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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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12.10.2013
 

Glauben und wissen
Aufschlußreiche Unterschiede

Über Glauben und Wissen ist viel geschrieben worden, angefangen mit Platons „Theaitetos“ und anderen Werken. Ich möchte hier nur auf einige sprachliche Besonderheiten des Deutschen hinweisen, die Rückschlüsse auf das sprach- und kulturspezifische Modell dieses Teils unserer „folk psychology“ zulassen. (Schon im Englischen sind die Verhältnisse wieder anders.)
Philosophen versuchen meistens, die populären Begriffe wissenschaftlich zu rekonstruieren – meiner Ansicht nach ein vergebliches Unterfangen, da die mentalistischen Konstrukte der Allgemeinsprache nicht objektivierbar sind. Aber darauf kann ich hier nicht grundsätzlicher eingehen.

Eine beliebte Definition, die schon bei Platon erwogen wird, lautet, Wissen sei Glauben zuzüglich Begründung. Die sprachlichen Tatsachen stützen eine solche Ansicht nicht.

Man fragt üblicherweise: Woher weißt du das?, aber nicht *Warum weißt du das?
(Diese Beurteilung soll nicht ausschließen, daß die inkriminierte Form unter sehr speziellen Umständen irgendwo vorkommt.)
Umgekehrt fragt man: Warum glaubst du das?, aber nicht *Woher glaubst du das?
Man setzt also voraus, daß der Glaube eine Begründung hat, während es beim Wissen um eine Episode des Lernens oder der Erfahrung geht. Zugespitzt gesagt: Der Glaube beruht auf Überlegung, das Wissen auf Offenbarung. Wer hätte das gedacht!



Mir ist klar, daß ich hier auch ein bißchen mit den verschiedenen Bedeutungen von Glaube(n) gespielt habe (belief vs. faith). In der ZEIT schrieb mal ein besonders dummer Journalist:

Wer aber glaubt, der Mensch komme ohne Glauben aus, der glaubt somit erstens selbst und macht zweitens die Rechnung ohne die Spezies Mensch.

Der erste Teil ist ein bekanntes Sophisma. Man braucht bloß glauben durch annehmen zu ersetzen, um seine Haltlosigkeit zu erkennen. Der zweite Teil geht dann zum Neurobluff über: Der Glaube, nun als Religion verstanden, soll im menschlichen Gehirn begründet sein. Ungläubige wären dann krank, aber es gibt ja zum Glück gar keine, s. o.



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Kommentare zu »Glauben und wissen«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2017 um 17.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#34921

Da Philosophen und Sprachwissenschaftler so großzügigen Gebrauch vom Begriff der "Proposition" machen, wüßte man gern, was das ist. Aber die Wikipedia-Einträge deutsch und englisch sind von kindischer Einfalt.
Auf deutsch wird der Begriff folgenden Bereichen zugewiesen:

Proposition (Linguistik), Aussageinhalt eines Satzes
Proposition (Psychologie), Bewusstseinsinhalt eines Wortes oder Ausdrucks
Proposition (Reichstag), die Tagesordnung des deutschen Reichstags vor 1806
Proposition 8, Volksabstimmung in Kalifornien 2008 zur gleichgeschlechtlichen Ehe
California Proposition 19, Volksabstimmung in Kalifornien 2010 zur Legalisierung von Drogenhanf


Es fehlt die Logik, also die eigentliche Heimat des Konstrukts "Proposition". Zur Psychologie gibt es einen Eintrag, der als einzige Literatur Hombergers „Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft“ anführt, ein sehr bescheidenes und nicht einschlägiges Buch.

Dieses Desaster kommt aber nicht von ungefähr. Es ist eben ein unbrauchbarer Begriff, den man mitsamt der mentalistischen Psychologie schnell aufgeben sollte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.03.2014 um 07.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#25395

In der IDS-Grammatik wird behauptet, wissen heiße „den Wahrheitswert der Untersatz-Proposition p kennen“ (S. 2259)

Demnach wäre kennen elementarer als wissen. Aber es geht beim Wissen doch um den Inhalt der Proposition, nicht um ihren Wahrheitswert. Ich verstehe zwar nicht, was du sagst, aber ich kenne den Wahrheitswert... Ein Apparat könnte formal mit Wahrheitswerten arbeiten, ohne den Inhalt der zugeordneten Propositionen zu verstehen. Die Kenntnis des Wahrheitswertes könnte auf einer anderen Quelle beruhen als das Verständnis und das daraus erst folgende Kennen des Wahrheitswertes.

