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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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04.08.2006
 

Prozente
„Neue Rechtschreibung verunsichert die Deutschen“

79 Prozent der Deutschen sind nach der Einführung der neuen Rechtschreibregeln verunsichert. Das ergab eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts forsa im Auftrag des Nachrichtenmagazins n-tv.

Nur 19 Prozent der Befragten waren „eher sicher“. Dennoch sind 39 Prozent der Menschen froh, dass es nach jahrelangen Diskussionen nun eine verbindliche neue Rechtschreibung gibt. Einem Dittel (33 Prozent) ist die Rechtschreibung hingegen „egal“.



Wer diese Meldung liest, wird besonders über die 39 Prozent stolpern, die froh sind, „dass es nach jahrelangen Diskussionen nun eine verbindliche neue Rechtschreibung gibt.“ Diese Menschen können doch nur nachsprechen, was die Medien ihnen vorgesprochen haben. In Wirklichkeit hat es die ganzen Jahre hindurch „eine verbindliche neue Rechtschreibung“ gegeben - mit Übergangsfristen, die auch jetzt noch nicht vorbei sind. Es hat sich also gar nichts geändert, außer der jeweils vorgeschriebene Orthographie selbst. Aber die Medien plärren seit Wochen nichts anderes als: „Endlich Schluss!“ (DIE ZEIT) - und die Leute glauben es und sind froh, daß endlich Schluß ist. Die umfragenden Medien ernten also genau das, was sie kurz zuvor gesät haben.

Mit den 19 Prozent, die sich „eher sicher“ (in der neuen RS wohlgemerkt!) fühlen, würde ich mich auch gern mal unterhalten. Vielleicht haben zwei oder drei Prozent gemerkt, daß man die Briefanrede wieder groß schreiben darf, aber sonst? Es ist ziemlich sicher, daß allenfalls im Promillebereich Leute zu finden sind, die das aktuelle Regelwerk in der Hand gehabt haben, und mit den Wörterbüchern konnte sich ja auch noch niemand genauer beschäftigen.



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Kommentare zu »Prozente«
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Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 26.08.2006 um 12.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5377

Lidl scheint sich jetzt sicherer zu sein

Der Discounter Lidl benutzt seit heute in Prospekten und im Web eine der reformierten Rechtschreibungen. Bisher war Lidl stets standhaft geblieben und in den Prospekten wurden Textilien mit "Reißverschluß" und Töpfe mit "Ausguß" angeboten.

Wer Lidl sein Mißfallen kundtun möchte, kann das unter dieser Adresse tun.
 
 

Kommentar von Meg Palffy, verfaßt am 06.08.2006 um 13.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5227

An dem Wörtchen "logisch" kann man sich in Orthographie-Diskussionen leicht die Zähne ausbeißen - Sprache ist nun mal einfach nicht logisch zu kriegen, jedenfalls nicht im mathematisch-naturwissenschaftlichen Sinne. Zwar lassen sich gelegentlich einzelne Widersprüche aus der Rechtschreibung beseitigen, aber solange unser Denken nicht widerspruchsfrei ist, wie sollte es da unsere Sprache sein, da sie doch Denkwerkzeug ist?

Zur Diskussion über den "Sinn", der angeblich wichtiger ist als die korrekte Schreibung: Interessant, daß so viele Menschen glauben, Orthographie sei etwas Zusätzliches, das man einem Text nachträglich überstülpt oder als Dekoration daran anbringt, um ihn für die Lesenden nett darzubieten. Daß Orthographie gerade dazu dient, den Sinn möglichst treffend zu vermitteln, und daß genau da bei der Neuschreibung der Hase im Pfeffer liegt, ist so vielen Leuten nicht klarzumachen. Vor allem nicht, solange sie das "Jetzt-ist-alles-viel-logischer"-Brett vor dem Kopf tragen.
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 06.08.2006 um 10.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5222

Mir fällt nur immer wieder das arme Urlauberpärchen auf Wiens Mariahilfer Straße ein, am bodennahen Stand des wenig bodenständigen Gewerbes eines Hütchenspielers. Bei Gelegenheit mische ich mich ins Publikum und schaue ein Weilchen zu.

