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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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06.02.2008
 

Deutsche Wortbildung
Bemerkungen zur Darstellung in der Dudengrammatik

Da das Thema Wortbildung für die Rechtschreibung sehr wichtig ist, möchte ich hier die nach der Seitenzahl geordneten Bemerkungen wiedergeben, die ich mir bei Durchsicht des Kapitels in der Dudengrammatik (2005) notiert habe.
Die Verfasserin Irmhild Barz ist auch mitverantwortlich für das "Standardwerk" Fleischer/Barz. Die zahlreichen Unklarheiten und Fehler dieses Standardwerks kriegen wir von unseren Studenten hundertfach in Seminararbeiten und Referaten aufgetischt. Sehen Sie bitte, was Barz in der Duden-Kurzfassung daraus gemacht hat!

WORTBILDUNG (Irmhild Barz)

641: „Der Terminus Wortbildung wird im Allgemeinen in zwei Bedeutungen gebraucht. Man versteht darunter zum einen den Prozess der Bildung neuer Wörter aus vorhandenen sprachlichen Einheiten nach bestimmten Modellen (...), zum anderen das Ergebnis dieses Prozesses, das 'gebildete' Wort.“ In Wirklichkeit geht es um das erstmalige Auftreten eines komplexen Wortes im Gegensatz zum wiederholten oder üblich gewordenen, also eigentlich um die alte Unterscheidung okkasioneller und usueller Verwendung. Denn wir bilden eigentlich keine Wörter, sondern verhalten uns unter dem Einfluß früheren Sprachverhaltens in einer neuartigen Weise. Wörter sind Verhaltenseinheiten, und es macht einen Unterschied, ob sie früheres Verhalten im Wortformat lediglich wiederholen oder ein Neukombination als früheren Verhaltensteilen darstellen. Es gibt also weder den „Prozeß“ der Wortbildung noch dessen „Ergebnis“.

Das Wortbildungskapitel leidet an zwei ungelösten Problemen: Erstens ist die Abgrenzung der Fremdwortbildung unklar. Eine große Zahl von komplett entlehnten Fremdwörtern werden so dargestellt, als seien sie innerhalb des Deutschen nach Regeln bildbar.

Zweitens ist das Verhältnis von synchroner Analyse zur Sprachgeschichte nicht hinreichend durchdacht. Eine große Zahl fertig überlieferter Wörter wird ebenso als Ergebnis einer regelgeleiteten Konstruktion dargestellt, während es in Wirklichkeit allenfalls um ihre Analyse und Interpretation durch den heutigen deutschen Sprachverwender gehen kann. Es genügt nicht, die entsprechenden Regeln unproduktiv zu nennen: es sind die produktiven Regeln einer anderen Zeit und folglich eines anderen Systems. Die synchrone gegenwartsbezogene Linguistik kann dazu nichts weiter sagen.

643: Barz läßt sich bei Wortbildungsanalyse von der (reformierten) Rechtschreibung (vor allem GZS) leiten, ohne das auch nur zu thematisieren.

Originalität, Polarität, Radikalität, Regionalität, Sentimentalität, Solidität, Stupidität, Totalität - Diese Wörter sind teilweise als ganze übernommen (und adaptiert), teils „im Deutschen“ gebildet, aber diese historischen Hintergründe sind für den heutigen Sprachteilhaber undurchschaubar, daher will Barz sie alle synchron als „deadjektivische Derivate“ behandeln. Nun, das kann ein Linguist tun, aber was besagt es für die Sprache selbst? Es geht offenbar nicht um Wortbildung als Prozeß, sondern um die Interpretation überlieferter Wörter durch die Rezipienten. Diese ist vom Bildungsstand und von der Beurteilungssituation abhängig: Wie bewußt ist sich ein Sprecher des Zusammenhangs jeweils? Deckt diese Analyse die wirklichen Bausteine auf, mit denen der Sprecher zu einem Verständnis kommt? Die synchrone linguistische Analyse kann ebenso weit von der Wirklichkeit der Sprachteilhaber entfernt sein wie die diachrone. Sie läuft auch wieder auf ein Durchsuchen des Wortschatzes hinaus.

Schwache maskuline Substantive haben als Erstglieder von Determinativkomposita das Fugenelement (e)n. Bei Barz fehlt diese Einschränkung, vgl. aber das Kopulativkompositum Fürstbischof, Fürstabt (determinativ wäre Fürstenbischof zu erwarten).
Bei Barz werden ständig historisch überlieferte Wortbildungen untergemischt, so Hahnenschrei (mit jetzt unparadigmischem, früher paradigmischem Fugenzeichen) usw. Lesart wird als Ausnahme verzeichnet, weil es ohne -e- gebildet ist gegenüber Leseecke usw (723). (Lesart ist im 17. Jhdt. gebildet, nach damals üblicher Weise.) Sütterlin 122 weist darauf hin, daß süddt. auch bei Verbalstamm im Erstglied eine Neigung besteht, den Stammvokal wegzulassen, folglich Konsonantenhäufung erst einzuführen, wo vorher keine bestand: Wartsaal, Ladstock, Blasbalg, Zuschneidkurs wie vorher schon Tagblatt.
Gallmann rechnet das -e- nach verbalem Erstglied zum Verbalstamm, nicht als Fugenelement.
In Biobauer sieht Barz kein Fugenelement, sonst stehe oft „das aus dem Griechischen kommende Fugenelement -o“. Das ist zirkulär, weil die Wurzel ohne den Stammvokal o gar nicht mehr als zu gehörig erkannt wird: Amphibie, Makrobe usw.

660: Obwohl Barz erkennt, daß in Dorfschule, vereinfachen die Stämme und nicht die Wörter Dorf- und einfach- eingebaut sind, spricht sie vom Stamm als „unflektierter Form“. Es ist aber überhaupt keine Form, sondern eine abstrakte Größe, wie etwa die Wurzel ktb eines arabischen Lexems. Man braucht nur die ablautenden Wurzeln des Deutschen heranzuziehen, z. B. bind-/band-/bund- (und dazu die umgelauteten Formen), um zu erkennen, daß es „den“ Stamm als sprechbare Form gar nicht gibt. Obwohl Barz das Problem mit den Verbstämmen kennt, behauptet sie: „Stämme sind wortfähig. Sie kommen auch außerhalb eines Wortkontextes frei vor (...)“ (661). S. 662 wird diese Lehre weiter ausgeführt. Zu den Verben sagt Barz: „Die Infinitivendung (e)n entfällt in der Wortbildung, wenn das Verb Kompositionserstglied oder Basis für Derivate ist: Schreibtisch, veränderlich.“ Es gibt keinen Grund, hier vom Infinitiv auszugehen und etwas „entfallen“ zu lassen.

660f.: Man steht vor der Tatsache, daß die Derivationsstammform bei umlautfähigen Stämmen in zweierlei Gestalt auftritt: umgelautet und nichtumgelautet (rot-, röt-; krank-, kränk-). Aber das ist eine Folge der Suffixe, die teils umlauten, teils nicht und danach sortiert werden müßten. Komposita lauten natürlich nicht um.
Für die Konversionsstammform stellt Barz fest: kranken, aber röten. Nun, das zweite ist kausativ mit erwartbarem Umlaut, das erste nicht, die genaue Entsprechung wäre kränken. Es findet sich kein Wort der Erklärung, weil man sich die historische Sicht nicht erlauben zu können meint.
Meiner Ansicht nach wird der Konversionsbegriff zu großzügig angewendet. röten ist ein Weiterbildung zu rot, keine Konversion, ebenso härten zu hart. Konversion ist definiert als Wortartwechsel „ohne Beteiligung von Affixen“ [674]. Barz rechnet das Infinitivmorphem zur Flexion, aber selbst bei dieser bedenklichen These wären röten, härten mit einem umlautbewirkenden Affix gebildet. Der Infinitiv ist ursprünglich ein Verbalsubstantiv, die Partizipien sind Verbaladjektive; insgesamt sind diese infiniten Formen ins Verbalparadigma hineingezogen worden, behalten aber einige nominale Besonderheiten. Grammatiker wie Eisenberg und Zifonun et al. rechnen das Partizip I überhaupt nicht zu den Verbformen, sondern sehen darin ein Adjektiv, allerdings mit besonderen Eigenschaften (Verbrektion). Jedenfalls ist eine „Konversion“ zum Adjektiv nicht im strengen Sinn anzunehmen (zu S. 675).
Die Darstellung ist noch durch einen weiteren groben Fehler beeinträchtigt: In herzkrank liegt ja gar nicht der Kompositionsstamm von krank- vor, weil das Wort hier nicht Erstglied ist. Außerdem wird die Reihenfolge Komposition – Derivation – Konversion aus unerfindlichen Gründen S. 661 abgeändert.
Fragwürdig ist auch die Annahme einer Wortartmarkiertheit für Stämme (661f). Barz zieht ausschließlich semantische Kriterien heran: Substantive hätten die Wortartbedeutung Gegenständlichkeit, Adjektive Qualität und Verben Prozessualität. Das stimmt hinten und vorne nicht. Außerdem sind in allen Fällen formale Kriterien ausreichend.

661: Ein Wörterbuch enthält Wörter, ein Fremdwörterbuch enthält Fremdwörter. Es gibt daher keinen Grund, Fremdwörterbuch für eine Kürzung aus eigentlich zu erwartendem Fremdwortwörterbuch zu erklären.

670: „Das Derivat Antragsteller gliedert sich semantisch plausibel nach der Paraphrase 'jmd., der einen Antrag/Anträge stellt' in die unmittelbaren Konstituenten Antrag stellen und -er und nicht in Antrag und *Steller. Letzteres wäre lexikalisch-semantisch wohl nicht gerechtfertigt, wobei die Grenzen zu Rektionskomposita mit einer scheinbar gleichen Struktur durchaus fließend sind: Romanleser, Schuhverkäufer, Krankenpfleger.“

Paraphrasen sind keine Bestandteile einer korrekten Herleitung, sondern allenfalls heuristische Verfahren des beschreibenden Linguisten. Ihre Teile gehen nicht als „Konstituenten“ in die Wortbildung ein. Es spielt keine Rolle, ob das regelmäßig gebildete Nomen agentis Steller lexikalisiert oder ad hoc gebildet ist. Leasingnehmer zum Beispiel dürfte schon schwerer aus einer verbalen Fügung „zusammenzubilden“ sein, denn man sagt üblicherweise kaum Leasing nehmen. Brötchengeber ist nach dem Muster Arbeitgeber gebildet, eine Rückbildung aus Brötchen geben ist unwahrscheinlich. (Das ältere Brotgeber könnte mitgewirkt haben.) Arbeitnehmer ist wohl als Gegenstück zu Arbeitgeber direkt gebildet und nicht über das ungebräuchliche Arbeit nehmen. Vgl. auch S. 674 zur angeblichen Rückbildung Grablegung: ins Grab legen + -ung. Es zeigt sich immer wieder, daß die Paraphrase kein Mittel eines kontrollierten Verfahrens ist.

672: „Auch semantisch dominiert bei dem wichtigsten Kompositionstyp, dem Determinativkompositum, das Zweitglied. Es trägt im Vergleich zur Bedeutung des ganzen Kompositums die allgemeinere Bedeutung, sodass es meist allein das ganze Kompositum repräsentieren kann.“

Das ist aber gerade das Wesentliche der grammatischen Dominanz, die semantische liegt offenbar beim Erstglied, das denn auch den Hauptakzent trägt.

674: Die synchrone Betrachtungsweise würde eher eine Analyse der schon gebildeten Wörter rechtfertigen, d. h. eine Nachbildung ihres Verstehens, aber Barz leitet die Wörter in einer Simulation ihrer Entstehung aus den Bestandteilen ab. So soll Politik aus polit-, fantasieren aus fantas- gebildet werden. Das sind aber keine Vorgänge innerhalb einer deutschen Wortbildungslehre. fremdeln aus fremd ist historisch, wie denn überhaupt lauter überlieferte Bildungen so behandelt werden, als seien sie hier und heute nach Regeln gebildet.

674: Zusammenbildungen: In Hauswunscherfüller sieht Barz kein Kompositum, weil keine Subklassifikation des im Zweitglied benannten Begriffs ausgedrückt werden soll. Daß dies die Bedingung für Komposition sein soll, war aber bei den Determinativkomposita S. 672 nicht klar zu erkennen, dort schien es eine empirische Feststellung zu sein. Außerdem trifft es nicht zu: Der Hauswunscherfüller ist der Erfüller des Hauswunsches. Es muß kein klassifikatorischer Begriff sein, sondern kann auch eine Augenblicksbildung sein, syntaktische Transposition. So auch bei -äugig usw. Vgl. die Tragung der Kosten (allgemeinsprachlich gibt es keine lexikalisierte Tragung, aber der Ausdruck ist korrekt gebildet: Die Tragung der Kosten ist interne Angelegenheit der unterzeichnenden Staaten. (Aus dem Statut des Rates für deutsche Rechtschreibung))

Die Behandlung der Partikelverben ist konventionell, stark an der Schreibweise orientiert. Barz bezeichnet alle Verbzusätze, soweit sie mit dem Verb zusammengeschrieben werden (und zwar nach der jeweils geltenden, neuerdings immer wieder geänderten Staatsorthographie), als „Verbpartikeln“. Sie muß sie daher nach präpositionalen, adverbialen, adjektivischen und substantivischen unterscheiden (s. a. §§ 1065ff.) und stellt ausdrücklich fest, daß es sich um „Homonyme“ handelt. Es ist ein sonderbares Verfahren, Formen nach ihren Homonymen zu klassifizieren. Da zum Zeitpunkt der Veröffentlichung die Zusammenschreibung mit Infinitiven (kennenlernen, sitzenbleiben) noch nicht wieder zugelassen war, fehlen in dieser Auflage die entsprechenden „homonymen“ Verbpartikeln.

