einen tut die verlorene Rechtschreib-Ordnung leid oder Leid, die andern sind die ganze Diskussion längst leid. Zu Ersteren gehört der St. Galler Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann. «Der erste April findet am zweiten März statt»: So kommentiert er den nächsten Akt im Trauerspiel um die Rechtschreibung.

Am morgigen 2. März entscheidet die deutsche Kultusministerkonferenz über die jüngste Überarbeitung der 1996 eingeführten Reform. Die Vorschläge stammen vom 36-köpfigen Rat für deutsche Rechtschreibung, der nach den politischen Querelen um die Reform eingesetzt worden war. Die Minister hoffen auf «Rechtschreibfrieden» – wohl vergeblich. «Das Chaos wird immer grösser», kommentiert etwa die Zeitung «Die Welt».

Der Widerstand wächst

Die FAZ forderte am Montag erneut den Abbruch der Übung. Auch das PEN-Zentrum, der Brockhaus Verlag, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft oder der Verband Bildung und Erziehung opponieren. Am kritischsten aber, lobt der «Welt»-Autor, sei die Schweiz.

Hier hat der Lehrerverband LCH die jüngsten Reformvorschläge in einem fünfseitigen Papier zurückgewiesen. Die Nachrichtenagentur SDA meldet Widerstand an, und der «Sprachkreis Deutsch» fordert in einem offenen Brief die Erziehungsdirektoren zu einer «sprachwissenschaftlichen Überprüfung des ganzen Regelwerks» auf.

Diese Forderungen weist EDK-Präsident Hans Ulrich Stöckling auf unsere Anfrage hin zwar zurück. Das Chaos sei «herbeigeredet» (vgl. Interview). Aber die jüngsten Reformvorschläge hält auch er für unausgegoren.

Die alten Streitfälle

Worum geht es im Einzelnen? Die neuen Vorschläge bringen vereinzelte akzeptable Kehrtwendungen, zum Beispiel die erneute Grossschreibung des Anrede-«Du». Problematischer sind die Änderungen auf den beiden kompliziertesten Gebieten:

– Getrennt- und Zusammenschreibung: Gegenüber 2004, als die Getrenntschreibung zum Normalfall und die Zusammenschreibung zur Ausnahme erklärt wurde, nimmt der Rat eine Aufweichung vor, wobei er sich auf «Sprachgebrauch», «Sprachbau» und «Sprachempfinden» stützt – nach Ansicht des LCH keine praktikablen Kriterien. Unter anderem soll man neu wieder «Rad fahren» statt «radfahren», jedoch «brustschwimmen» oder alternativ «Brust schwimmen». Die Schülerinnen und Schüler bleiben, so der LCH, «Rat suchend» oder «ratsuchend» – also ratlos.

– Gross- und Kleinschreibung: Hier wird es definitiv unübersichtlich. Reformgegner Stirnemann nennt als Beispiel die einstigen alten Formen: «im allgemeinen, vor allem, unter anderem, aufs neue, von neuem, aufs herzlichste, am besten, des weiteren, ohne weiteres» – und kontrastiert sie mit den neuen Vorschriften: «im Allgemeinen, vor allem, unter anderem/Anderem, aufs Neue, von neuem/Neuem, aufs herzlichste/Herzlichste, am besten, des Weiteren, ohne weiteres/Weiteres». Sein Kommentar: «Es ist diese wirre Häufung von Varianten, welche den LCH zu seinem scharfen Urteil brachte, dass die Empfehlungen den Respekt vor der Rechtschreibung weiter abbauen werden.»

Die jüngsten Vorschläge durchbrächen die Systematik, zudem erhöhe sich durch die Variantenvielfalt «die Verunsicherung und der Nachschlagbedarf», bilanziert der LCH. Gravierend sei dies in erster Linie für die Lernenden: Ihnen würden Fehler angerechnet, «die im Schreiballtag längst durchgehen».

Luxus-Probleme?

Allerdings relativiert der LCH seine Kritik gleich selber: Im Vergleich mit solchen Orthografie-Detailfragen bewegten sich die Schreibsorgen der Schülerinnen und Schüler «auf einem massiv tieferen Niveau. Schulen wären glücklich zu preisen, wenn dort nur noch Fehler in den genannten Bereichen gemacht würden».