Sie hat dort insgesamt 400 Euro vom Urlaubsgeld versenkt, bevor er sie wegziehen konnte. Hinterher schluchzte sie.

Auch die Nachbesserungen an der Reform gleichen den Versuchen, beim selben Trickbetrüger sein Geld doch noch zurückzugewinnen.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 05.08.2006 um 18.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5210

Lieber j.k., fragen Sie Ihre Gesprächspartner doch einfach einmal, was sie genau meinen, wenn sie etwas für "logisch" erklären. Für die meisten Leute ist der Satz "Das ist logisch" nämlich nur eine Umschreibung von "Das habe ich verstanden" bzw. "Das leuchtet mir ein". Dagegen ist nicht nur nichts zu machen, sondern auch nichts zu sagen. Im nächsten Schritt wäre dann zu klären, was "logisch" tatsächlich bedeutet, nämlich (jetzt für die Bedürfnisse einer nichtakademischen Diskussion verkürzt) soviel wie "schlüssig" oder "widerspruchsfrei". Wenn das klar ist, dann ist auch klar, daß die Aussage "Heyse ist logisch" als Argument nur dann etwas taugt, wenn Adelung weniger logisch ist. Dieser Nachweis läßt sich aber nicht führen, weil beide Systeme strukturell identisch sind und sie sich nur in den Prämissen unterscheiden, auf die hin ihre Konsistenz organisiert ist. Dies schließt dann das Zugeständnis Ihrerseits ein, daß das System Adelung seinerseits nicht logischer ist und deshalb besser wäre. Damit ist eine Ebene gewonnen, auf der andere Kriterien zur Geltung kommen können, wie Leserfreundlichkeit und Fehleranfälligkeit. Das Rezept hilft übrigens nicht nur bei der Kontroverse Heyse/Adelung: Wer, statt schlicht logisch zu argumentieren, mit der Logik selbst als Argument herumfuchtelt, zeigt damit meistens nur, daß er nicht oder nicht ausreichend verstanden hat, worum es geht. Viel Erfolg!
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 05.08.2006 um 17.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5208

Meine Erfahrungen mit angeblichen Reformbefürwortern ähneln eher denen mit Leuten, die von einem Trickbetrüger übers Ohr gehauen worden sind: Anstatt zuzugeben, daß man hereingelegt wurde, verteidigt man den Kauf eines Grundstücks auf dem Mond noch damit, daß es sich doch in bester Lage befinde und der Preis vergleichsweise günstig gewesen sei. Solche Menschen sind für Argumente völlig unzugänglich, sie wollen sie nicht einmal hören! Dafür steht ihnen das schlechte Gewissen aber ganz deutlich ins Gesicht geschrieben.
 
 

Kommentar von j.k., verfaßt am 05.08.2006 um 16.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5206

Ja, solche Gespräche sind keine Seltenheit. Das Witzige daran ist aber, daß man diese Leute nicht überzeugen kann, daß sie einem Irrglauben verfallen sind. Egal, wie viele Fakten man ihnen nennt, egal, wie viele Beispiele man ihnen nennt, sie bleiben stur bei ihrer Meinung, durch die Rechtschreibreform sei alles leichter und logischer.

Einen Lichtblick habe ich aber bei den Jüngeren anzubieten: Seit einigen Tagen führe ich in diversen Foren Diskussionen über die Reform, und die allermeisten sagen, die Reform sei größtenteils schwachsinnig. Andere regen sich darüber auf, daß die Reform so oft reformiert wird, sind aber nicht grundsätzlich gegen die Reform.

Gemeinsam haben sie alle, daß sie zumindest die Heysesche s-Schreibung "leichter und viel logischer" ansehen als die Adelungsche.
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 05.08.2006 um 13.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5202

Auch ich hatte -- angelegentlich der Taufe meiner zweiten Nichte -- ein ähnliches Gespräch wie von Meg geschildert.

Die Kernthesen meines Gesprächspartners:

1. Für die Schüler viel besser, alles ist jetzt leichter und logischer.
2. Rechtschreibung war mir eigentlich schon immer egal, weil ich sie eh nicht verstanden habe; mir kommt es nur darauf an, daß mein Gegenüber den Sinn erfaßt.