Die Wortbildungsbedeutung bei so unterschiedlichen Präfixen wie be- (beflaggen), ver- (vergittern), unter- (unterkellern) läßt sich keinesfalls als „mit etwas ausstatten“ vereinheitlichen.

Ob Fugenelemente auch im Flexionsparadigma vorkommen und daher als „paradigmische“ von „unparadigmischen“ zu unterscheiden sind, scheint eher zufällig zu sein. Bei Elke Donalies kommt noch die Fehldeutung mancher Suffixe hinzu. Der Fehler ist analog der Suche nach homonymen Formen zur Bestimmung „freier“ Stämme.

678: Infotainment ist als Ganzes aus dem amerikanischen Englisch entlehnt, hat also in einer deutschen Wortbildungslehre nichts zu suchen.

679: Warum wird Singsang aus den Verbformen sing und sang abgeleitet?

Was hat die Wortbildungslehre eigentlich zur verordneten Neuschreibung deplatziert zu sagen? 1995 wußte die Dudengrammatik noch, daß das Suffix -ieren meist und das Präfix de- fast ausschließlich an „fremdwörtliche Verben“ tritt. So steht es auch in Fleischer/Barz 1992: „Das lateinische Präfix wird sonst nicht mit deutschen Stämmen verbunden“ (S. 66). Die Eindeutschung platzieren widerspricht dieser Regel. Gleichwohl schreibt der neue Rechtschreibduden: „deplaciert (veraltet für deplatziert)“. Seit 1. August 2005 bekommt man einen Fehler angerechnet, wenn man die „veraltete“ Form zu benutzen wagt.

684: „Zur Ermittlung der Wortbildungsbedeutung einer Wortbildung empfiehlt sich deren Umschreibung durch eine syntaktische Paraphrase, in der die Wortbildungsbedeutung durch zusätzlich einzuführende sprachliche Mittel deutlich wird.“ Es ist umgekehrt: Um eine Paraphrase liefern zu können, muß man die Bedeutung bereits erfaßt haben, auch die Wortbildungsbedeutung. Nicht zur Ermittlung, sondern zur Erläuterung kann die Paraphrase allenfalls dienen, wobei man, wie gesagt, aufpassen muß, daß man sie nicht als vermeintlichen Ausgangspunkt der Wortbildung in den Gegenstandsbereich hineinprojiziert.

687ff.: Im Anschluß an Augsts Wortfamilienwörterbuch, das ich anderswo gewürdigt habe, werden Betrachtungen über Wortfamilien und Wortbildungsproduktivität von „Kernwörtern“ angestellt. Gabel soll drei Lesarten haben (689): „1. Teil des Essbestecks, 2. Gerät zum Gabeln, 3. gabelförmiger Teil“. Darüber läßt sich streiten. Gabel als Erstglied eines Kompositums soll nur zu Lesart 1 und 3 belegt sein. Wie ist es mit Gabelstapler?

690: Die „Fremdwortbildung“ ist in Gefahr, nicht nur die Bildung von Fremdwörtern, sondern die fremde Bildung von Wörtern zu ihrem Gegenstand zu machen. Ein Deutscher, der Fremdsprachen gelernt hat, kennt nicht nur deren Wörter und baut sie gelegentlich in sein Deutsch ein, er kann natürlich in diesen Fremdsprachen auch auf eigene Faust neue Wörter bilden. Sie interessieren die germanistische Linguistik an sich nicht; erst die Art, wie sie in deutsche Sätze integriert werden (Flexion, Genuszuweisung usw.), ist Gegenstand der Germanistik. So werden als Beispiele für fremde Präfixe Worter wie dechiffrieren, desinfizieren, disqualifizieren, infiltrieren, konzentrieren, reagieren, rezensieren aufgelistet (699). Sie haben ihr Präfix nicht im Deutschen bekommen und sind hier deplaziert. Ebenso sind Intervention, Leasing, Sabotage, Temperament usw. (736) im Deutschen weder gebildet noch bildbar, gehören daher nicht in eine deutsche Wortbildungslehre.
Barz nimmt an, daß die Segmentierung von Grand-Prix-Finale oder Do-it-yourself-Methode auf die Syntagmen Grand Prix und do it yourself führt. Das ist jedoch nur dann der Fall, wenn der Analysierende über Französisch- bzw. Englischkenntnisse verfügt, andernfalls bleiben die Teile so unanalysiert wie bei ihrem selbständigen Vorkommen Grand Prix und do it yourself, sind also nicht als Syntagmen zu erkennen. (Dasselbe ist zu Do-it-yourself-Beautytipps und Boy-meets-Girl-Sache S. 726 zu sagen.)
Der Konfixbegriff ist bei Barz ins Uferlose ausgeweitet. -burger rechnet sie ebenso dazu wie die Bestandteile von mehr oder weniger spielerischen Kontaminationen: -fant (aus Babyfant 'kleiner Elefant'), -napper (Zugnapper nach Kidnapper), Kondens- usw. (Die Dudenwörterbücher führen Burger längst als Kürzung von Hamburger an.)
Wortbildung ist Wortstammbildung. Deutsche Wortstämme sind oft mit deutschen Wortformen (Nominativ, Imperativ) „gleichlautend“ (soweit man Homophonie zwischen abstrakten Stämmen und konkreten Formen überhaupt annehmen kann). Bei fremden Stämmen, vor allem aus den klassischen Sprachen, ist das wegen der reicheren Flexion dieser Sprachen nicht gut möglich. Der deutsche Sprecher kann also zum Stamm astro- oder -naut- nicht ohne weiteres den Nominativ nennen. Trotzdem weiß oder ahnt er, daß astro so etwas wie „Stern“ bedeutet und daß Nauten eine Art von Reisenden sind. Wie Barz festhält, haben die Konfixe als Zweitglieder in der Regel sogar ein Genus, was sie als virtuelle Wörter ausweist: der X-naut, die X-thek usw. Als Stämme und damit als Kompositionserstglieder haben sie so wenig ein Genus wie deutsche Stämme.

696: Hier wird es noch einmal ausdrücklich vom zufälligen Vokalismus des Imperativs abhängig gemacht, ob ein Verbstamm frei oder gebunden vorkommt. Bei les- ist er gebunden, bei geh- frei.

„Die meisten komplexen Verben mit betontem Erstglied wie abfahren (...) unterwerfen sich im deutschen Satz dem syntaktischen Prinzip der Klammerbildung.“ Es wird nie erwogen, das Kriterium der Trennbarkeit als Indiz gegen die angenommene Zusammensetzung zu verwenden.

698: „Fehlen Akzent- und Bedeutungsunterschiede, kann eine entsprechende Einheit als Wort oder als syntaktische Fügung aufgefasst werden: den Motor warm laufen/warmlaufen lassen.“ Barz macht es also von der staatlichen Schulorthographie abhängig, wie eine Zeichenkette grammatisch zu interpretieren sei.

701: begradigen ist nach heutigen Regeln nicht als Zirkumfixbildung zu gerade konstruierbar.

705: „Komplexe Basen können nur solche mit Präfixen oder Suffixen sein, nicht aber Verben, die bereits mit Partikeln versehen sind (...): *vorausanrechnen (...)“
Das ist unrichtig, Wörter wie vorankündigen sind nicht selten.

709: kaputtmachen soll eine andere Konstruktion sein als voll spritzen – nur weil die Rechtschreibreform es so will. Dazu kann man nur sagen: „Der Orthographus bestimmt nicht, wie die Wörter heißen und abgeändert werden; sondern nur bloß, wie man die einmal festgesetzten schreiben soll“ (so schon die Gottschedin, zit. nach Wilmanns: Die Orthographie in den Schulen Deutschlands. Berlin 1887, S. 53).

710: In irreführen usw. ist keineswegs, wie die Rechtschreibreformer glauben, ein Substantiv als Erstglied zu erkennen, in preisgeben nicht der Preis (frz. prix zu lat. pretium), sondern die Prise (frz. prise zu lat. prendere), in wettmachen nicht unmittelbar die Wette, sondern ein daraus konvertiertes Adjektiv wett. In der 4. Auflage von 1995 sah diese Liste noch anders aus.

711: Bei anlehnen usw. kann von „Inkorporation“ der Präposition keine Rede sein, das ist nur unter dem Einfluß der Rechtschreibung so gesehen.

722: „Fugenelemente haben sich historisch aus Flexionsendungen entwickelt, und zwar aus denen vorangestellter Genitivattribute.“
Aber gleich das erste, im nächsten Paragraphen vorgestellte e der Verbstämme (Badehose) hat sich nicht aus einer Flexionsendung entwickelt, erst recht nicht einer Genitivendung.

727f.: Nach Fandrych/Thurmair werden semantische Beziehungen im Substantivkompositum aufgezählt: räumliche Orientierung bei Gartentor usw. Das ist bekanntlich ein müßiges Spiel, denn es deckt nur auf, daß alles Erdenkliche in Betracht kommt. Ein XY ist eben ein Y, das in einer relevanten Beziehung zu X steht – mehr läßt sich sprachwissenschaftlich dazu nicht sagen. Barz erwähnt die sogenannten Rektionskomposita, wo das Erstglied eine geerbte Valenzstelle des Zweitglieds füllen soll: Hausdurchsuchung. Aber das ist systematisch Zufall, pragmatisch allerdings oft naheliegend. Vgl. Onlinedurchsuchung (hier bleibt die Leerstelle extern erhalten: O. von PCs). Nicht erwähnt ist Juwelendieb (Dieb ist relational, das ist die „Valenz“), den man mit Straßendieb vergleichen sollte; beide Komposita sind gleich gebaut. Besucher (ebd. ) werden erwartbarerweise nach dem Gegenstand oder Ort des Besuchs klassifiziert, aber es gibt auch Gelegenheitsbesucher usw. Die Relationalität der Begriffe ist nicht als grammatische Valenz zu verstehen.

729: „Explikativkomposita“ werden so beschrieben: Auswertungsverfahren „Auswertung ist ein Verfahren“; das ist schlechte transformationsgrammatische Tradition, in Wirklichkeit findet die Explikation gerade umgekehrt statt: „ein Verfahren, das in Auswertung besteht“; Erziehungsprozeß = „ein Prozeß, der Erziehung ist“ und nicht, wie Barz meint: „Erziehung ist ein Prozeß“. Eine Seite später erkennt sie richtig, daß Spieler-Trainer in einer bestimmten Lesart einen 'Trainer, der ein Spieler ist', bedeutet.

730 werden endozentrische und exozentrische Kopulativkomposita unterschieden, aber mit schlechten Beispielen. Hosenrock ist keine Kombination aus Rock und Hose, sondern ein Rock, der zugleich eine Hose ist, also ebenso endozentrisch wie Spieler-Trainer. Die Beschreibung ist daher falsch:

„Bei den exozentrischen Komposita treffen nicht alle Merkmale der beiden koordinierten Klassen auf die bezeichnete Sache zu: Eine Strumpfhose hat Merkmal von Strumpf und Hose, ist aber genau genommen weder mit Strumpf noch mit Hose angemessen benannt.“

Die exozentrischen Kopulativkomposita entsprechen den altindischen Dvandva, das sind zusammenfassende Bezeichnungen numerisch verschiedener Gegenstände: artha-dharmau ('Nutzen und Recht', hier mit Dualendung, vgl. Thumb-Hauschild §§ 658f.) Nur die neuhochdeutschen adjektivischen Kopulativkomposita wie weißblau entsprechen dem indischen Typ śuklakrshna [die richtigen Sonderzeichen funktionieren hier leider nicht]. Allenfalls Strichpunkt und wenige andere kommen dem Substantivtypus nahe, lassen sich aber meist auch determinativ deuten.

733: Die Bezeichnungen Präsens-, Präterital- und Partizipialstamm (für binden, das Band, der Bund) sind allenfalls als Merkhilfen gerechtfertigt, die Ablautstufen dürfen aber nicht mit Tempusformen kurzgeschlossen werden.

734: Barz will Zusammensetzungen wie Gedichtlernen als Konversion aus syntaktischen Fügungen herleiten. Das ist kaum möglich und auch gar nicht nötig.

768: Daß in höhnisch usw. eine Haben-Beziehung ausgedrückt sei, scheint mir zweifelhaft. Die ganze Tabelle ist nur etymologisch zu verstehen, nicht semantisch.

Die zusammengesetzten Adverbien S. 770 sind zum großen Teil nur orthographischer Art, aber dieses Problem wird auch hier nicht thematisiert. Man findet natürlich auch kein Wort zu den von der Reform getilgten Wörtern wie unverrichteterdinge.