Das war im Anfang ein Ziel der Reform: die übermässige Fixierung auf Rechtschreibfehler zu mindern. Ob dieses Reformziel erreicht wurde, darüber fehlen gesicherte Erkenntnisse. Aber wenn man einbezieht, dass die Jugendlichen heute sowieso am liebsten Mundart schreiben und simsen – und sich dort gar eine subkulturelle Orthografie herauszubilden scheint –, so ist gewiss: In Zukunft stellen sich, was Sprachpflege und Schreibgewandtheit im Deutschen betrifft, jenseits von «radfahren» und «Rad fahren» noch ganz andere Fragen.

Link: www.tagblatt.ch/index.php?artikelxml=xxx&artikel_id=1156333&ressort=tagblattheute/kultur


«Das Chaos ist herbeigeredet»

Der Sprachkreis Deutsch hat am 23. Januar mit einem offenen Brief an die Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, deren Präsident Sie sind, einen «Marschhalt» für die Rechtschreibreform gefordert. Ihre Antwort darauf?

Hans Ulrich Stöckling: Für die heutigen Schülerinnen und Schüler (Primarschule, Oberstufe und Gymnasium) stellt die neue Rechtschreibung überhaupt kein Problem dar, weil sie seit ihrem Schuleintritt nach diesen Regeln unterrichtet worden sind. Dies hat dann auch dazu geführt, dass sich in der Schule am ersten August nichts geändert hat. Kein Schüler, der nur nach den neuen Regeln unterrichtet wurde, kommt auf die Idee, Regeln der alten Rechtschreibung anzuwenden. Die schweizerischen Lehrerverbände haben deshalb unsere Position auch immer unterstützt. Zuzugeben ist, dass der Kanton Bern immer noch die so genannte alte Rechtschreibung zulässt.

Jetzt soll es wieder Änderungen geben. Ist die EDK nicht der Meinung, dass die Verunsicherung dadurch immer grösser wird?

Stöckling: Der von der Kultusministerkonferenz Deutschlands zusammen mit Österreich und der EDK eingesetzte Rat für Deutsche Rechtschreibung hat jetzt neue Vorschläge unterbreitet. Über diese ist kein vernünftiges Vernehmlassungsverfahren durchgeführt worden. Deshalb haben wir mitgeteilt, die Schweiz würde diese Neuerungen vorderhand nicht übernehmen. In dieser Haltung werden wir auch von den Lehrerverbänden unterstützt. Wir wollen zurzeit keine überstürzten Änderungen mehr.

Ist der offene Brief bei Ihnen also auf offene Ohren gestossen?

Stöckling: Was den offenen Brief betrifft, so enthält dieser Forderungen, die auf keinen Fall übernommen werden können. Regeln rückgängig zu machen, die seit über zehn Jahren in den Schulen angewendet werden, würde das von diesen Leuten herbeigeredete Chaos erst verursachen.

Im Übrigen ist die EDK nach wie vor der Meinung, dass in einem freien Land jeder schreiben kann, wie er will. Namhafte Schriftsteller, aber auch gewisse Zeitungsredaktionen haben sich schon bisher nicht an die neuen Regeln gehalten, sondern eigene entwickelt. Wir brauchen einzig für die Schule ein Regelwerk. Wenn wir darauf verzichten und auf irgendwelche diffuse «alte Rechtschreibregeln» zurückkommen, dann wird der Sprachunterricht für die Lehrkräfte zum unmöglichen Unterfangen.

Zurzeit besteht zumindest aus der Sicht der Ausbildung kein Grund zur Aufregung. Die neuen Regeln werden in der Schule diskussionslos angewandt, und die Schülerinnen und Schüler kennen gar nichts anderes. Deshalb müssen wir bei neuerlichen Korrekturen ausserordentlich vorsichtig sein. (Su.)

Link: www.tagblatt.ch/index.php?artikelxml=xxx&artikel_id=1156393&ressort=tagblattheute/kultur


Erklärung des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes (SBVV) zu den Empfehlungen des Rates für Rechtschreibung

Fast zehn Jahre sind seit Einführung der neuen, wenig geglückten Rechtschreibregeln vergangen. Diese lange Zeit wurde von den Politikern in Abschnitte eingeteilt, in denen nichts geändert werden durfte, und in solche, in denen in unnötiger Eile Änderungen durchgeboxt wurden. Das ist denn auch der Grund, weshalb bis heute keine Lösung gefunden wurde und die Rechtschreibung sich immer noch „in hängenden Rechten“ befindet. Eine für die Verleger unmögliche Situation.