Und Tiere wissen dann überhaupt nicht, höchstens metaphorisch, da sie ja keine Sprache und a fortiori keine Propositionen haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.10.2013 um 06.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24243

Daß unser Verhalten auf Wissen beruhe und dieses in Form von Propositionen gespeichert sei, ist weithin herrschende Überzeugung auch bei Psychologen, z.B. dem einflußreichen Willem Levelt. Dazu fällt mir ein Bonmot Stephen Schíffers ein:

„If Quine were more widely read there would no doubt be a cult rock band called The Propositions.“
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.10.2013 um 05.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24242

Wie man sich durch den vorwissenschaftlichen Begriff des "Wissens" unlösbare Probleme schafft, kann man bei den Mentalisten überall sehen, z. B. hier:

"Die Grammatik einer Sprache ist die Repräsentation des Wissens, das die grammatische Kompetenz ausmacht, d.h. die Fähigkeit, beliebige Äußerungen wohlgeformt zu bilden oder als (nicht-) wohlgeformt zu erkennen und mit anderen Kenntnissystemen zu verküpfen. (...)
Das Wissen, über das der muttersprachliche Sprecher souverän verfügt, ist ihm aber introspektiv unzugänglich. Es ist kognitiv opak und kann auf Befragen nicht genannt werden. (...) Chomsky lenkte als erster mit methodischer Konsequenz den Blick auf die Frage, wie der Sprecher zu diesem Wissen gelangen könne. Die simple Annahme, er hätte es gelernt, ist allzu offensichtlich unhaltbar. Lernen ist induktiver Wissenserwerb. Induktiv erworbenes Wissen über einen komplexen Gegenstand ist unvollständig und abhängig von den Lernerfahrungen. Darüber hinaus beansprucht der Grammatikerwerb höchstens ein Jahrzehnt und wird mit nicht voll entwickelten kognitiven Kapazitäten gemeistert. Dem steht die Grammatiktheorie gegenüber, die von Spezialisten mit den kognitiven Kapazitäten eines Erwachsenen betrieben wird, und denen es in mehr als drei Jahrzehnten trotz vereinter Anstrengung nicht gelungen ist, das Grammatiksystem einer einzigen Sprache zu enträtseln. Der unvermeidliche Schluß daraus ist, daß Kinder Sprache nicht induktiv erlernen, sondern über eine spezifische Fertigkeit zum Spracherwerb verfügen. Diese Fertigkeit ist offenbar artspezifisch und daher universell, d.h. gültig für jedes normale Individuum der Art."
(Hubert Haider: Die Struktur der Nominalphrase. In: IdS-Jb. 1991, Berlin 1992:304f.)

Man sagt übrigens nicht "Fertigkeit zum Spracherwerb", sondern höchstens "Fähigkeit", aber auch das wäre tautologisch; sie lernen es eben. Was Chomsky betrifft, so hat er vielleicht als erster die Fragestellung mit einer solchen Diktion ("Wissen", "Regeln" usw.) versehen. Aber daß er als erster nach der Herkunft der Sprachkompetenz und damit nach dem Spracherwerb gefragt habe, ist natürlich Unsinn. Haider behauptet implizit, daß die Sprachwissenschaft erst seit mehr als drei Jahrzehnten existiert – das ist die Arroganz der Generativisten.

Wie kann der Sprecher – als Person? – souverän über ein Wissen verfügen, das ihm nicht zugänglich ist? Indem man den Spracherwerb als Gewinnung von Regeln darstellt, macht man das Problem unlösbar. Es geht ja um den Erwerb eines Verhaltens, und die Ansetzung von Regeln, die es steuern, ist eine Petitio principii. Jedenfalls wird die empirische Untersuchung eines Gegenstandes, der in so mentalistischer Begrifflichkeit beschrieben ist, nicht gerade erleichtert.

Eine Wissenschaft vom menschlichen Verhalten kann solche Begriffe wie Wissen, Gedanken und eben auch Begriff nicht gebrauchen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 19.10.2013 um 11.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24241

Es ist bei Habermas wohl weniger ein naiver Irrtum als eine Verbeugung vor dem Strukturalismus.

Im Zuge des Spracherwerbs findet schon das Kind Gefallen daran, sich die eigenen Gedanken vorzusprechen. Denkt es dabei, daß es so denkt, wie es spricht?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.10.2013 um 05.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24239

Der Naturalismus (Behaviorismus) kommt ohne das Konstrukt des "Wissens" aus, er erklärt das Verhalten und die Verhaltensänderung ohne solche Fiktionen.

Der Grundirrtum des Kognitivsmus ist für uns interessant, weil er aus der Sprachlichkeit herausgesponnen ist. Besonders deutlich etwa bei Habermas:

„Unser Wissen baut sich aus Propositionen oder Urteilen auf, jenen elementaren Einheiten, die wahr oder falsch sein können; wegen seiner propositionalen Struktur ist Wissen von Haus aus sprachlicher Natur.“ (Jürgen Habermas: „Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität“, in: Gerhard Preyer, Maria Ulkan, Alexander Ulfig (Hg.): Intention - Bedeutung - Kommunikation. Opladen 1997:258-287, S. 261)

Man sieht hier den naiven Irrtum.