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Kommentare zu »Deutsche Wortbildung«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.06.2023 um 06.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#51328

Die Wortbildungslehre ist durch Chomskys generative Simulationsgrammatik auf einen Irrweg geführt worden, von dem sie nur langsam zurückfindet. In Deutschland wurde das "Pionierwerk" von Wolfgang Fleischer, weiter bearbeitet von Irmhild Barz, besonders verhängnisvoll. Wohin das wilde "Ableiten" und "Transformieren" führt, kann man an unzähligen Beispiel zeigen:

Verben mit substantivischer Konversionsbasis werden in drei Gruppen unterteilt, je nach dem Bau der Paraphrase, „aus“ der sie hergeleitet werden:
„Verben aus Nominativsyntagmen, vgl. jmd. arbeitet (in der Freizeit) als Tischler – tischlert.“
„Verben aus Akkusativsyntagmen, vgl. jmd. hat Hunger – hungert.“
„Verben aus Präpositionalsyntagmen: etw. zerfällt in Krümel – krümelt, mit Pfeffer würzen – pfeffern.“

(Wolfgang Fleischer/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin 2012:435f.)

Das Verfahren ist abwegig. Paraphrasen sind zur Erläuterung notwendig, aber sie können nicht formal in die Ableitung eingehen. Es hängt auch vom jeweiligen Zweck ab, welche der vielen Paraphrasemöglichkeiten man wählt. Von diesem Fehler hat sich die Wortbildungslehre seit den Einflüssen der Transformationsgrammatik in den sechziger Jahren nicht erholt. (Kernsatzmethode: Marchand, Lees, Kastovsky, Brekle, Motsch ...)

Daß die staatliche Orthographie nicht über die Wortbildung entscheiden kann, kommt noch hinzu; es ist unter anderen Stichworten ausführlich gezeigt worden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.01.2023 um 13.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#50228

siehe auch
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1040#22875
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.01.2023 um 13.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#50227

Radfahrer werden wohl in Gesetzestexten mit unter Fahrzeugführer subsumiert, aber meines Wissens explizit nie Fahrradführer oder Radführer genannt.

Bei diesem ungewöhnlichen Wort, wenn ich es dennoch irgendwo unvermittelt ohne klaren Kontext läse, würde ich wohl am ehesten an jemanden denken, der sein Fahrrad schiebt (mit sich führt).
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 10.01.2023 um 08.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#50223

Und während der Fahrt soll man nicht mit dem Führer sprechen. Übrigens lenken die immer häufiger anzutreffenden Busfahrerinnen unter den Busfahrern das Fahrzeug meiner Erfahrung nach angenehmer durch die Stadtlandschaft. Diese Beobachtung kann aber auf einem Zufall oder positiver Voreingenommenheit beruhen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.01.2023 um 04.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#50218

Wer am Steuer sitzt, ist kein Fahrer, sondern ein Führer bzw. neuerdings ein Führender. Also Lokführende usw.
Als Radfahrer bin ich wahrscheinlich sowohl Fahrender als auch Führender, weil ich keine Passagiere oder Passagierinnen mitnehme, sondern nur mich selbst fahre und führe.

(Das Gendern der Straßenverkehrsordnung in Deutschland und der Schweiz haben wir schon mal besprochen.)
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 10.01.2023 um 00.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#50217

Nachtrag: In dem Artikel geht es um die Verkehrsbetriebe der größten deutschen Städte. Insofern hat Herr Riemer wohl recht, daß hier keine Lokführer gemeint sind, denn städtische Verkehrsunternehmen betreiben in der Regel keine Nahverkehrszüge. Das macht die Sache aber nicht besser, die Formulierung bleibt aus den genannten Gründen problematisch.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 09.01.2023 um 17.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#50216

In »Busse und Bahnen« stehen die Bahnen für den schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehr, also Straßenbahnen, U-Bahnen, aber auch Nahverkehrszüge. Insofern sind wohl auch Lokführer gemeint, wenngleich innerhalb großer Städte Straßenbahnen und U-Bahnen, soweit vorhanden, eine noch größere Rolle spielen dürften. Aber auch »Straßenbahnfahrer« würde man normalerweise nicht zu »Bahnfahrer« abkürzen. Bei »Busfahrer«, wenn es allein steht, würde ich nur an die Person hinter dem Steuer des Busses denken, nicht aber bei »Bahnfahrer« an den Fahrer oder Führer des Schienenfahrzeugs. Im ersten Moment dachte ich tatsächlich, es ginge um die Fahrgäste, die sich im ÖPNV mit Corona oder Grippe anstecken (wobei ich, wie gesagt, Busfahrgäste nie als Busfahrer bezeichnen würde), aber aus dem weiteren Text geht ja eindeutig hervor, daß das nicht gemeint ist. Ich wäre aber wohl auch dann über die Formulierung gestolpert, wenn es Corona nicht gegeben und ich über die Ansteckungsgefahr in öffentlichen Verkehrsmitteln noch nie nachgedacht hätte.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 09.01.2023 um 15.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#50215

Mit den Bahnfahrern werden wohl nicht Lokführer, sondern Fahrer (Führer) von Straßenbahnen oder U-Bahnen gemeint sein.
Trotzdem werde auch ich bei diesem Satz stutzig, denn so eindeutig finde ich weder das Wort Bahnfahrer noch Busfahrer. Ich verstehe unter beiden auch eher die Fahrgäste. Daß in diesem Fall die Fahrzeugführer gemeint sind, darauf muß man erstmal kommen.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 09.01.2023 um 10.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#50214

»Eine WELT-Abfrage ergab: Die Verkehrsbetriebe der größten deutschen Städte verzeichnen Rekordkrankenstände bei Bus- und Bahnfahrern. Vielerorts fallen deshalb Fahrten aus – und die Fahrgäste bleiben auf der Strecke. Eine Lösung des Problems ist noch nicht in Sicht.« (welt.de, 9.1.23)

Unter »Bus- und Bahnfahrern« würde ich mir ohne Kontext Fahrgäste vorstellen, die Busse und Bahnen benutzen. »Busfahrer« ist eindeutig, aber Lokführer bezeichnet man eigentlich nicht als »Bahnfahrer«.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.05.2021 um 15.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#46023

Komposita geben manchmal Rätsel auf. Im MM (S. 16) steht heute ein Artikel über einen großen Behälter (20 Tonnen Leergewicht) für Speisewasser!

Speisewasser? Von Speiseeis hatte ich ja schon gehört, aber ansonsten nur von Trinkwasser.

Wie aus der Zeitung weiter hervorging, dient der Behälter der Bevorratung von Speisewasser für einen Müllkessel, wo es in Hochdruckdampf umgewandelt wird. Es hat also wohl weder mit Speisen noch Getränken zu tun, sondern vielleicht damit, daß es in den Kessel eingespeist wird. Was es nicht alles gibt!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.04.2020 um 04.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#43376

Gestern hörte ich den Virologen Drosten sagen: Die Antikörper reagieren kreuz. Eine Rückbildung, für die es, wie ich nun sehe, viele Belege gibt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 07.04.2019 um 22.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#41218

Sehr interessante Beispiele, frühneuhochdeutsch, sie zeigen auch einen leichten Bedeutungswandel. Vielen Dank! Im DWB stehen auch einige. Erstaunlich, daß sich -ent im Substantiv erhalten, d.h. die Substantivierung sich derart verselbständigt hat.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 07.04.2019 um 15.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#41217

Einige Belege hier:
https://books.google.de/books?id=aTYuJwWLvzkC&pg=PA377
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 07.04.2019 um 15.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#41216

Ich hätte es nicht gedacht, aber da müssen ja früher Sätze wie
Er enthielt sich zwei Tage in Berlin auf
tatsächlich möglich gewesen sein.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 07.04.2019 um 12.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#41215

Zugrunde liegt das Verb (sich) aufenthalten, welches zugunsten von (sich) aufhalten gewichen ist.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 07.04.2019 um 12.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#41214

Aufenthalt

Was doch die Wortbildung für seltsame Wege geht. Wie kommt die Sprachgemeinschaft auf dieses Wort? Man kann sich ja nirgends aufenthalten, nur aufhalten kann man sich. Oder hat es eher etwas mit enthalten zu tun? Aber wessen enthält man sich? Höchstens der Weiterreise (m.E. auch etwas weit hergeholt), aber wieso dann "auf"? Es paßt im wahrsten Sinne des Wortes hinten und vorn nicht, trotzdem ein häufiges Wort.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.10.2018 um 06.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#39789

das große Heer der klimabewegten Unterstützer (FAZ 9.10.18)

Solche Rückbildungen (wie umweltbewegt, jugendbewegt) haben auch ohne Kontext einen ironisierenden, abschätzigen Klang, der den Ausgangswörtern Umweltbewegung usw. fehlt. Aber woher kommt das?
 
 

Kommentar von Ivan Panchenko, verfaßt am 19.08.2018 um 19.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#39377

Zu #26765: Mir kommt noch Singer-Songwriter in den Sinn, im Ausspracheduden steht dazu "ˌsɪŋɐˈsɔŋraɪ̯tɐ", von der Betonung her also wie ein Kopulativkompositum. Ansonsten zum Beispiel Cantor-Bernstein-Schröder wie in Satz von Cantor-Bernstein-Schröder, falls das überhaupt als Kompositum zählt und nicht wie Cantor/Bernstein/Schröder (Aufführung von Alternativen) geartet ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.08.2018 um 03.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#39349

Man hat darauf hingewiesen, daß den Fachsprachen die mehrgliedrigen Termini unbequem sind, weshalb man zum Beispiel immer öfter Mittelspecht statt mittlerer Buntspecht sage. (Dieter Berger: „Name, Titel, Terminus. Gedanken zu ihrer Abgrenzung". Die wissenschaftliche Redaktion 3, 1966:67-78)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.01.2018 um 19.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#37507

Das Procedere könnte sich jetzt nächtlich wiederholen (Tagesspiegel 6.1.18) – nämlich daß Leguane unterkühlt von den Bäumen fallen. Procedere ist wohl nicht der richtige Ausdruck, aber etwas anderes fällt bei dieser Gelegenheit auch noch auf. Täglich und nächtlich sind zwar gleich gebildet, haben aber im allgemeinen eine ganz verschiedene Bedeutung:

nächtlich = bei Nacht
täglich = jeden Tag

Aber wiederum alltäglich/allnächtlich
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.11.2017 um 04.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#37046

Durch falsche Abtrennung und Kontamination kommt es zu "Suffixerweiterungen":

lächerlich, fürchterlich, leserlich nach ärgerlich, wunderlich

Es gibt zwar auch Leser, aber das ist nicht die Basis von leserlich.

regnerisch gehört auch dazu; dagegen sieht W. Fleischer wohl zu Unrecht auch trügerisch ohne Basis, denn früher gab es durchaus den Trüger.
Halsbrecher ist zwar belegt, aber ob halsbrecherisch davon abgeleitet ist, läßt sich schwer sagen.

Besonders häufig ist die Verdeutlichung eines Fremdsuffixes durch ein deutsches wie in Afrikaner, sizilianisch usw. (umfangreiche Liste bei Paul, Prinzipien 399). Nicht mehr durchschaubar das erweiterte Diminutivsuffix chen, lein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.11.2017 um 04.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#36942

Ich lese der geschichtliche, kulturelle, soziale und politische Hintergrund. Vier Adjektive, vier verschiedene Suffixe. Rational geht anders.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.10.2017 um 05.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#36428

Anscheinend noch nicht im Duden: Brelfie.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.08.2017 um 05.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#35922

Der sogenannte "präpositionale Infinitiv" (mit zu) kann auch der verbalen Wortbildung zugeschlagen werden, mit zu als Präfix. Dafür spricht die Zusammenschreibung, etwa bei Luther:

den ungelereten layen zupredigen

und auch noch bei Grimmelshausen. So sehen es auch heute einige Germanisten, also entsprechend dem ge- beim Partizip.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.06.2017 um 07.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#35487

nach der deutschen Einheit

= nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit/nach der Wiedervereinigung

Als Kind hörte ich oft das war vor der Währung, verstand natürlich nicht genau, was damit gemeint war.

den Glauben auswendig lernen

= das Glaubensbekenntnis auswendig lernen (früher häufiger)

Das ist Kurzwortbildung, es gibt aber auch spiegelbildlich die gedankenlose Langwortbildung:

nach der neuen Rechtschreibreform
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.11.2016 um 21.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#33830

Jägersmann ist als Wortbildung fast unbegreiflich. Man vermutet, daß es nach dem Muster Bauersmann entstanden ist, dieses aus geburesman, "Mitbewohner eines bûr, also einer Wohnung oder eines Hofes".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.11.2016 um 09.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#33826

Wer würde darauf kommen, daß in kriegstauglich ein Akkusativ steckt? Nach Hilke Elsen ("Grundzüge...", auch im Netz) ist das so. Das Wort wird als "tauglich für den Krieg" paraphrasiert, und für regiert den Akkusativ.

Es zeigt sich wieder, wie mißlich es ist, Paraphrasen statt des eigentlichen Gegenstandes zu untersuchen. Leerlauf und Unsinn ohne Ende.

Vgl. übrigens schon Wilmanns 1899:

"Um die mannigfachen Beziehungen, die zwischen den Compositionsgliedern bestehen, darzulegen, kann man sie mit den bestimmter ausgeprägten syntaktischen Verbindungen vergleichen, aber man darf sie nicht mit ihnen identifizieren. Die Composition drückt immer nur die Verbindung im allgemeinen aus."
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.11.2016 um 05.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#33821

Zu den Rektionskomposita (darüber demnächst etwas Kritisches) würde man auf den ersten Blick auch Ärztevertreter rechnen, denn was kann ein solcher anderes tun als Ärzte vertreten? In Wirklichkeit besucht er sie, um ihnen Medikamente anzudrehen. Wer wirklich einen Arzt vertritt, heißt Praxisvertreter.