Auch die neuesten Änderungsvorschläge des Rates für Rechtschreibung wurden auf die Schnelle zusammengestellt. Und um diese Eile noch deutlicher zu machen, widerrief der Vorsitzende des Rates, Staatsminister a. D. Hans Zehetmair, eine Einladung zu einem Anhörungsverfahren, die er noch vor ein paar Wochen ausgesprochen hatte. Seine Begründung, die Anhörung sei unnötig, da man sich im Rat für Rechtschreibung einig sei, verletzt alle politischen Anstandsregeln. Zu diesem Bild passt es, dass im Rat für Rechtschreibung alle, die gegen diese verunglückte Rechtschreibung aufbegehren, als „Krawallmacher“ verunglimpft werden.

Die Empfehlungen des Rates stellen eine weitere Relativierung der Grundsätze von 1996 dar, was wir begrüssen. In vielen Fällen wird das aber durch Varianten erreicht. Varianten sind für uns Verleger kaum und für die Schulen noch weniger geeignet. Viele missratene Regeln wurden leider nicht überarbeitet. Bei der Vorlage des Rates handelt es sich also um eine weitere vorläufige Fassung, die kaum länger Geltung haben wird als diejenige vom Juni 2004.

Ein Ende der unseligen Auseinandersetzung wird erst eintreten, wenn eine wirklich tragfähige Grundlage gefunden ist. Es ist zu hoffen, dass der Rat für Rechtschreibung seine zögerliche Haltung aufgibt und endlich Grundlagen schafft, auf die wir uns verlassen können.

Zürich, 28. Februar 2006

Men Haupt
Präsident des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes (SBVV), Zürich



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Kommentare zu »Schweizer Sonderweg«
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.03.2006 um 11.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3268

Es hängt davon ab, wieviele Schweizer als Studenten oder Arbeitnehmer nach Deutschland kommen und ob Schweizer Verlage für Deutschland Schul-, Kinder- und Jugendbücher herausgeben. Für die übrigen Schweizer Bürger kann niemand die Schweiz daran hindern, ihre eigene Schweizer Rechtschreibung festzulegen und z.B. wie Österreich ein Schweizer Wörterbuch herauszugeben. Für den deutschsprachigen Büchermarkt empfiehlt sich die normale Rechtschreibung als die bessere.

Im übrigen meine ich, daß es Zeit für ein Süddeutsches Wörterbuch ist, weil die süddeutschen Rechtschreib- und Grammatik-Besonderheiten im Duden nicht genügend gewürdigt und in den Schulen nicht gelehrt, sondern höchstens geduldet werden.


Kommentar von GL, verfaßt am 04.03.2006 um 10.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3266

Warum sollte die Schweiz mitmachen "müssen", nachdem selbst die alten Schlachtrosse eingestehen, ziemlich frustiert zu sein und mit der Zeit nicht einmal mehr an den Abstimmungen teilnahmen? Kaum erträglich auch die plumpe Art und Weise, sich zu rechtfertigen, die meines Erachtens mit der Rechtschreibreform nichts zu tun hat. Sich von der KMK in Sachen deutscher Sprache nicht abstumpfen zu lassen, wäre nicht das Dümmste.



Kommentar von Tages-Anzeiger, 4. 3. 2006, verfaßt am 04.03.2006 um 01.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3261

«Schweiz kann kaum ausscheren»
Alles anders: In Deutschland wird aus «Eis laufen» wieder «eislaufen» – wie vor der Rechtschreibereform.

Der Lehrerverband wehrt sich gegen erneute Anpassungen der Rechtschreibung. Dagegen Sturm laufen will er aber nicht. Im Deutschunterricht gebe es grundlegendere Probleme.

Mit Max A. Müller* sprach Matthias Baer

Die von den deutschen Kultusministern abgesegneten Änderungen scheinen sinnvoll. Etwa, dass man «eislaufen» wieder zusammenschreiben darf. Warum wehrt sich der Lehrerverband LCH dagegen?

Dagegen wehren wir uns gar nicht. Tatsächlich würden eine Menge Scheusslichkeiten beseitigt. Problematisch sind aber zwei Punkte. Zum einen sind häufig mehrere Varianten gleichzeitig möglich, etwa «kennen lernen» und «kennenlernen». Zum anderen sind die revidierten Regeln unsystematisch. Die zentrale Vorgabe für die ursprüngliche Rechtschreibreform, dass man die grammatikalischen Regeln logisch ableiten kann, wird damit verletzt. Die Schüler müssen wieder ständig im Wörterbuch nachschauen.

