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28.05.2005
 

Selbstgewißheit ist alles
Aus der orthographischen Psychologie

49% der Deutschen glauben, die neue Rechtschreibung einigermaßen zu beherrschen.

Das ist der dpa, deren Redakteure sich mutmaßlich zu den 49% rechnen, eine Erfolgsmeldung wert, in der wieder einmal fälschlicherweise behauptet wird, daß der Bundeselternrat Delegierte in den Rat für deutsche Rechtschreibung entsandt hätte.



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Kommentare zu »Selbstgewißheit ist alles«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.05.2005 um 09.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=263#741

Das Erstaunlichste ist, wie gut diese offensichtlich unsinnige dpa-Meldung läuft. Sogar unsere Nürnberger Nachrichten, die das Thema RSR sonst meiden, bringen den ganzen Artikel. Ich habe das Gefühl, daß sie darin eine Beruhigung sehen: Man liegt doch nicht ganz verkehrt, wenn man den Neuschrieb praktiziert.
Man sollte mal eine Umfrage machen: Wissen Sie, daß die Neuregelung schon zweimal tiefgreifend verändert worden ist, und kennen Sie den aktuellen Stand? Die glaubwürdigen Ja-Antworten dürften im Promillebereich liegen.


Kommentar von Konrad Schultz, verfaßt am 29.05.2005 um 21.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=263#739

Ich weiß nicht, wie ich die Umfrage beantworten sollte. Wohl kenne ich die Neuregeln, aber ich wende sie nicht an. Und für die nicht gerade seltenen Nichtanwender ist die Neuregelkenntnis irrelevant. Deren Nichtberücksichtigung macht die ganze Umfrage wertlos.


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 29.05.2005 um 18.10 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=263#738

Es ist klar, daß Leute mit höherer Schulbildung, die meist mehrere Fremdsprachen gelernt haben, mit geänderten Rechtschreibregeln schneller und besser zurechtkommen als Leute mit Hauptschulabschluß, die früher nicht einmal eine Fremdsprache lernen brauchten. Aber gerade für letztere sollte die Reform doch eine wesentliche Erleichterung bringen. Man muß also fragen, ob diese Gruppe jetzt nach neun Jahren Umlernen mit der alten oder der neuen Rechtschreibung fehlerfreier schreibt. Weil diese Gruppe sehr groß ist, wäre es menschenverachtend, lediglich die Erleichterung für Neulerner als Begründung vorzubringen. Die bei weitem zahlreicheren Umlerner mit Hauptschulabschluß müßten sich dann ihr ganzes Leben lang mit einem sie überfordernden Umlernzwang abquälen, und gerade diese Gruppe kann mit dem theoretischen Regelwerk am wenigsten anfangen. Es würde bei zwei Rechtschreibungen bleiben, bis alle Altlerner gestorben sind. Das inkaufzunehmen entspricht dem Denken ehemaliger DDR-Funktionäre.


Kommentar von R. M., verfaßt am 29.05.2005 um 17.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=263#737

Mehr noch, man kann in der theoretischen Prüfung durchfallen, obwohl man vorher einem Meinungsforscher gegenüber behauptet hat, die Verkehrsregeln einigermaßen zu beherrschen.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 29.05.2005 um 16.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=263#736

Der feine Unterschied.
Wenn man genau liest, heißt es immer nur, daß soundsoviele glauben oder behaupten, "die Regeln" zu beherrschen. Wie sicher sie in der Schreibpraxis sind, bleibt ungeklärt. - Man kann bekanntlich auch die theoretische Fahrprüfung ohne Fehler bestehen und trotzdem in der praktischen durchfallen.


Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 29.05.2005 um 12.43 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=263#735

Die Reformer wollen die Schreibweise der Partizipien nach der des Infinitiv und der der Steigerungsformen richten. Ich glaube im Gegenteil, daß die Tendenz zur Zusammenschreibung am stärksten und zuerst bei der Grundform der zu festen Adjektiven gewordenen Partizip II auftritt:
geheimgehalten, freigehalten, freigemacht, blankgebohnert, blankgezogen (blank gezogen ist ein Fachbegriff in der Stahldrahtherstellung), schuldiggesprochen, usw. und sich von dort auf den Infinitiv auswirkt.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 29.05.2005 um 11.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=263#734

Wollte die Deutsche Presseagentur mit ihrer Umfrage den ersten Schritt unternehmen, um die Rückkehr ihrer Klientel zur alten (klassischen, traditionellen, bewährten, üblichen) Rechtschreibung vorzubereiten? Das wäre in der Tat das Ende der zehn "dass" auf der Titelseite der Siegener Zeitung dieses Wochenendes und würde auffallen. Die paar anderen Kleinigkeiten, die je einmal auftauchen, gehören wahrscheinlich nicht einmal zum Repertoire solcher Neuschreiber, die ihre Regelkenntnis für ausgezeichnet halten. An einer Stelle müssen wir alle passen: "Der Ort wurde geheim gehalten." Am kommenden Freitag entscheidet sich über Fälle wie diesen das Schicksal des Rats für deutsche Rechtschreibung und vielleicht sogar der staatlichen Normierung insgesamt.