Zugrunde liegt die Verschiebung von Vertreter von einem relationalen zu einem absoluten Substantiv. Man kann Vertreter sein, einfach so. Dann ist der Platz frei für eine beliebige Spezifikation im Determinativkompositum.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.10.2016 um 06.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#33419

Wir haben schon gesehen, daß Anakoluthe und andere "unlogische" Eigenschaften der Sprechsprache in unserer schriftlich geprägten Sprachkultur immer mehr zurückgedrängt werden, anderseherum gesagt: die Schriftsprache wird bis zum Pedantischen logisiert.

Sütterlin (1910:118) weist schon darauf hin, daß bei der Zusammenbildung Teile (nämlich Formwörter) der Ausgangsfügung wegfallen, z. B. Grablegung, Kreuzabnahme, Gaskocher, fußfrei. Neuerdings bilde man genauere Ausdrucksweisen wie Indienststellung, Zurruhesetzung.

Hierher gehört auch die Wiedereinsetzung des Relativums: beim Sichwaschen usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.02.2016 um 09.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#31684

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29874 (entpacken)

Klemperer beobachtete in LTI:

"Die Sprache des Dritten Reiches hat aus neuen Bedürfnissen heraus der distanzierenden Vorsilbe ent einigen Zuwachs zuteil werden lassen (wobei es jedesmal dahingestellt bleibt, ob es sich um völlige Neuschöpfung handelt oder um die Übernahme in Fachkreisen bereits bekannter Ausdrücke in die Sprache der Allgemeinheit). Fenster mußten vor der Fliegergefahr verdunkelt werden, und so ergab sich die tägliche Arbeit des Entdunkelns. Hausböden durften bei Dachbränden den Löschenden kein Gerümpel in den Weg stellen, sie wurden entrümpelt. Neue Nahrungsquellen mußten erschlossen werden: die bittere Roßkastanie wurde entbittert ..."
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.11.2015 um 07.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#30651

Ein Leserbrief erwähnt die "Einvernahme der DDR", meint aber die Vereinnahmung. Die FAZ könnte netterweise solche Versehen korrigieren, statt alle Leserbriefe zwangsweise auf Reformschreibung umzustellen.
Es ist wie bei den Pressestellen der Universitäten: Oben die klugen Köpfe, unten die Domestiken, die sich zu den eigentlichen Herren aufschwingen, jedenfalls wo es "nur" um die Sprache geht. Aber vielleicht ist meine Unterscheidung altmodisch in einer Zeit, die immer mehr das Präsentieren, die Selbstvermarktung, die Arbeit an der Corporate Identity zur Hauptsache werden läßt.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 22.11.2015 um 01.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#30641

Die Schreibweise vollgesperrt entsteht wohl daraus, daß der Schreiber einen Betonungsunterschied zwischen voll gesperrt und vollgesperrt wahrnimmt. Damit ist sie auch schon gerechtfertigt.

Dahinter steht die Rückbildung aus Vollsperrung. Bei volle Sperrung und Vollsperrung wird der Anteil Sperrung bzw. sperrung in derselben Weise verschieden betont.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.11.2015 um 10.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#30626

In Mitte ist am Freitagmorgen die Leipziger Straße zwischen Wilhelm- und Mauerstraße vollgesperrt worden. (Berliner Morgenpost 20.11.15)

Die Zusammenschreibung rechtfertigt sich nur, wenn man Rückbildung aus Vollsperrung ansetzt. Das Partizip ist meistens die erste Stufe, dann kommt der Infinitiv, dann vielleicht die finiten Formen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.10.2015 um 11.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#30385

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#30028

Das slawische Wort offenbar mit weiterem Präfix.

Man hat gelegentlich vermutet, daß unser Wort Gneis, sonst kaum erklärbar, aus dem slawischen Wort entlehnt sein könnte. Die Semantik wäre kein Hindernis, wenn man annimmt, daß der Gneis die "Lagerstätte" des Erzes ist. Ob kulturgeschichtlich eine solche Entlehnung plausibel ist, kann ich nicht sagen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.10.2015 um 07.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#30382

Im Zusammenhang mit Fremdworteindeutschungen habe ich schon mal darauf hingewiesen, wie linkisch ganz geläufige Wortgebilde wie Lebensmittel doch eigentlich sind. Das gilt auch für Zusammenbildungen wie Liebhaber, Befehlshaber. Warum nicht einfach Lieber/Lieberin (engl. lover) usw.?
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 22.09.2015 um 09.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#30028

Urslawisch gnjezdo, Nest.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.09.2015 um 18.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#30021

Die Etymologie von Nest ist formal ganz eindeutig, zumal wir in anderen idg. Sprachen genaue Entsprechungen haben: lat. nîdus, skr. nîda- (mit zerebralem d) usw. Das ist offensichtlich die Schwundstufe von sed- 'sitzen' und davor das Präfix ni-, und man deutet das Wort, wie ich gerade sehe, als "Ort des Niedersitzens, Niederlassung". Ich habe es mir immer anders vorgestellt, und zwar wegen der genauen Parallele Ast, das ja nur "Dransitzer" heißen kann. Daher glaube ich eher, daß Nest der "Draufsitzer" ist, weil das Nest so auffällig auf den Ästen draufsitzt. Die Bedeutung "Lager" im Sanskrit ist offensichtlich sekundär und zu unspezifisch; andere Lager als die Vogelnester heißen ja nirgendwo so.
 
 

Kommentar von Argonaftis, verfaßt am 10.09.2015 um 12.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29893

Scheußlichkeiten aus der Amtssprache der Polizei sind verunfallen und veranzeigen.
Bei der Telekom heißt es, wenn ich einen anderen Tarif gewählt habe, ich hätte den beauftragt.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 10.09.2015 um 11.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29892

Bei "Entsorgung" fällt mir immer zuerst die Satire mit dem verstrahlten Großvater ein, der unter der Tschernobyl-Wolke im Garten starb. Berühmt wurde sie, weil der Bayerische Rundfunk sie als einziger nicht sendete.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 10.09.2015 um 10.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29891

In der Bibliothekarssprache gibt es so manche Scheußlichkeiten, Retrievalfähigkeit usw., aber Vorlaß ist doch ein recht knackiges Wort. (Und prequel ist auch schlimmer!)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.09.2015 um 04.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29887

Ihre Erinnerung kann ich bestätigen, mit "Entsorgung" ging es mir genau so.

Zum Süßwasser noch eine Bemerkung: Gestern versuchte ein Wirtschaftsjournalist in der FAZ das Argument der Bauernfunktionäre zu entkräften, Milch sei billiger als Mineralwasser. Ich habe die Zahlenspiele nur überflogen und will darauf nicht eingehen. Wer Wasser für teures Geld in Flaschen kauft, statt es für fast nichts aus der Leitung zu zapfen, ist selbst schuld. (Es gibt Ausnahmefälle, ich weiß.) Die Preisbildung hat sich hier fast vollständig von den Knappheitsverhältnissen gelöst und ist nur noch psychologisch zu erklären. Deshalb ist der Vergleich mit Milch nicht sinnvoll.
(Ich bin gerade von Juist zurückgekommen, wo wir immer die Frachtschiffe mit den Getränkekisten sehen; die Hälfte ist Mineralwasser aus allen Teilen Deutschlands, dabei ist das eigene Trinkwasser der Insel zwar leicht bräunlich wegen der Torfschicht im Boden, aber gut trinkbar und für die Bereitung von Ostfriesentee sogar besonders geeignet.)
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 09.09.2015 um 23.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29886

Ein Beispiel für solche Gegensatzpaare ist auch Versorgung - Entsorgung. Ich erinnere mich noch gut, wie lächerlich mir das Neuwort Entsorgung (als typisches Amtsstubendeutsch) vorkam, als es vor Jahren hochkam.

Sehr gekünstelt kommen mir Vorlaß und besonders Mengenelemente vor. Ich kann mir schwer vorstellen, daß beide Wörter sich in der Gemeinsprache durchsetzen werden. Aber vielleicht ergeht es mir damit so wie seinerzeit mit Entsorgung.

Bei diesen Wortpaaren könnte man noch unterscheiden zwischen solchen, die Unterschiedliches, und solchen, die nur zwei Seiten ein und desselben bezeichnen. So gibt es keine Uranabreicherungsanlagen, sondern abgereichertes Uran entsteht notwendigerweise als Nebenprodukt der Urananreicherung. So könnte man vielleicht auch sagen, daß bei der Meerwasserentsalzung als Abfallprodukt gesalzenes Wasser (oder vielleicht versalzenes?) entsteht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.09.2015 um 05.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29874

Manche Wortgebilde verdanken ihr Dasein dem Bedürfnis nach einer Gegensatzbildung, z. B. wurde Süßwasser nach Salzwasser gebildet. Uran wird angreeichert, aber auch abgereichert. Nur weil es Untertassen gibt, hat man Obertasse gebildet. Mengenelemente nach Spurenelemente. Nachlaß – Vorlaß, verpacken – entpacken (unzip, unpack), einpacken – auspacken. Thomas Becker hat einmal von "Ersetzungsbildungen" gesprochen, aber das hat sich nicht durchgesetzt.

(Wen es interessiert: Der Eintrag "Spurenelemente" bei Wikipedia bringt eine hübsche Übersicht, welche Elemente überhaupt im menschlichen Körper eine Rolle spielen. Man kommt ins Grübeln, ob das eine zufällige Auswahl und ein Spiel der Evolution ist und auch anders sein könnte.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.08.2015 um 17.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29680

In den neueren Wortbildungslehren wird Schweinefleisch als Beispiel für das Fugen-e angeführt. Wahrscheinlich ist es jedoch anders zu erklären, als Zusammenrückung der adjektivischen Konstruktion swînîn fleisch. Von zwei Nasalen, die einen Vokal umschließen, fällt der zweite lautgesetzlich weg (Dissimilation), vgl. honang > honag, kuning > kunig, pfenning > pfennig, meinenthalben > meinethalben u. a.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 09.07.2015 um 21.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29403

"sauersüß" gibt es ganz offiziell (siehe Duden), deshalb muß es auch "süßsauer" geben. Chemisch ist süß natürlich nicht das Gegenteil von sauer, das wäre basisch, und sauer nicht das Gegenteil von süß, das wäre salzig. Also liegt kein Oxymoron vor. Deshalb kann sauersüß eine Abstufung von süß sein und süßsauer eine Abstufung von sauer.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.07.2015 um 04.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29388

Eine kuriose Erklärung: Das Kopulativkompositum süßsauer sei exozentrisch, „weil etwas weder süß noch sauer ist.“ (Hilke Elsen: Grundzüge der Morphologie des Deutschen. 2. Aufl. Berlin 2014:44)

Dann wäre meine Morgenzeitung auch süßsauer, denn sie ist weder das eine noch das andere. Lucus a non lucendo...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.06.2015 um 04.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#29257

Wie schon bemerkt, sind Hosenrock usw. keine Dvandvas im Sinne der altindischen Grammatik und sollten nicht länger als Beispiele angeführt werden, da sie sich als Determinativkomposita erklären lassen. Aber auch das scheinbar unzweifelhafte Baden-Württemberg ist kein echtes Kopulativkompositum, weil es nicht dazu benutzt werden kann, über Baden und über Württemberg zu sprechen. Es ist vielmehr ein Eigenname, der die Einheit der beiden Länder ikonisch abbildet, eine Art Zusammenrückung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.09.2014 um 17.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#26765

Es ist sehr schwer, ein wirkliches substantivisches Kopulativkompositum zu finden. Die vielgenannten Hosenröcke, Dichterkomponisten und Fürstbischöfe lassen sich alle als determinativ auffassen. (An die altindischen Verhältnisse darf man sowieso nicht denken.)
Mir fällt nur Marxismus-Leninismus ein, falls man das nicht zu den Eigennamen rechnen will wie Baden-Württemberg, Garmisch-Partenkirchen usw., die nichts Besonderes sind.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.09.2014 um 17.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#26764

In vielen Wortbildungslehren wird z. B. Bohnenkaffee als Kurzwort für Kaffeebohnenkaffee angeführt. Das leuchtet nicht ein. In einem Determinatiovkompositum kann im allgemeinen das Grundwort als Gattungsbezeichnung aufgefaßt und in entsprechenden Kontexten so wiederaufgenommen werden. Ein echtes Kurzwort wäre Füllhalter, weil die Feder, das eigentliche Bestimmungsglied zu Halter, weggelassen ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.09.2014 um 16.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#26740

Das Adjektiv grobrastig ist häufiger belegt als das eigentlich zu erwartende grobrastrig oder grobrasterig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.04.2014 um 06.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25693

Zur Zeit ist wieder viel von Kommunionkindern, Erstkommunionunterricht usw. die Rede, offiziell ohne Fugen-s, was sehr ungewöhnlich ist. Vgl.