Mehrere mögliche Schreibweisen, sich ändernde Regeln -- bei den Schülern könnte der Eindruck eines Anything-goes entstehen.

Genau das geschieht. Wobei das Anything-goes im Deutschunterricht längst Realität ist. Sie müssen eines sehen: Die angepassten Regeln betreffen die Volksschule nur am Rande. Was unsere Schüler im Deutschunterricht nicht beherrschen, bewegt sich auf einem viel tieferen Niveau. Von daher sind die Neuerungen auch wieder nicht so relevant.

Das tönt so, als wären Sie schon froh, wenn Ihre Sekundarschüler «Lehrer» mit h schreiben.

Es geht in diese Richtung. Unsere Schüler machen bei weitem nicht jene Fehler, die von den neuesten Regelungen irgendwie tangiert würden. Ob sie «leidtun» getrennt schreiben oder zusammenschreiben, gross oder klein ist mit Abstand das harmloseste Problem. Uns beschäftigt anderes, nämlich der riesige Druck auf die deutsche Sprache. Da spielen die Mundart und ausländische Idiome eine Rolle. Da geht es um SMS und Mails, wo die Sprache vollkommen verludert.
Dann ist es ja nicht so schlimm, wenn ein paar Regeln ändern.

Ich bin auch nicht fassungslos angesichts der Anpassungen. Der Respekt vor der Sprache und die korrekte Sprachanwendung befinden sich ohnehin im freien Fall. Von daher spielt es keine grosse Rolle, ob auch noch die Reform der Reform dazukommt.

Dem Lehrerverband missfallen nicht nur die Vorschläge, er kritisiert auch die Arbeitsweise des Rats für Rechtschreibung. Sie waren Mitglied der Gruppe. Was lief schief?

Es bringt nichts, im Nachhinein gross Manöverkritik zu betreiben. Wir von der Schweizer Delegation waren aber ziemlich frustriert. Das kann ich verraten.

In einem Bericht für den LCH wurden Sie deutlicher: Anträge der Schweizer seien «ignoriert und überstimmt» worden. Der deutschen Seite sei es um die «Beherrschung der Vorgänge» gegangen.

Ich bin ein altes Schlachtross und habe Tausende von Sitzungsstunden erlebt. Solche Sitzungen wie in Mannheim sind mir aber nie untergekommen. Auch was die Leitung der Diskussion angeht. Das hatte mit durchschnittlich mitteleuropäischen Standards nichts mehr zu tun.

Mit der Zeit haben Sie sich nicht einmal mehr an den Abstimmungen beteiligt.

Es kommt der Punkt, wo Sie sich eingestehen müssen, dass es keinen Sinn mehr macht, an Abstimmungen teilzunehmen, deren Ausgang im Voraus festgelegt ist.

Wie geht es nun weiter? Übernimmt die Schweiz die Anpassungen oder nicht?

Der Lehrerverband und die Schweizer Delegation werden sich kommenden Montag in Bern mit dem Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) treffen -- und darüber beraten, ob und wie wir die Änderungen in den Schweizer Schulen umsetzen können.

Es sieht so aus, als würde Österreich die Regeln übernehmen. Da wird die Schweiz auch mitmachen müssen, will sie keine Sprachinsel werden.

Der EDK wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Anpassungen zu übernehmen. Natürlich wären Ausnahmen in der Schweiz vorstellbar. Aber es gäbe grosse Schwierigkeiten: In den aus Deutschland kommenden Wörterbüchern fänden sich abweichende Regeln. Die Schweiz kann kaum ausscheren.

Politiker und Fachleute streiten seit Jahren über die Rechtschreibreform -- gleichzeitig schreiben die Leute irgendwie, ein bisschen nach alter und neuer Rechtschreibung. Ist es eine Scheindebatte?

Letztlich schon. Entscheidend ist längst, was die Korrekturprogramme -- vor allem jenes von Windows -- aufnehmen. Da wird die Rechtschreibung festgelegt.