Das wäre kein Beinbruch. Die guten alten deutschen Schreibgebräuche hat die Rechtschreibreform allenfalls hier und da ein wenig angekratzt, das Gros hat unbeschädigt die letzten neun Jahre im Banne der Regelungsgewalt überlebt. Wer's nicht glaubt, vergleiche im Reformduden das Verhältnis von Schwarz- zu Rotdruck. Wie die Deutschen und ihre teutonographen Nachbarn wirklich schreiben, weiß ohnehin niemand, und Meinungsumfragen sind in dieser Frage wirklich das ungeeignetste heuristische Mittel. Ohnehin muß man beim "Usus" zwischen dem der Schreiber und den Gepflogenheiten der Wörterbuchredaktionen unterscheiden.

Nehmen wir "geheim halten". Der Duden zeigte zuletzt Zusammenschreibung, das Amtliche Wörterverzeichnis dagegen trennt - ohne freilich zu sagen, wie die Steigerung funktionieren soll. Der Änderungsvorschlag aus Herrn Zehetmairs Rat läßt uns ratlos (Zusammenschreibung fakultativ beim resultativen Prädikativ, obligatorisch bei idiomatisierter Gesamtbedeutung), Herr Ickler hält beide Möglichkeiten offen, allerdings nicht bei "sehr geheim halten" (wie in der Neuregelung). Mit der Univerbierung haben sich die Deutschen eben etwas eingebrockt, das nicht nur die Möglichkeiten von Hauptschülern übersteigt. Das Deutsche hebt sich von allen Nachbarsprachen dadurch ab, daß es Adjektive im prädikativen Gebrauch und als Adverbiale formal nicht unterscheidet - immer in der Grundform. Das wäre noch ungefährlich, wenn nicht unsere Wortstellung das prädikative Adjektiv gelegentlich vor das Verb geraten ließe. In dem Falle hilft nur die grammatische Analyse weiter, oder aber - von jedermann zu schaffen - die Beachtung der Betonung. Verzichtet man darauf, wie es heute zum guten Ton gehört, ist der Kladderadatsch perfekt.

Nun sage man nicht, das sei doch beim guten alten Duden besser gewesen. Dieter Herberg und Renate Baudusch wollten es noch zu DDR-Zeiten genauer wissen und gingen der Praxis des Bibliographischen Instituts auf den Grund; sie fanden Erstaunliches. Ihnen fiel auf, daß man "Bitte die Ausgänge freihalten!" und "Bitte die Ausgänge frei machen!" unterschiedlich schreibt, was doch um so komischer ist, als "frei" auch in "frei machen" ohne jeden Zweifel ein resultatives Prädikativ ist. Während die Anwendung des "syntaktischen Kriteriums" ("mit dem das Betonungskriterium korrespondiert") für Lexikographen relativ einfach ist, wirft das "semantische Kriterium" ("konkrete oder übertragene Bedeutung"?) auch für sie Probleme auf: "den Brief freimachen" ist zweifellos ein Fall von "übertragener" Bedeutung, aber "den Oberkörper ..."? In solchen Zweifelsfällen hat sich in der Dudenredaktion im Laufe der Jahrzehnte der Usus herausgebildet, bei gleichlautenden Verbindungen dieser Art durch "Oppositionsschreibung" zur Sinnpräzisierung beizutragen. Die Sache hat einen Haken: Auf alle Fälle ist jene hierarchische Stufe abzusetzen, die Herrn Zehetmairs Berater "idiomatisierte Gesamtbedeutung" nennen. Auch gewöhnliche resultative Prädikative haben einen Anspruch auf Zusammenschreibung, wenn eine gleichlautende Verbindung mit einem Adverbiale existiert. Das ist bei "(Ausgänge) freihalten" der Fall, nicht jedoch bei "(Ausgänge) frei machen". In ihrem Wörterverzeichnis zeigen Herberg/Baudusch, daß auch Resultativa getrennt zu schreiben sind, "wenn es in einer bestimmten Reihe Adjektiv + Verb einen Fall oder mehrere Fälle sogenannter übertragener Bedeutung gibt." (Schaeder, Muttersprache 4/97, S. 361). "Blank bohnern" (getrennt) sei also das Opfer von "blankziehen" (zusammen). Erklärt das alles "geheimhalten"/"geheim halten"? Und wie steht es mit "schuldig sprechen" (Duden wie Neuregelung)? Raucht jemandem jetzt der Kopf? Hier handelt es sich natürlich um verborgene Regeln, die niemand kennen konnte, und nur naseweise Wörterbuchbenutzer stürzte so etwas ins Nachdenken.

Wird das nach dem 1. 8. 2005 besser, wenn Herr Zehetmair wider Erwarten für seine "Modifizierung" den Zweidrittelzuschlag bekommen sollte und die orthographischen Ministerialräte in der Bonner Lennéstraße über ihren Schatten sprängen und dem zustimmten: Ja und nein. Da nach üblicher Praxis auch die unmodifizierten Reformschreibungen weitergelten würden, wäre damit ein weiterer Schritt in Richtung auf Pfarrer Boltes Rechtschreibkränzchen getan. Angenommen aber, am 3. Juni dieses Jahres kippten die deutschen KultusministerInnen zu Quedlinburg die ganze Rechtschreibreform? Dann wären wir in bezug auf "Getrennt oder zusammen?" wieder bei den 111 verborgenen Dudenregeln, die Dieter Herberg und Renate Baudusch mühsam ermittelt haben. Würde da ein Aufjauchzen durch die Republik gehen? Oder vielleicht doch nicht? Es bleibt spannend.




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