Duden Newsletter 2003:

Kommunionkind oder Kommunionskind?
Zusammensetzungen mit Bestimmungswörtern auf -ion haben im Allgemeinen ein so genanntes Fugen-s, das die Verbindungsstelle der Zusammensetzung kennzeichnet. So spricht man von der Konfessionslosigkeit, dem Expansionsdrang oder dem Progressionsvorbehalt. Eine Ausnahme bilden allerdings die Zusammensetzungen mit „Kommunion” als Bestimmungswort: Kommunionkleid, Kommunionkerze, Kommunionbank oder Kommunionunterricht kommen ohne Fugenzeichen aus. Deshalb lautet unsere Empfehlung: Machen Sie dem Kommunionkind nicht nur mit einer schönen Glückwunschkarte, sondern auch mit einem liebevoll ausgesuchten Kommuniongeschenk eine Freude!
-
(Es ist häufiger, aber Gegenbeispiele gibt es auch viele.)


 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.03.2014 um 05.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25467

Die genannte Dissertation (vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25371) ist, wie gesagt, als Forschungsbericht brauchbar, aber man darf sonst nicht alles für bare Münze nehmen. Elshorbagy schreibt zu „verdunkelten Komposita“, daß die Elemente Him- (Himbeere) und Bis- (Bistum, ahd. biscof) „nicht mehr frei vorkommen“. Das ist, was den Bischof betrifft, natürlich Unsinn.
Auch ist Wagehals kein Possessivkompositum (Bahuvrihi),
 
 

Kommentar von Andreas Blombach, verfaßt am 22.03.2014 um 17.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25460

In Ordnung – nur dass bei den paradigmatischen Fugenelementen ja gerade nicht gilt, dass sie die gleiche Funktion haben wie die formgleichen Flexionssuffixe. Insofern finde ich den Gallmann-Vergleich ein wenig irreführend (sonst müsste man die FE ja als Flexionssuffixe klassifizieren).
Ich glaube allerdings auch nicht, dass die Unterteilung der FE in paradigmatische und unparadigmatische besonders zu einer Sortierung beiträgt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.03.2014 um 16.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25459

Ich halte es für irrelevant, Gegenstände danach zu sortieren, ob sie zufällig ebenso aussehen wie andere Gegenstände, die bereits sortiert sind.

So macht es Gallmann: Wenn wir nicht wissen, ob ein Wort ein Substantiv ist, dann suchen wir im Wortschatz, ob wir ein gleichlautendes finden, das eindeutig ein Substantiv ist (artikelfähig), und so schreiben wir es dann, also heute Abend.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 22.03.2014 um 15.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25458

Es käme darauf an, die Gesetzmäßigkeiten der Euphonie herauszuarbeiten statt irgendwelchen inexistenten Paradigmata hinterherzujagen.
 
 

Kommentar von Andreas Blombach, verfaßt am 22.03.2014 um 15.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25457

Darauf, dass eigentlich nichts Zufall ist, können wir uns als Deterministen sicher einigen, nur könnte man dann mit dem Wort nicht mehr viel anfangen. (Mauthners Überlegungen dazu finde ich nicht übel.)
Das meinte ich auch gar nicht. Ich habe die Unterscheidung in paradigmatische und unparadigmatische Fugenelemente bislang als eine primär formale aufgefasst, die mit der Bedeutung von Komposita gar nichts zu tun hat. (Man kann natürlich argumentieren, bei unparadigmatischen Fugenelemente könnte man von vornherein ausschließen, dass sie etwas zur Bedeutung beitragen, aber das halte ich für falsch.)
Ich könnte jetzt noch einiges schreiben, fürchte aber, das hätte wenig Sinn, da ich Ihren Standpunkt gar nicht richtig verstanden habe. Was genau stört Sie denn an der Unterscheidung?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.03.2014 um 13.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25455

Wenn Sie so wollen, lieber Herr Blombach, ist nichts Zufall. Im Beispielwort (Zitatenschatz wird öfter diskutiert) besteht der Zufall im Zusammenfall von Fugenelement und Dativ-Plural-Endung. Diese Endung hat ja nicht einmal etwas mit der Klassifikation der Substantive zu tun.

Um den Fallstricken der Homophonie zu entgehen, haben Wellmann (1981)und andere einen Ausweg ersonnen: Es werden nur diejenigen Flexionsformen anerkannt, die auch Kompositionsstämme bilden können: Nominativ sing./pl. und Genitiv singular. Aber selbst das geht nicht auf. Gorgonenhaupt enthält zwar den Plural, aber funktional ist klar, daß es sich um etwas anderes handelt. Vgl. Bischofskonferenz, Hühnerei.
Donalies bleibt bei der unbeschränkten Homophonie: „Mitunter wird außerdem en etwa in Dokumentenmappe oder Zitatenschatz als unparadigmisch angegeben, so bei Ortner et al. (1991, S. 77); es gehört aber klar zum Paradigma dieser Wörter: eine Mappe mit Dokumenten.“
 
 

Kommentar von Andreas Blombach, verfaßt am 22.03.2014 um 13.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25454

Das Fugenelement hat da vermutlich die Hauptfunktion, dafür zu sorgen, dass keine zwei betonten Silben aufeinanderfolgen. Aber dass da nun -en- steht und nicht irgendeine andere Silbe, dass die Silbe also als Flexionsendung im Paradigma des Bestimmungswortes vorkommt, ist doch kein reiner Zufall? Mit der Bedeutung des Kompositums muss das nichts zu tun haben (und nach den meisten Wortbildungslehren sind Fugenelemente ja auch grundsätzlich bedeutungslos – was mir doch etwas zu weit geht), aber ein paradigmatisches Fugenelement wirkt in einem Kompositum doch passender, oder nicht? (Es erleichtert in diesem Fall auch die Paraphrase "Paar von/aus Spionen", aber das ist wohl eher ein Nebeneffekt.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.03.2014 um 08.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25452

Weil viele neuere Wortbildungslehren, wie gezeigt, nicht recht wissen, was sie mit den Wörtern anfangen sollen, sind sie darauf verfallen, die Fugenelemente danach einzuteilen, ob sie "paradigmisch" sind oder nicht. In einem Wort wie Spionenpaar wäre das n paradigmisch, weil es im Flexionsparadigma von Spion vorkommt. Aber was hat der Dativ Plural mit dem Kompositum zu tun? Natürlich gar nichts, es ist reiner Zufall, eine Homophonie.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 14.03.2014 um 00.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25375

Und erst unser lieben Frauen, so z. B. in Magdeburg!
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.03.2014 um 23.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25374

Ganz unabhängig von der Kasustheorie bei den Subst.-Subst.-Komposita kann man sich ja fragen, ob der Ausdruck "Unserer lieben Frau", der in so vielen Namen von Kirchen und kirchlichen Institutionen vorkommt, eher im Sinne eines Genitivs oder eines Dativs gemeint ist.
Zuletzt war ich zwar für Dativ, aber manche Namen lassen auch an Genitiv denken, in dem Teil möchte ich Ihnen doch zustimmen, lieber Germanist. Diese Namen werden wohl mal so, mal so hergeleitet sein, insgesamt ist aber eben schon diese Formulierung mehrdeutig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.03.2014 um 15.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25371

Einen lesbaren Forschungsbericht und eine ganz gute Übersicht über den Bestand an Fugenelementen findet man in dieser Dissertation:

http://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-8079/Fugenelemente%20der%20deutschen%20Komposita.pdf
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 13.03.2014 um 13.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25369

betr. Frauenkirche
Die meisten Frauenkirchen wurden gebaut, als man Mittelhochdeutsch sprach:

mh. Nom. Sg. diu frowe; Gen. Sg. der frowen

(Günther Schweikle, Germanisch-deutsche Sprachgeschichte, §21 Das Nomen, VII Besonderheiten in der Entwicklung der Deklination vom Mhd. zum Nhd.)
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 06.03.2014 um 17.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25326

Schafweide – Augenweide.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 06.03.2014 um 14.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25323

Arbeitspause – Erholungspause – Denkpause.

Mausefalle, mausetot gegenüber Mäusefänger, Mäusespeck, Maushund, mausgrau.
Eine Deklinationsform "Mause" gibt es nicht.
 
 

Kommentar von B.Troffen, verfaßt am 06.03.2014 um 11.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25322

Wer oder was wird jeweils vor wem oder was geschützt beim Kinderschutz, Feuerschutz, Datenschutz, Rechtsschutz, Impfschutz, Denkmalschutz? Aus dem Wort allein und seiner Form geht's nicht hervor.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.03.2014 um 09.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25321

Gegen das "Frege-Prinzip" in der Sprachwissenschaft könnte man viel sagen. Ich will nur noch einmal auf die hier diskutierte Komposition eingehen. Sprachwissenschaftlich gilt: "Ein Substantivkompositum AB bedeutet ein B, das in relevanter Weise mit A zu tun hat." Wenn wir dies einmal als korrekt annehmen, - wo ist dann bei Frege ein Platz für die Bestimmungen "relevant" und "zu tun haben" vorgesehen? Die Komposita haben eben, wie jedes Sprachverhalten, einen Sitz im Leben, was man von Freges kunstsprachlichen Gebilden nicht ohne weiteres sagen kann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.03.2014 um 06.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25303

Ich habe unseren Germanisten auch nicht so verstanden, daß er alle Komposita auf idg. Kasus abbilden wollte, und mit dem Hinweis auf Panini habe ich ja angedeutet, in welchem Umfang das nach Ansicht der altindischen Grammatik sinnvoll ist. Diese war allerdings schon weiter, indem sie zusätzliche Arten von Determinativkomposita angesetzt hat und überhaupt sozusagen nichts ausläßt. Germanist hat nicht so geantwortet, sondern durchaus die kasusartige Rekonstruktion unternommen, allerdings nicht an allen ihm vorgelegten Problemfällen (!).

Das Frege-Prinzip sei einmal dahingestellt (man müßte Freges Versuch, umgangssprachliche Begriffe wie "Bedeutung", "Sinn", "Gedanke" usw. wissenschaftstauglich umzudefinieren, erst einmal von Grund auf diskutieren; ich halte naturgemäß gar nichts davon); jedenfalls hat Herr Blombach recht, wenn er meint, daß die Bedeutung von Komposita in der Regel einen Überschuß gegenüber der Kompositionalität enthält. Ich habe anderswo schon gesagt, daß dies ja gerade der Grund ist, warum man die Komposita überhaupt bildet. Beispiel Haustür - keineswegs "Tür des Hauses" usw. (Darüber gibt es einen berühmten Streit zwischen Brugmann und Paul, nachzulesen im Sammelband Leonhard Lipka/Hartmut Günther (Hg.): Wortbildung. Darmstadt 1981.)

Wenn es Unmassen von Komposita gibt, die sich nicht oder nur unter lächerlichen Verrenkungen auf die sieben Kasus (der Vokativ scheidet ja wohl aus) abbilden lassen, dann könnte man auf den Gedanken kommen, daß dieses Unternehmen von vornherein irregeleitet ist. Freilich steht fest, daß Teufelswerk aus teuffels werck entstanden ist (ich schreibe das mal lutherisch), aber der Schritt zum Kompositum, also von des Teufels Werk zu das Teufels Werk und dann das Teufelswerk könnte eine grundsätzliche Ablösung von den Kasusverhältnissen bedeuten. Anders gesagt: Im Akt der Zusammensetzung tritt der eigentümliche Mehrwert der Komposita ein, und man sollte nicht wieder in die Konstruktion mit den Kasus zurückfallen, wie es die Paraphrasenmethode und die Kasustheorie erfolglos durchexerziert haben.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 03.03.2014 um 19.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25301

Mir ist auch nicht klar, ob Germanist meint, alle Subst.-Subst.-Komposita ließen sich komplett diesen 7 Kasus zuordnen, und vor allem nicht, ob die Zuordnung eindeutig sein soll. Denn das ist sie ja nicht:

Autofahrt könnte man auch instrumental verstehen, Festgemeinde auch als Genitiv.
Die Frauenkirche gehört bestimmt nicht zum Genitiv, sondern wenn schon, dann zum Dativ (Sie ist nur einer Frau gewidmet, Maria, 'Unserer lieben Frau', kein Genitiv Pl., sondern Dativ Sing.).

Wenn es aber weder Vollständigkeit noch Eindeutigkeit gibt, dann wird die ganze Zuordnung fraglich, denn dann ist sie Ansichtssache und eher zufällig.

 
 

Kommentar von Andreas Blombach, verfaßt am 03.03.2014 um 18.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25299

Ich habe den Kommentar von Germanist gar nicht so gelesen, dass er behaupte, sämtliche Substantiv-Substantiv-Komposita mit Kasusverhältnissen erklären zu können.

Ob Auto in Autofahrt wirklich den Ort der Fahrt angibt und nicht eher das Mittel der Fortbewegung, sei mal dahingestellt. Irgendwelche Ortsbezüge gibt es natürlich durchaus in Komposita. Die Himmelfahrt ist die Fahrt in den Himmel, der Höllentrip analog womöglich ein Trip in die Hölle, vielleicht aber eher ein Trip durch die Hölle (metaphorisch natürlich; vielleicht aber auch nur ein höllischer Trip -> Deutung als Konfix), Heimaturlaub ist Urlaub in der Heimat, Fronturlaub auch – also Urlaub weg von der Front. Der Ortsbezug und die Art des Ortsbezugs ist dabei bis zu einem gewissen Grad im Zweitglied (genauer: in dessen üblicher Verwendung) vorangelegt, scheint mir.