* Max A. Müller ist Deutschlehrer in Binningen BL und vertritt den Lehrerverband im Rat für deutsche Rechtschreibung.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 02.03.2006 um 02.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3138

Mit meinen Bemerkungen zum Druck auf die Medien habe ich mich auch nur auf Deutschland bezogen. Herr Schreier (KM Saarland) hat wegen seiner diesbezüglichen Äußerungen bereits Post von mir erhalten, auch wenn ich bezweifle, daß dies etwas bewirkt.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 02.03.2006 um 02.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3137

Man kann das aber auch noch anders lesen, und dann kommt man zu etwas, woran sich einige in Deutschland ein Beispiel nehmen können:

Im Übrigen ist die EDK nach wie vor der Meinung, dass in einem freien Land jeder schreiben kann, wie er will. Namhafte Schriftsteller, aber auch gewisse Zeitungsredaktionen haben sich schon bisher nicht an die neuen Regeln gehalten, sondern eigene entwickelt. Wir brauchen einzig für die Schule ein Regelwerk.

Hier verteidigt er die Freiheit der Medien, anders zu schreiben, als es in der Schule unterrichtet wird. Wer letzteres in D tut, gilt dagegen als Krawallmacher.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 02.03.2006 um 00.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3135

Lieber Herr Brünner,

genau das erzählen mir befreundete Lehrerinnen und Lehrer auch, soweit sie sich nicht auf ideologischem Blindflug à la Demmer befinden. Aber sie wissen doch, wie das ist: Im Zweifelsfall sind immer die anderen dran schuld, also "Altschreiber", vor allem in den Medien. Das Problem für die Reformbefürworter ist die bloße Existenz der Widerspenstigen, denn diese führen ihnen ständig Besseres vor. Erst die Unmöglichkeit des Vergleichs ließe die Zweifel an der Reform verstummen. Daher auch das menschenverachtende Geschwätz von der "biologischen" Lösung des "Problems" und daher auch der aberwitzige Druck auf die Presse, sich gefälligst der Staatsorthographie anzuschließen.


Kommentar von Arndt Brünner, verfaßt am 01.03.2006 um 23.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3134

Man muß immer wieder darauf hinweisen, daß Schüler Fehler über Fehler produzieren, wenn sie die „Regeln“, die sie kennengelernt haben, selbständig anwenden. Sie lernen im Deutschunterricht vereinfachte Fassungen der Regeln und üben diese lediglich an dem jeweils sehr überschaubaren Bereich, in dem die jeweilige Regel problemlos anzuwenden ist. Dies funktioniert natürlich hervorragend – was auch manche positive Rückmeldung aus dem Deutschunterricht erklären mag – solange man eben in diesem Bereich bleibt. Sobald aber Schüler freie Texte schreiben, wimmeln diese von Übergeneralisierungen, Grammatik- und Zeichensetzungsfehlern sowie Anwendungen irgendwelcher Regeln, aber bestimmt in falschem Zusammenhang. Jeder Lehrer kann etliche Beispiele aus der täglichen Korrekturmisere nennen, die man sich nicht im Traum auszudenken vermag. Die neue Rechtschreibung stellt daher für die Schülerinnen und Schüler ein gewaltiges Problem dar, dessen Ursache sie selbst jedoch nicht erkennen und das sie daher auch nicht benennen können. Über die Schwierigkeiten der (neuen!) Rechtschreibung klagen sie jedoch alle lauthals, wenn sie es ernst meinen mit dem Lernen.

Es liegt in der Natur des Schülers, daß er nicht „umlernen“, also etwa noch mehr lernen will, als ohnehin schon auf dem Lehrplan steht. Mit solchem Schülerunwillen in Fragen über Bildungsinhalte zu argumentieren, ist entsetzlich verantwortungslos – vor allem den Schülern gegenüber, die ein Pädagoge doch zu etwas Höherem „zu führen“ hat, als der Schüler voraussagen kann.

Man sollte auch nicht vergessen, daß Rechtschreib- und Grammatikunterricht früher hervorragend funktioniert haben und übrigens auch Hand in Hand gingen. Davon kann heute keine Rede mehr sein; man betrachte nur die verbindliche „moderne“ Großschreibung von Adjektive und adverbialen Bestimmungen.