Ich fahre seit einigen Wochen einen anderen Weg in die Stadt, weil der gewohnte gerade wegen Straßenarbeiten gesperrt ist. Ich "weiß, daß der gewohnte Weg gesperrt ist" – das ist eine Proposition. Aber es gibt keinen Grund, mein Verhalten von einer solchen satzartigen Formulierung herzuleiten. Gemaß Ockhams Rasiermesser verzichten wir lieber darauf, ebenso wie auf den Begriff des Wissens überhaupt (was seine Verwendung in der Alltagssprache natürlich nicht ausschließt). Zwei Irrtümer weniger – das kann man als Fortschritt bezeichnen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 16.10.2013 um 23.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24232

Wie ist es mit der Etymologie der Fragewörter?
warum = wo + um
woher = wo + her
Mit warum scheint man weniger genau zu fragen, woher aber fragt nach dem ganz genauen Ursprung. Das paßt auch zur Verwendung bei glauben und wissen.

Die Verneinung hebt alle Gegensätze auf:
- Warum glaubst/weißt du es nicht?
- Warum kennst du ihn nicht?
In keinem Fall kann man woher fragen. Klar, denn nicht glauben und nicht wissen können viele Ursachen haben.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 16.10.2013 um 14.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24231

Wir können auch bei glauben die Etymologie ansetzen. Das bedeutet ursprünglich ja etwa soviel wie "liebhaben"(ge-lieben). Eine Frage "Woher liebst du das?" erscheint da recht unsinnig, dagegen "Warum liebst du das?" die normale Frageweise.
Allerdings sollte man sich nicht zu sehr darauf kaprizieren, was die Leute vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden mal dachten, als sie eine bestimmte Begrifflichkeit prägten. (habent sua fata verba.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.10.2013 um 07.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24230

Dazu müßte man die englischen Wortfelder untersuchen, die, wie gesagt und bekannt, anders abgegrenzt sind als die deutschen. how ist immerhin nicht why und hat eine interessante Parellele im Deutschen, wenn man fragt: Wieso kennst du ihn persönlich? - eher als Woher kennst du ihn persönlich? (wohl aber Woher kennst du ihn?). Ich habe diese Beobachtung nicht schon früher angeführt, weil ich die empirischen Belege noch nicht hinreichend fand.

Wie kommt es, daß du das weißt/ihn kennst? dürfte eine ziemlich neutrale Frage sein, die sowohl für "woher" als auch "warum" offen ist.

Schwierig wird die Sache, weil Bestandssysteme und Begriffssysteme ineinander überführbar sind. Und Bekanntschaft (knowledge by acquaintance nach Russell) ist nun mal eine Angelegenheit des Bestandssystems, zu dem der Kennende und das Gekannte gehören.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 15.10.2013 um 01.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24229

»Seele« sollte hier kein psychologische Theorie unterstellen, sondern nur das dem Fragesteller Unzugängliche bezeichnen.

Und was lernen wir also daraus, daß der Engländer "how do you know" und nicht mehr "whence knowest thou" sagt?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.10.2013 um 07.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24226

Die Etymologie ist in diesem Fall ganz aufschlußreich. Wissen bedeutet ja ursprünglich "gesehen haben", es ist nicht nur im Deutschen ein Präteritopräsens (Perfektopräsens wäre besser). Glauben geht mehr in die Richtung "Vertrauen". Wissen hat also mit der Herkunft der "Information" zu tun, Glauben mit deren Bewertung. Entgegen der philosophischen Meinung gehören die beiden Verben ganz verschiedenen Wortfeldern an. Das könnte man auch noch mit anderen Hinweisen belegen.

Mir geht es um den Alltagsgebrauch. Da muß man den Sprechern keine psychologischen Theorien unterstellen, auch keinen Bezug auf "Seele". Nach meiner Beobachtung dient ich weiß meistens der "Interpunktion" des Gesprächs: Man stoppt weitere Mitteilungen des Partners, indem man auf den bereits vorhandenen Informationsstand hinweist. (Ich drücke mich salopp aus und stehe keineswegs hinter der Redeweise von "Informationen" usw.)
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 14.10.2013 um 01.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1581#24225

Die Verhältnisse lassen sich wieder etwas zurechtrücken, wenn man es so interpretiert: Die Frage nach dem Woher setzt voraus, daß Wissen eine Quelle hat. Der Befragte soll darlegen, wer oder was ihn belehrt hat. Die Frage nach dem Warum impliziert hingegen, daß der Glaube letztlich in der Seele des Befragten fundiert ist. So auch in der rhetorischen Frage: Wer glaubt denn sowas? Mit anderen Worten, was ist das für ein Mensch?
 
 

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