Eine Vergnügungsreise ist keine Reise der Vergnügung (auch wenn ich sonst durchaus geneigt bin, das Fugen-s auch bei vielen Komposita mit Feminina als Erstgliedern als Markierung eines Genitivverhältnisses zu betrachten), sondern eine Reise zur Vergnügung.
Gerade beim Genitiv muss man natürlich festhalten, dass bereits mit gewöhnlichen Genitivattributen ganz unterschiedliche semantische Verhältnisse ausgedrückt werden können (der Sohn des Pfarrers, das Auto des Pfarrers, der Arbeitgeber des Vaters, das Problem der Gerechtigkeit, die Hälfte des Lebens, ein Mann des Glaubens usw. usf.; dazu gibt es ja jede Menge Feinklassifikationen, die aber meist Familienähnlichkeit übersehen). Wenn man also sagt, in einem Kompositum liege ein Genitivverhältnis vor, lässt das immer noch sehr viel offen.


Ich versuche mich einmal an den Herausforderungen (nicht, weil ich irgendetwas beweisen will, sondern weil es mich reizt):
- Geisterfahrer: metaphorisch: ein Fahrer, der ein Geist ist? Ergo Nominativ? Die Analogie zu Geisterschiff drängt sich natürlich auf (aber ist das Schiff ein Geist oder ist es ein Schiff von Geistern oder der Geister oder einfach nur geisterhaft?). Das -er- in Geisterfahrer kann nicht den Plural markieren, in Geisterschiff je nach Deutung schon, aber ich vermute, dass es eher aus rhythmischen Gründen eingefügt wurde – für mich ergibt sich dadurch allerdings auch noch ein Anklang an geistern.
- Kindersoldat: Das -er- hier ist interessant. Ein Pluralmarker kann es ja eigentlich nicht sein, und rhythmisch ist es unnötig, da Soldat nicht auf der ersten Silbe betont wird. Allerdings ist der Plural Kindersoldaten wesentlich gebräuchlicher, und wenn es tatsächlich in dieser Form gebildet worden sein sollte, könnte das -er- eben doch wieder den Plural anzeigen: Soldaten, die Kinder sind. Wieder eine Art von Gleichsetzungsnominativ?
- [i]Flächenstaat[/]: Hier fällt mir schon die Paraphrase schwer. Ein Staat, der (überwiegend) Fläche ist? (Wobei noch impliziert wird, dass diese Fläche überwiegend unbewohnt ist?)
- Mundraub: Noch schwieriger. Raub für den Mund? Raub mit dem Mund?
- Sicherheitsbedenken: Genitiv, für "Bedenken der Sicherheit" u.ä. findet man ja durchaus Belege. Der semantische Bezug bleibt dabei natürlich genauso vage wie beim Kompositum. Bedenken, die sich irgendwie auf die Sicherheit beziehen?
- Problembär: Ein Bär, der ein Problem ist (darstellt)? Ergo wieder Gleichsetzungsnominativ?
- Familienunternehmer: Lässt sich das überhaupt als richtiges Kompositum betrachten? Es kommt ja offensichtlich von Familienunternehmen, und da ist das Genitivverhältnis recht klar.
- Spiegeltrinker: Hier muss ich wieder kapitulieren (der Begriff war mir übrigens neu).


Komposita gehorchen nicht dem Frege-Prinzip, ihre "Bedeutung" ergibt sich also nicht aus der "Bedeutung" ihrer Einzelteile und der Art ihrer Zusammensetzung.
Wie die Bestandteile zusammenhängen, ergibt sich erst aus dem Gebrauch des Ganzen. Neue Komposita werden nach dem Muster alter gebildet, sodass sich theoretisch Reihen von Komposita bilden lassen, deren Glieder auf ähnliche Weise in Beziehung zueinander stehen. (Dadurch kann der Eindruck von festen Regeln entstehen.) Das hilft natürlich auch dabei, Komposita zu verstehen, wenn man die Glieder kennt und auf ein bisschen Kontext zurückgreifen kann. (Welche Beziehungen überhaupt in Frage kommen, hängt auch von den Gliedern ab.)
Manche Komposita sind allerdings ganz und gar ungewöhnlich, weichen also besonders stark von den vorherrschenden Regularitäten ab (Spiegeltrinker und Mundraub wären wohl Beispiele). Das macht sie aber auch schwerer verständlich für Uneingeweihte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.03.2014 um 06.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25295

Holz dem Ofen, o Fest!

Und was machen Sie mit meinen "Challenges" unter http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25270?

Ich bin gespannt. Hier sind noch ein paar: Dreckskerl, Ersatzkaffee, Protestnote, Beziehungskiste, Wohngift, Beitragsehrlichkeit, Waldhonig, Weihnachtspapier, Mutterkuchen, Behindertensportler, Strafverfolgung, Egosozialist, Explosionszeichnung, Ausdauerszene, mannstoll, besenrein, schlüsselfertig.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 02.03.2014 um 21.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25294

Nominativ: Musterbeispiel
Genitiv: Frauenkirche
Dativ: Ofenholz, Festzelt
Akkusativ: Steinhauer, Blitzableiter
Lokativ: Autofahrt
Instrumental: Hammerschlag, Axthieb
Vokativ: Festgemeinde
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.03.2014 um 16.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25291

Kunstwort (laut Grimm von Stieler für terminus technologicus gebildet) ist ja ganz gewiß auf Kunst = ars, techne bezogen und nicht auf künstlich. Aber eben: historisch ist es ja gar nicht gemeint, wenn die Generativisten oder auch Augst Wörter auf andere zurückführen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 02.03.2014 um 10.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25289

Kunsthonig ist jünger als z. B. Kunstbutter, wurde also nach einem schon bewährten Muster gebildet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.03.2014 um 07.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25286

Lieber Herr Riemer, eigentlich wollte ich bloß das Verfahren kritisieren, Wortgebilde wahllos aus irgendwelchen anderen abzuleiten, was weder historisch noch psychologisch noch sonstwie Sinn hat. kunst- und honig- sind zweifellos Substantivstämme in dem Sinne, daß sie zur Bildung von substantivischen Wortformen dienen, künst- ist ein Allomorph von kunst-, das vor bestimmten Suffixen auftritt, die Umlaut bewirken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.03.2014 um 07.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25285

Ich weiß, was eine Präposition ist, aber ich verstehe nicht, was z. B. das Fugenelement hier zu suchen hat, und wäre Ihnen überhaupt dankbar, wenn Sie das Ganze anhand der Beispiele (Problembär usw.) erläutern würden. Sie wollten doch eigentlich die Determinativkomposita auf die indogermanischen Kasus abbilden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 01.03.2014 um 19.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25284

Ich hatte das Problem mißverstanden. Ich habe einiges dazu im Netz gefunden, aber leider nicht, wie man eigentlich entscheiden kann, ob Kunsthonig auch eine Substantiv-Substantiv-Zusammensetzung oder vom Adjektivstamm abgeleitet ist. Wäre für eine kleine Hilfe dankbar.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 01.03.2014 um 18.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25283

Eine Abbildung sehe ich hier, wenn einem Element aus der Menge der mittels einer Präposition (eines Verhältniswortes) oder eines Adverbs gebildeten Substantiv-Substantiv-Verbindungen ein Element aus der Menge der mit einem Fugenelement gebildeten Wortbildungskonstruktionen zugeordnet wird nach der Vorschrift, daß die Präposition oder das Adverb entfällt und von den Fall-Endungen höchstens das Genitiv-s als Fugenelement erhalten bleibt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.03.2014 um 04.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25270

In Substantiv-Substantiv-Zusammensetzungen findet man Abbildungen sämtlicher indogermanischer Fälle, einschließlich Lokativ und Instrumental.

Nun, damit ist nicht viel gewonnen, und wir haben ja hier schon oft die grenzenlosen Möglichkeiten der Determinativkomposita besprochen, was das semantische Verhältnis von Determinans und Determinandum betrifft. (Was bedeutet übrigens "Abbildung" hier?) Es ist wahr, daß die alten indischen Grammatiker die Tatpuruschas nach dem Kasusverhältnis in einer Paraphrase zu ordnen versuchten, aber es blieben natürlich auch damals schon, wie erst recht im heutigen Deutschen, viele Fälle übrig, die nicht in dieses Schema paßten. Die Inder haben dafür besondere Kategorien erfunden wie Karmadhâraya, Dvigu u. a.

Ich zähle dazu gern ein paar Beispiele auf, die man schwerlich auf Kasusbeziehungen zurückführen kann: Geisterfahrer, Kindersoldat, Flächenstaat, Mundraub, Sicherheitsbedenken, Problembär, Familienunternehmer, Spiegeltrinker usw.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 28.02.2014 um 22.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25268

Wenn ich "Kunst kommt" bei Google eingebe, wird automatisch ergänzt "von können", und die Suchmaschine liefert über 17 Millionen Fundstellen. Die Spatzen pfeifen den Spruch vom Dach, es ist also gar nicht möglich, daß Herr Motsch ihn nicht kennt. Er muß sich also zumindest auch damit befaßt haben. Wie ist es dann möglich, daß er trotzdem etwas anderes schreibt?
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 28.02.2014 um 14.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25265

In Substantiv-Substantiv-Zusammensetzungen findet man Abbildungen sämtlicher indogermanischer Fälle, einschließlich Lokativ und Instrumental.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 28.02.2014 um 14.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25264

Kunsthonig
Kunstmaler
Kunstfehler
Kunststoff
Kunststück
Das alte Problem des Tatpuruscha: Das Vorderglied bestimmt das Grundwort auf irgendeine Weise, aber auf welche? Das läßt sich wohl nur individuell bestimmen, da helfen keine Formeln.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.02.2014 um 05.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#25261

Aus der generativen Grammatik stammt die Manie, sprachliche Formen aus anderen sprachlichen Formen "abzuleiten", besonders gern durch pseudomathematische Verfahren. Das ist aber nicht historisch gemeint, sondern als eine nichtdurchschaute Simulation. So verfährt ja auch Augst mit seiner nichthistorischen Etymologie (das ist ein hölzernes Eisen, aber so ist es nun einmal).

Wolfgang Motsch leitet in seinerm Buch "Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin/New York 2005 (Schriften des IDS 8)" Kunst(honig) aus künstlich und Sonder(weg) aus besonders ab. Da es historisch falsch ist - welchen Wert könnte es sonst haben? Spekulative Wortbildungslehre füllt die Regale.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 27.05.2013 um 20.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#23275

Zum Substantiv hat es noch nicht gereicht, im Artikel steht das Adjektiv behämt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.05.2013 um 16.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#23273

Heute kommen in der FAZ Behämte vor. Das Wort ist gelegentlich in Blogs aufgetaucht, aber hier dürfte es eine spontane Eigenbildung sein. Der Hergang ist folgender: Aus dem alten Adjektiv hämisch wurde vor einigen Jahrzehnten ein Substantiv Häme rückgebildet. Daraus wird nun ein Scheinpartizip (Pseudopartizip) gebildet, also wahrscheinlich ohne die Zwischenstufe eines schwachen desubstantivischen Verbs hämen; das Muster ist gestiefelt usw., vgl. Pauls Gramm. V:98f.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.05.2013 um 16.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#23229

In der IDS-Wortbildung (Bd. 5) steht zu wellig-runzelige Blätter: > „'B., die wellig, genaugenommen runzelig sind' / 'B., die wellig, fast / nahezu / beinahe runzelig sind'. Bei dieser Interpretation sind die Komposita exozentrisch, da ein Drittes gemeint ist, das zwischen dem von A und B Bezeichneten liegt.“ (59)
Ebd. Verweis auf Elmar Seebold: Etymologie (München 1981:142), wo aber ausdrücklich das Gegenteil gelehrt wird: Adjektive wie „blaugrün als Bezeichnung einer Farbe, die zwischen blau und grün liegt“ gehören zu den (endozentrischen) „Bestimmungs-Komposita“, denen die „Anknüpfungskomposita“ als exozentrische gegenübergestellt werden (ausführlicher S. 135f.).
Dort wird auch der Typ Hemdhose („weder ein Hemd noch eine Hose, sondern eine Kombination aus beidem“) zu den endozentrischen Determinativkomposita gerechnet. Dagegen zählt z. B. Barz sie zu den Exozentrika: „Bei den exozentrischen Komposita treffen nicht alle Merkmale der beiden koordinierten Klassen auf die bezeichnete Sache zu: Eine Strumpfhose hat Merkmale von Strumpf und Hose, ist aber genau genommen weder mit Strumpf noch mit Hose angemessen benannt.“ (Dudengrammatik 730, s. oben im Haupteintrag)
Die Verfasser wissen anscheinend nicht, was „exozentrisch“ bedeutet. Eine Synonymenschar mag das Gemeinte einkreisen, ohne es genau zu treffen, dadurch wird sie aber nicht exozentrisch.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 16.05.2013 um 13.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#23211

In allen slawischen Sprachen gibt es für paarige Körperteile Reste des Duals. Im Slowenischen gibt es den vollausgebildeten Dual des Substantivs, Adjektivs und Personalpronomens.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.05.2013 um 07.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#23208

Es ist überhaupt falsch, die echten Kopulativkomposita wie Baden-Württemberg oder auch schwarzrotgold "exozentrisch" zu nennen, wie es allerdings auch Roland Harweg tut (in Helmut Schnelle: Sprache und Gehirn:134). Die altindischen Grammatiker definierten die Dvandvas als samâsâ ubhayapadârtha-pradhânâh – "Komposita, bei denen der Hauptbegriff in beiden Gliedern enthalten ist" (Wackernagel: Altindische Grammatik II:140) – also durchaus endozentrisch.