Im Zusammenhang mit der ausgereiften Rechtschreibung des 20. Jahrhunderts gar von „diffusen alten Regeln“ zu sprechen, zeugt, wenn es nicht einfach unverfroren gelogen ist, von unglaublicher Unkenntnis und ist nicht zuletzt auch eine beleidigende Geringschätzung aller Lehrer, Didaktiker, Schulbuchautoren und aller anderen, die erfolgreich und mit Herz und Seele im Dienste der Sprache arbeiteten, und alle früheren Schüler, die diese gute Ausbildung erfuhren, denen die deutsche Sprache dadurch ans Herz gewachsen ist und denen sie durchaus regelhaft erscheint. Wie hätten sie sonst zu einem gesunden Sprachgefühl kommen können, das ihnen ermöglichte, (trotz aller angeblicher Ausnahmen und Widersprüche) ein weitgehend korrektes und lesbares Deutsch zu schreiben. Heutigen Schülern geht das Sprachgefühl meist so ab, daß man sich beim Lesen ihrer Texte häufig fragt, ob denn Deutsch eigentlich ihre Muttersprache ist.

Es gibt ein Rechtschreibchaos an den Schulen – ganz eindeutig als Folge der Rechtschreibreform und der sehr vereinfachenden Vermittlung ihrer vereinfachten Regeln. Was die Schüler brauchen, ist weder Mitleid noch Kuschelpädagogik, sondern eine sofortige, stringente Hinwendung zu den erprobten, bewährten Regeln, die intelligente Schülerinnen und Schüler jeden Alters sofort aufnehmen und verstehen werden. Die Schüler werden dafür so dankbar sein wie für kaum etwas anderes (außer natürlich Hitzefrei). Jedes Zuwarten ist eine schwerwiegende Bildungssünde. Dieses blinde Verharren im Chaos noch „zum Wohle der Schüler“ beibehalten zu wollen, ist wahrlich verantwortungslos. Wann beginnen endlich unsere Kultusminister damit, Verantwortung zu tragen?


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 01.03.2006 um 22.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3132

"Oder versteht sonst jemand die zugrundeliegende Logik?"
Es geht bei dieser aufgezwungenen Reform gar nicht darum, etwas zu verbessern; es geht für durchaus nicht wenige darum, auf leichteste Weise ein gutes Geschäft zu machen, und für viele der Mitverantwortlichen darum, so wenig wie möglich an Gesicht zu verlieren. Und beides geht am besten damit, daß man in Kauf nimmt, von einigen Leuten als dumm angesehen zu werden, — solange diese Leute eben nicht viel politische Macht haben. Bei so etwas wirklich gewichtig wäre nämlich einzig die öffentliche Meinung, die sich auch politisch durchsetzen kann. Dieser Gedanke liegt dem ganzen Theater zugrunde, und er ist völlig nachvollziehbar. Nicht die Kultur, die Kulturpolitik ist doch das wichtige. Also: a. *Non olet* und b. Wem unsere Politik ein Amt gibt, dem gibt sein Verstand auch die Idee dazu, dies behalten zu wollen, auch Herrn Erziehungsdirektor Stöckling, der am besten "keinen Grund zur Aufregung" sieht, schon gar nicht wegen irgendwelcher Logik, — solange diese eben irgendwo unscheinbar und schwach zugrunde liegt..


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 01.03.2006 um 22.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3131

Hans Ulrich Stöckling: Namhafte Schriftsteller, aber auch gewisse Zeitungsredaktionen haben sich schon bisher nicht an die neuen Regeln gehalten, sondern eigene entwickelt. Wir brauchen einzig für die Schule ein Regelwerk. Wenn wir darauf verzichten und auf irgendwelche diffuse «alte Rechtschreibregeln» zurückkommen, dann wird der Sprachunterricht für die Lehrkräfte zum unmöglichen Unterfangen.

Das bedeutet, daß der Sprachunterricht in den Jahrzehnten vor der Rechtschreibreform ein „unmögliches Unterfangen“ gewesen sein muß, schließlich stützte er sich zu jener Zeit „auf irgendwelche diffuse «alte Rechtschreibregeln»“. – Kommentar überflüssig.


Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 01.03.2006 um 20.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=422#3130

Herr Stöckling steht mit derartigen Äußerungen ja nicht alleine da, aber es ist doch immer wieder seltsam, von Reformbefürwortern zu hören, es sei eine Zumutung, Regeln, die seit zehn Jahren unterrichtet würden, wieder abzuschaffen. 1996 hatte niemand Bedenken, Regeln, die seit fast hundert Jahren erfolgreich angewandt und vermittelt wurden, auf dem Erlaßwege für tabu zu erklären. Das kann doch nur bedeuten, daß einige Damen und Herren sich ziemlich dumm stellen. Oder versteht sonst jemand die zugrundeliegende Logik?



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