Sinn erfassen mit dem Vehikel einer reformierten Rechtschreibung, die sich dem Schreiber sowenig erhellt wie die traditionelle? Wie soll das bitte gehen?

Hier für alle noch ein Literaturtip:

Hubert Schleichert: Wie man mit einem Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Anleitung zum Subversiven Denken (Beck, 2005).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.08.2006 um 06.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5194

Den Lesern der bedeutenden Zeitungen ist die Rechtschreibung nicht egal. Das sind mehrere Millionen. Ein Drittel der Bevölkerung macht Abitur. Ich werde oft von Nachbarn oder von ganz fremden Menschen, die mich aus der Zeitung kennen, auf die RSR angesprochen, und es ist keiner darunter, der das Treiben nicht mißbilligend betrachtete. Wie man es auch wendet, die Rechtschreibreform ärgert Menschen im zweistelligen Prozentbereich. Natürlich ist der Kenntnisstand bei einem so esoterischen Argumentationsstil, wie ihn die amtliche Regelung zeigt, nicht besonders tiefgehend. Aber die Gesamttendenz wird von den meisten doch ganz zutreffend erfaßt.
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 04.08.2006 um 23.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5193

Alle bisherigen Erfahrungen sprechen wohl gegen eine orthographische Emanzipation durch das ‚gewöhnliche’ Volk. Wie hoch wird wohl der Prozentsatz derer sein, für die Orthographie einen gewissen Stellenwert besitzt? Ich schätze, das sind vielleicht 0,1%, also jeder tausendste, wenn überhaupt.

Für diese wenigen ist Orthographie eine Art Hobby, ein Hobby für das man sich gegebenenfalls auch artikuliert, die anderen 99,9% haben dieses Hobby nicht und kommen trotzdem anstandslos durchs Leben.

Von den 0,1% sind einige revolutionär, die anderen evolutionär eingestellt. Und die Erfahrung zeigt, daß Diskussionen zwischen den beiden Gruppen vergleichbar sind mit windschiefen Geraden, sie gehen aneinander vorbei, sie treffen sich nie.

Geht man von der Überlegung aus, daß eine evolutionäre, unbeeinflußte Entwicklung aus sich heraus einem bestangepaßten Zustand zustrebt, dann muß jedes künstliche Herumfuhrwerken an einer Orthographie zu einer Verschlechterung führen. Wären die sogenannten Vereinfachungen nämlich solche, dann hätten sie sich schon längst von selbst herausgebildet.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 04.08.2006 um 20.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5188

Die 39 Prozent sollte man nicht überbewerten. Dafür, daß sie auf eine (und sei es aus eigener Unwissenheit der forsa-Leute oder ihrer Auftraggeber heraus so formulierte) Suggestivfrage geantwortet haben, sind es sogar erstaunlich wenige.
 
 

Kommentar von Meg Palffy, verfaßt am 04.08.2006 um 18.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=587#5187

Ich scheine mich überwiegend im Dunstkreis der 39 Prozent zu bewegen. Gewöhnlich laufen Dialoge über "die neue" (welche?) Rechtschreibung bei mir ungefähr so ab:

Mein Gegenüber findet, eigentlich sei doch jetzt alles einfacher geworden durch die Rechtschreibreform, und das sei doch auch irgendwie ganz gut so. Darauf nenne ich drei bis vier Beispiele, an denen klar ersichtlich ist, daß die Macher dieser neuen Schreibung entweder ahnungslos oder böswillig gehandelt haben müssen (siehe Pseudo-Substantive wie "Recht" in "Recht haben", unsägliche, volksverblödende Etymolügereien und so fort). Worauf mein Gegenüber sagt, er oder sie kenne sich da in den Details jetzt ehrlich gesagt nicht so aus. Aber trotzdem sei doch jetzt alles irgendwie einfacher und logischer, von so ein paar Kleinigkeiten vielleicht mal abgesehen...

Dieses Absehen von den "paar Kleinigkeiten" ist es, was mich daran am meisten ärgert. Denkt eigentlich jemand von diesen lieben Mitmenschen beim Schreiben nach?

Was kann man tun? Habe mir kürzlich in der Buchhandlung meines Vertrauens den "Ickler" bestellt und gebe die Hoffnung noch nicht auf...
 
 

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