Auch Werwolf bezeichnet nicht einen Mann und einen Wolf, sondern charakterisiert ein und denselben Mann näher, ist also ein Determinativkompositum; so auch Wolfgang Meid (Germanische Sprachwissenschaft. Wortbildung S. 24f.). – Hierher gehören auch Dichterkomponist, Fürstbischof usw..

Außerhalb des Indischen sind Dvandvas kaum zu finden. Die Grammatiken führen einiges aus slavischen Sprachen an.

Indische Paarbezeichnungen stehen im Dual (wie oben artha-dharmau), bei noch mehr Gliedern im Plural, es kommt aber auch der Sing. neutr. vor, vor allem bei wirklich zusammengehörigen Paaren wie Vater und Mutter.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 03.05.2013 um 15.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#23122

In solchen Fällen empfiehlt sich die Fundstellensuche über Hathi Trust:
http://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=mdp.39015004733930
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.05.2013 um 12.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#23121

Wie schon anderswo vermerkt, enthalten die neueren "synchronischen" Wortbildungslehren kein Wortregister mehr, wodurch die ganze Arbeit zur Hälfte umsonst geleistet scheint. Der krasseste Fall ist die fünfbändige Deutsche Wortbildung des IDS (unter Johannes Erbens Leitung). Daran wurde über zwanzig Jahre gearbeitet, und herausgekommen sind rund 2600 Seiten; dazu ein Morphemregister, aber kein Wortregister. Bei der weitgehend fragwürdigen Zuordnung der einzelnen Beispiele (vor allem in der Komposition, also Bd. 4 und 5) kann man lange suchen, bis man ein bestimmtes Wort möglicherweise findet. Meist findet man es gar nicht. Wie ist es möglich, ein so aufwendiges (teilweise von der DFG finanziertes) Projekt so schlecht zu präsentieren?
Kein Wunder, daß die Exemplare, die ich gerade aus der UB ausgeliehen habe, fast keine Benutzungsspuren zeigen, obwohl sie z. T. seit 40 Jahren dort stehen ...
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 25.08.2012 um 13.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#21314

Ein Unterschied zwischen der deutschen und den slawischen Sprachen besteht darin, daß Vokale ohne Längenzeichen immer kurz sind und die Kürze nicht durch Konsonantenverdoppelung angezeigt wird. Bei der Verdeutschung ist dann wohl die deutsche Kürzenkennzeichnung eingeführt worden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.08.2012 um 12.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#21313

Lieber Herr Achenbach,
wie man den Namen auf slawisch noch schreiben könnte, spielt ja keine Rolle, er hat nun mal im Laufe der Geschichte diese unserem heutigen Deutsch sehr nahe Gestalt angenommen.

Man braucht eigentlich auch die Etymologie bzw. den slawischen Ursprung gar nicht zu kennen und kann Zwickau nach der normalen Regel trennen: Zwik-kau.

Gerade bei Namen ist die Buchstabenänderung fraglich. Ich bin mir nicht sicher, ob man bei Namen auch das c erhalten dürfte: Zwic-kau (Reich-Ranic-ki)?
Reformgemäß wäre jedenfalls Zwi-ckau zu trennen.

Die FAZ-Trennung Zwick-au geht jedoch m. E. nicht, weder reformiert noch herkömmlich. Diese ist ja die einzige, die ein etymologisches Wissen voraussetzt (den germanischen Bestandteil -au), welches bei Zwickau noch dazu unzutreffend ist.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 25.08.2012 um 00.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#21308

Lieber Herr Riemer,

ist Ihnen denn die Trennung Zwic-kau lieber? Bei einem Eigennamen befriedigt mich die herkömmliche Trennung Zwik-kau auch nicht recht.

Wenn man die slawische Herkunft zugrundelegt, dann scheint mir überhaupt die Schreibung Zwickau fraglich. Müßte dann nicht besser Zwikau schreiben?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 24.08.2012 um 23.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#21307

zu den Ortsnamen auf -au,
FAZ vom 2.8.12, S. 12, Zeilenumbruch wie im Original:

Noch ist der edle Zwirn nicht ausgestorben. In Zwick-
au entstehen aus dem Haar der Schafe hochwertige
Garne und schwer entflammbare Bezüge.


Der Name Zwickau ist slawischen Ursprungs (-aw, -ow) wie auch Zittau, Zwenkau, Löbau, Lübbenau, Zschopau und hat nichts mit den Auen (Inseln) von Donau, Lindau, Mainau, Künzelsau zu tun. Während man also letzteres lieber nach dem s trennt, sollte ersteres lieber -kau heißen (bzw. reformiert -ckau).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.05.2011 um 12.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#18737

Unter "Komposition" liest man bei Wiki:

"Es gibt Komposita, die auf Grund dieser beiden Wortbildungsmöglichkeiten zwei Bedeutungen haben:
Traumarbeit: 1. In der Psychologie: Arbeit, die der Traum leistet, nämlich die Umformung und Aufarbeitung unbewusster libidinöser Wünsche; 2. (präfixoid) traumhaft schöne Arbeit.
Bombenauto: 1. Auto, in dem eine Bombe versteckt ist; 2. (präfixoid) ein ganz tolles Auto.
Scheißhaus: 1. derb für: Toilette, Abort; 2. (präfixoid) Haus, das in einem bestimmten Zusammenhang als ärgerlich empfunden wird, blödes Haus (wegen dieses Scheißhauses kann ich nicht in den Urlaub fahren, ich muss es noch immer abbezahlen).“

Aber das stimmt natürlich nicht. Man kann die verschiedene Betonung nicht einfach unter den Tisch fallen lassen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.01.2010 um 10.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#15502

Zum Hauptverfasser der Wortbildungslehre von Fleischer/Barz heißt es bei amazon:

"Wolfgang Fleischer, Jahrgang 1952, ist Fachgebietsleiter Militärtechnik im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden und Gastdozent für historische Kampfmittel an der Sprengschule Dresden. Der Militärhistoriker veröffentlichte eine ganze Reihe von Büchern und Beiträgen zu Waffen, Munition, Kampfmitteln und Heeresfahrzeugen."

Besser wäre:

"Wolfgang Fleischer, geboren 1922, gestorben 1999, war von 1968-1987 Professor für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Leipzig."
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.11.2008 um 11.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#13448

In Duden Bd. 9 (Richtiges und gutes Deutsch) von 2001 steht:
"Wird bei einem unfest zusammengesetzten Verb eine finite Form am Anfang des Satzes gebracht, so erhält sie dadurch Satzgliedwert und wird getrennt geschrieben:
Fest steht, dass ..."

Diese Regel ist in sich widersprüchlich. Wenn ein "zusammengesetztes Verb" am Anfang steht, kann es doch nicht "dadurch" Satzgliedwert erhalten. Und wenn es trotz Kontaktstellung getrennt geschrieben wird, kann es nicht zusammengesetzt sein.
In fest steht, daß... und ...daß feststeht handelt es sich natürlich um ein und dasselbe Lexem, nämlich feststehen. Die orthographische Konvention legt fest, daß an der Satzspitze die Verbzweitstellung sichtbar gemacht wird. Die grammatische Analyse der Verbzusatzkonstruktion kann von dieser orthographischen Konvention nicht beeinflußt werden.

Der Fall zeigt das von Grund auf Verfehlte der Reform: sogar die herkömmlichen Schreibweisen werden falsch erklärt. Schlechte Grammatiker können natürlich keine gute Rechtschreibreform machen.
(Die weiteren Ausführungen des Dudenbandes zur GZS lesen sich auch recht komisch, weil ja wenig später die Revision stattfand und die Neuauflage desselben Buches nun in vielen Punkten das genaue Gegenteil darstellt und begründet ...)
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 21.04.2008 um 19.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11961

Wir müssen hier aufpassen: Wie viele [l] sprechen wir alle, und nicht nur die Ramsauer, in "vielleicht"? Und wo müßte dann deshalb der Trennstrich hin? — Manchmal muß man schon wissen, wofür ein Wort steht, und nicht nur, wies klingt, pardon, ich meine, wie's klingt. Und wie andere was von uns lesen, das zu wissen, ja, das ist der Sinn der ganzen Sache.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 21.04.2008 um 18.54 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11960

Warum lassen wir nicht mal die Betroffenen zu Worte kommen?
Wie sprechen denn die Ramsauer ihren Ort aus: Ram-sau oder Ramß-au?
Und sagen die Leute am Bodensee Main-au oder Mai-nau?
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 20.04.2008 um 22.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11957

Gut ist auch "Künzelsau".
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.04.2008 um 22.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11956

Obwohl der Mannheimer Morgen weder als Verteidiger der bewährten noch als Vorreiter der allerneuesten Rechtschreibung bekannt ist, sondern eher schon als gehorsamer Nachahmer von neuen Varianten, wo auch die alten noch erlaubt sind, trennte er gestern auf Seite 2 den "CDU-Landesgruppenchef Peter Rams-
auer" so.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 18.04.2008 um 04.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11931

Jetzt verstehen die armen Schulkinder endlich, warum Heine "nicht die Himmelsauen / Im Paradies" locken konnten.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 17.04.2008 um 22.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11929

Beim Ort Pertisau am Achensee in Österreich rätsele ich, ob er nach Bertis Au oder der Sau Berti benannt ist, wie die neue Duden-Trennung nahelegt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 17.04.2008 um 22.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11928

Mein Fehler war, nur auf Internetkarten zu suchen. Auf einer besseren Karte findet man tatsächlich ein kleines Flüßchen Sulm.
Also ist in diesem spez. Fall die neue Dudenregel nicht irreführend.
 
 

Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 17.04.2008 um 18.48 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11927

Im Rechtschreibduden von 1991 wird Neckarsulm als »Stadt an der Mündung der Sulm in den Neckar« erklärt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 17.04.2008 um 18.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11926

Mit Ortsnamen ist es manchmal gar nicht so einfach.
Dürrröhrsdorf (bei Dresden) wurde z.B. schon vor der Reform immer mit drei r geschrieben.

Die neue Dudentrennregel für Ortsnamen mit der Au ist vor allem bei Ramsau und Neuendettelsau wirklich komisch.

Was ich eigentlich schon lange suche, ist Klarheit über den Namen Neckarsulm bei Heilbronn. Ist das nun ein stimmloses s (Trennung Neckars-ulm, also Neckar + Ulm mit Binde-s) oder ein stimmhaftes s (Trennung Neckar-sulm, also Neckar + Sulm)?
Es gibt einen Ort Sulm, aber bei Luxemburg, auch ein Sulmtal in der Steiermark in Österreich, aber einen Fluß Sulm bei Neckarsulm habe ich auf keiner Karte finden können. Im Radio sprechen sie es immer stimmhaft aus. Aber ob die Sprecher es wirklich richtig wissen?
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.04.2008 um 12.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11886

Laut Duden wird "-au" nicht mehr als Zusammensetzung mit "Au" erkannt oder empfunden. Westdeutsche Ortsnamen auf "-au" wurden in früheren Duden vor dem "-au" silbengetrennt: Rams-au (Rams = Bärlauch), Main-au, Land-au und viele andere. Jetzt muß Ram-sau, Mai-nau, Lan-dau u.v.a. getrennt werden. (Warschau, Krakau usw. haben nichts mit einer Au zu tun, sondern mit den slaw. Endungen -ow, -owa, -awa, -owo.)

Ein Kandidat für das Unwort 2008: "Rentner-Demokratie", Wortschöpfung von Roman Herzog.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.03.2008 um 06.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11668

Unter deutschen Sprachwissenschaftlern ist es ja seit der Chomsky-Welle üblich, angloamerikanische Fachausdrücke oder auch nur ganz gewöhnliches Englisch in eigentümlicher Weisen nichtzuübersetzen (dieses Wort ist eine Rückbildung und daher zusammenzuschreiben). Aus "performance" wird also "Performanz", es gibt "overte Kategorien" usw. Ein Kollege hat kürzlich die "replazive Negation" eingeführt. Ich frage mich, ob daraus nicht eine "replatzive" werden müßte, nach dem Muster "deplatziert".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.02.2008 um 12.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11558

In dem sogenannten Standardwerk der deutschen Wortbildung, Fleischer/Barz, wird gelehrt, daß "hänseln" von "Hans" abgeleitet sei. Die Etymologen sind sich seit 200 Jahren einig, daß es sich auf den Schabernack bezieht, der mit der Aufnahme in eine "Hanse" (= Gilde) verbunden zu sein pflegte.
 
 

Kommentar von Inge Müncher, verfaßt am 19.02.2008 um 12.46 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11479

Zum Beitrag von Christoph Kukulies, #11366, betr. „widersprüchliche(n) Regeln an den Schulen“ .

Die Regel der neuen s-Schreibung ist in der Öffentlichkeit und wahrscheinlich so auch in den Schulen oftmals unter folgendem Wortlaut bekannt: Nach kurzem Vokal schreibt man ss und nach langem Vokal oder Diphthong ß. Sie wurde deshalb erstellt, um einen Wechsel von ss zu ß oder von ß zu ss zu vermeiden.

Aber das erreicht diese Regel nur bei wenigen Wörtern: fassen, müssen, küssen, hassen, hissen, passen, pressen, vermissen, wässern, jedoch nicht bei essen (er aß), wissen (er weiß), fressen (er fraß), lassen (sie ließ), messen (das Maß), vergessen (sie vergaß); beißen (er biss), fließen (der Fluss), schließen (das Schloss), gießen (der Guss), genießen (er genoss), sprießen (es spross) reißen (sie riss), schließen (das Schloss), verdrießen (der Verdruss).

2. Die s-Regel weist n i c h t auf folgendes hin:

a. Nur bei Wörtern, die im Stammwort ein ß oder ss haben, gilt: Nach kurzem, betonten Vokal und stimmlosem (scharfem) s-Laut ist ss zu schreiben und nach langem Vokal oder Diphthong und stimmlosem s-Laut ein ß.

b. Folgt aber nach kurzem, betonten Vokal und stimmlosem s-Laut ein Konsonant (t, p oder k) und sind keine Stammwörter mit ss oder ß vorhanden, dann schreibt man ein s: Küste, Last, Muster, rostig, ist (sein), er knuspert, Wespe, Kasper, Maske, Muskel.

c. Folgt nach langem, betonten Vokal oder Diphthong und stimmlosem s-Laut ein Konsonant (t oder p) und sind keine Stammwörter mit ß vorhanden, schreibt man ein s: Schuster, Trost, trösten, Wüste, Meister, meist, räuspern.

d. Auch schreibt man ein s, wenn nach kurzem, betonten Vokal sowohl vor als auch nach dem stimmlosen s-Laut ein oder zwei Konsonanten stehen: Herbst, Bürste, Fürst, nächst, Durst, Wulst, bersten.

e. Nach langem, betonten Vokal oder Diphthong folgt am Wortende ein s, wenn der s-Laut im Plural oder in den übrigen Formen stimmhaft ist: Gräser - Gras, Lose - Los, blasen - er blies, Häuser - Haus, Mäuse - Maus, Preise - Preis, Ausweise - Ausweis, weisen - er wies.
Auch wird bei stimmhaftem s-Laut im Wortinneren ein s geschrieben: leise, riesig, tausend, Nase, Pause, Musik, Person, Rose, Lösung, Felsen, rasen, losen, reisen.
Jeder s-Laut am Anfang eines Wortes ist ebenfalls stimmhaft: Sänger, suchen, sehr, silbern.

f. Auch nach kurzem, aber unbetontem Vokal und stimmlosem s-Laut wird am Wortende ein s geschrieben, so bei alles, anderes, beides, dieses, eines, einiges, etliches, jedes, jegliches, jenes, keines, manches, meines, deines, seines, ihres, unseres, eures, vieles, weiteres Neues, eines Tages.

g. Ausnahmen von der neuen s-Regel sind Wörter mit den Endungen as, nis, is, os oder us, auch Fremdwörter, die eigentlich nicht an deutsche Regeln gebunden sind: Ereignis, Finsternis, Geheimnis, Gedächtnis, Iltis, gratis, Atlas, Eros, Amos, Globus, Nimbus, Tourismus.

Weitere Ausnahmen: das (Artikel oder Relativpronomen), des, bis, es, plus, was, wes (ältere Form von wessen) aus, Bus, Bistum, Mesner, bisher, deshalb, etwas, heraus, weshalb. Auch die Konjunktion daß dürfte eigentlich nicht in dass verwandelt werden, da sie zu den einsilbigen Wörtern mit betontem, kurzen Vokal und nachfolgendem Konsonanten gehört wie ab, an, in, man, mit, ob, um, bis, das, des, es, plus, was, wes, die nicht verdoppelt (Die amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung, 1.2,§4,6 in der 23. Auflage des Dudens, S.1115 oder der 24. Auflage, S.1164) und schon gar nicht durch zwei fremde Buchstaben ersetzt werden dürfen. Aber man hat sie – für die neue s-Regel zurechtfrisiert – in die dann, denn, wenn, wann, schlimm, starr u.a. Gruppe, 1.2,§2 (23. Auflage, S.1114; 24. Auflage, S.1163) hineingedrängt, teilweise in kleinster Druckschrift amtlich dargestellt.

Wenn schon eine neue s-Regel in den Schulen verordnet wird, sollte sie vollständig sein und nicht statt dessen ihre Einfachheit gerühmt werden. Da viele Wörter mit s-Lauten nicht in sie hineinpassen, ist ihr zu widersprechen und nicht geeignet, eine richtige neue s-Schreibung zu erreichen. So entstehen Fehler wie lässtig statt lästig, hasstig statt hastig, die Küsste statt die Küste, wesshalb statt weshalb, desshalb statt deshalb, wass statt was, biss statt bis, Geißt statt Geist, Hinderniss statt Hindernis, Atlass statt Atlas. Auch können manche Schüler den Unterschied zwischen kurzem und langem Vokal nicht heraushören, schreiben deshalb Strasse statt Straße, gross statt groß, bloss statt bloß, Fuss statt Fuß, Mass statt Maß, gemäss statt gemäß, oder sie wissen nicht, welcher s-Laut stimmlos (scharf) und welcher stimmhaft ist.

Da die neue s-Regel das größte Übel der Rechtschreibreform ist, sollte man zur klassischen s-Schreibweise zurückkehren, wo nach kurzem, betonten Vokal, auch nach langem, betonten Vokal oder Diphthong und stimmlosem s-Laut ein ß zu schreiben ist, wobei Stammwörter mit ss oder ß vorhanden sein müssen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 08.02.2008 um 20.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11379

Ähnlich wie mit den Füllhornen verhält es sich auch mit den Nashornen.
 
 

Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 08.02.2008 um 18.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11377

Zum Beitrag von K. Bochem (#11367):

Vor der Reform schrieb der Duden sich wohl fühlen vor. Herr Ickler hat zu Recht auch sich wohlfühlen in sein Rechtschreibwörterbuch aufgenommen. Auf die Frage Wie fühlst du dich? antwortet man Gut!, Schlecht!, Hervorragend!, Miserabel! usw., aber kaum Wohl!

Warum K. Bochem den Satz »Marty fällt ein, dass in Kürze ein Blitz [...] einschlagen wird« anführt, ist mir nicht ganz klar. Man schreibt binnen/in/seit/vor kurzem, aber in Kürze.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.02.2008 um 09.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11371

Nochmals "platzieren"

Die Thüringer Landeszeitung erinnert sich an DDR-Zeiten:

»Ein Schild im Windfang verwehrte uns den Zutritt: "Sie werden plaziert!"
Auch wenn die Schreibweise des Verbs aus heutiger Sicht merkwürdig anmutet, sie war korrekt. An eine Rechtschreibreform dachte damals niemand, schon gar nicht, wenn der Magen knurrte. Das fehlende "t" wurde im Geiste mitgesprochen, es verlieh dem Spruch eine zusätzliche Schärfe. Sie werden platt-ziert!«

Nun mal langsam! Man muß die Reform schon sehr verinnerlicht haben, um "plazieren" merkwürdig zu finden. Wenn wir "Platz" als völlig eingedeutscht ansehen, dann ist das Fremdsuffix -ieren ziemlich selten (hausieren, grundieren), aber ganz heikel wird es mit dem Präfix de- vor deutschen Verben. Darum hat der Duden nie aufgehört, "deplaciert" anzuerkennen, während Wahrig diese Schreibweise gar nicht mehr und "deplaziert" nur als alte aufführte. Wirklich merkwürdig wirkt nur "deplatziert", aber gerade damit prunken die Reformer und die folgsamen Wörterbuchmacher.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.02.2008 um 07.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11369

In Zusammensetzungen wird das letzte Glied ("Grundwort") manchmal anders dekliniert als das entsprechende Simplex. Ein Beispiel ist mir neulich aufgefallen: die Füllhorne. Google hat tatsächlich eine ganze Menge Belege.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.02.2008 um 06.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11368

Im besagten Standardwerk zur Wortbildung (Fleischer/Barz 1995) liest man z. B. zur Steigerungsbildung:

„Unter den adjektivischen Erstgliedern wird hoch am stärksten genutzt, und zwar nicht in Verbindung mit negativ bewerteten Begriffen: hochfein, -intelligent (...)"

Und was ist mit hochgiftig, hochgefährlich usw.?
 
 

Kommentar von K.Bochem, verfaßt am 07.02.2008 um 23.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11367

Der Kölner Stadt-Anzeiger hat die Rubrik "JUNGE ZEITEN", in der man Volontäre, Abiturienten, möglicherweise angehende Journalisten oder Literaten , vorwiegend um die achtzehn bis zwanzig Jahre alt, zu Wort kommen läßt. Z.Zt. sind das genau die, deren Schullaufbahn von der bewährten Rechtschreibung nur noch am Rande berührt gewesen ist.
Heute liest man dort z.B. in einem Artikel: "Gründe, warum Sandra sich in ihrem Job wohl fühlt." oder "immer wieder aufs Neue motivieren" oder "Arbeitszeiten: können selbstständig eingeteilt werden". In einer Besprechung der Lübbe-Veröffentlichung "Zurück in die Zukunft" heißt es "Marty fällt ein, dass in Kürze ein Blitz [...] einschlagen wird." Gleich nebenan kann man lesen: "lieb gewonnene Gewohnheiten" (was der Duden-Empfehlung entspricht). Sonst aber habe ich den Eindruck, daß die (aufgeweckten) jungen Leute dümmliche Schreibungen regelrecht vermeiden.
 
 

Kommentar von Christoph Kukulies, verfaßt am 07.02.2008 um 11.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11366

Was sind eigentlich die krassesten Beispiele für die Vermittlung einer falschen Grammatik oder widersprüchlicher Regeln an den Schulen? Ich bin auf der Suche nach dem eklantantesten Beispiel für eine "Vergewaltigung" des Gehirns von lernenden Schülern. Kann man solche Beispiele aufzählen?
 
 

Kommentar von b.eversberg, verfaßt am 07.02.2008 um 07.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11365

Vor der Reform konnte man gutes Schreiben einfach durch fleißiges Lesen guter Texte lernen, denn orthographisch waren sie fast alle einheitlich. Nebenbei, unterhaltsam obendrein, prägten sich die Schreibweisen von Wörtern und Idiomen ein, ohne theoretischen Überbau. Im Englischen funktioniert das immer noch, und da kann es auch gar nicht anders funktionieren!, im Deutschen aber nicht mehr – weil die einheitliche Textbasis zerstört ist. Dies halte ich für den schlimmsten Schaden der Reform und die dümmste Fehleinschätzung der Reformer.
Eine Evaluation täte not, um die Folgen sichtbar zu machen. Vielleicht sind sie ja doch nicht so schlimm – ich wäre froh, übertrieben zu haben.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 07.02.2008 um 05.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=963#11364

Mich beschäftigt immer wieder die Frage: Wie wird es weitergehen, wenn das Wissen um die klassischen Schreibweisen bei der Bevölkerung schwindet? Die ganze Reformschreibe erschließt sich von Anfang an aus dem Vergleich mit der herkömmlichen Orthographie; die ersten Regeln sind „Vergleichsregeln“ gewesen. Bis heute kann man deshalb die neuen Schreibformen nur im Vergleich mit den klassischen Formen „regeltreu“ bilden. Dazu kommt: Voraussetzung für das richtige Schreiben sind seit 1996 gute Kenntnisse im Bereich Grammatik und Wortbildung. Der Schreibende muß rational an die Sache herangehen; er darf sich nicht von Intuition und Gefühl leiten lassen, weil es sonst zu Analogiebildungen kommt, die bei Anwendung der Reformschreibung unweigerlich aufs Glatteis führen.

Besonders die s-Schreibung nach Heyse macht dies deutlich. Ich will erklären, weshalb:
Den Silben- und Wortschluß kann jeder, auch ein Kind, mit seinem unterbewußten Verständnis für Sprachmuster „erfühlen“, ohne jemals Regeln kennengelernt zu haben. Daß am Silben- und Wortende niemals ein Doppel-s erschien, haben sich Lesende und Schreibende intuitiv einprägen können. Weder grammatische noch Wortbildungskenntnisse waren nötig, um richtig zu schreiben.
Die Reformschreibung hingegen verlangt vom Schreibenden theoretische Kenntnisse und Regelwissen. Diese gehen nicht nur Wenigschreibern ab, auch Kinder können sie nicht besitzen. Letztere prägen sich in den ersten Schuljahren chaotische Schreibweisen ein, die sie im späteren Leben nicht mehr loswerden.

Der Neuschreiber ohne „Althintergrund“ wird bei gewissen Wörtern ständig nachdenken müssen, welche Ableitung oder grammatische Beugungsform er vor sich hat. Hier einige rasch zusammengewürfelte Beispiele:

die Last – es lastet – belasten – lasst! – belässt – lästig ...
lasten – hasten – sie hassten – sie rasten
Bewusstsein – der Wust – Muster – musst du
Küste – er küsste – er wüsste – Wüste
Mist – er misst

Für ein Schulkind ist diese komplexe Aufgabe nicht zu bewältigen. Bei ihm wird vorausgesetzt, was gar nicht vorhanden sein kann, weil es erst gelernt werden muß. Hier kommt das Ei vor der Henne, womit zumindest die Frage der Reihenfolge endlich geklärt wäre.
Die Unsicherheit beim Schreiben ist heute größer denn je, und wenn auch die meisten nicht darüber nachdenken: Unsicherheit ist beim Lernen der Motivationskiller Nummer 1! Die Reformer haben im löchrigen Becken der Schriftkultur zusätzlich alle verfügbaren Schleusen geöffnet, ein Bärendienst an der deutschen Sprache.
 
 

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