zurück zur Startseite Schrift & Rede, Forschungsgruppe dt. Sprache    FDS - In eigener Sache
Diskussionsforum Archiv Bücher & Aufsätze Verschiedenes Impressum      

Theodor Icklers Sprachtagebuch

Die neuesten Kommentare


Zum vorherigen / nächsten Tagebucheintrag

Zu den Kommentaren zu diesem Tagebucheintrag | einen Kommentar dazu schreiben


03.11.2010
 

Jenseits des „Duden“
Kurzer Rückblick auf eine verpaßte Gelegenheit

Unter »Ein „Geschenk für unsere Kinder“« habe ich dem vor einigen Tagen verstorbenen Andreas Digeser, einem der Großväter der Rechtschreibreform, eine kleine Dokumentation gewidmet.
Dabei fiel mir wieder auf, wie verführerisch seinerzeit das phantasielose Argument gewirkt hat: Wenn wir die Reform aufgeben, müssen wir wieder alle Haarspaltereien des alten Duden auf uns nehmen. Im Rückblick wird mir viel klarer, daß ich eigentlich hauptsächlich gegen diesen Gedanken angekämpft habe, mit viel Mühe sogar gegenüber manchen Mitstreitern, deren Widerstand gegen die Reform mit einer gewissen (oft sich selbst nicht ganz richtig einschätzenden) Anhänglichkeit an den alten Duden zusammenfiel.
Hätte ich das damals klarer gesehen, hätte ich vielleicht meine Strategie geändert und das Hauptgewicht auf etwas anderes gelegt. Ich glaubte, mit der Vorlage eines eigenen Wörterbuchs genug geleistet zu haben, und z. B. die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung war ja auch von dem Konzept einer Orthographie ohne Duden überzeugt, bevor sie kalte Füße bekam und Peter Eisenberg mit der Rettung der Reform beauftragte.



Diesen Beitrag drucken.

Kommentare zu »Jenseits des „Duden“«
Kommentar schreiben | älteste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.07.2018 um 03.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#39073

Eines der schwierigsten Wörter ist Rhythmus, es wird auch in der Fachliteratur oft falsch geschrieben. Besonders wenn es eingebaut ist wie in Herzrhythmusstöruungen. Zum "Einbläuen" kommt es wiederum nicht oft genug vor.

Noch seltener, eigentlich nur in Fachtexten, aber fast immer falsch geschrieben: Monophthong, Diphthong. Aus einer neuen Schrift:

Durch die Monophtongierung wurde aus dem Dipththong...

Tröstlicherweise könnte man das dem Rechtschreibprogramm überlassen, denn nachzudenken gibt es hier ja nichts. Eine Reform (rütmus) ist nicht nötig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.11.2016 um 12.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#33758

Wahrscheinlich aus früheren Auflagen übernommen, wie so oft. Bei Wikipedia findet man noch eine weitere Variante, die ich noch gelesen habe – aber nur, weil ich z. B. dies nicht kannte:

Du wirst aus meinen älteren Briefen wissen, daß, nachdem wir ein halbes Jahr in den Volkanen zu Quito zugebracht, und fast die Spitze des Tschimborasso erstiegen haben, wir zu Kuenka und Loxa gewesen sind, um dort die Cinchona-Arten zu studieren. (Alexander von Humboldt an Karl Ludwig Willdenow, 29.4.1803)

Die Schreibweise geographischer Namen hat sich ja auch in den Zeitungen ziemlich verändert, z. B. schrieb die FAZ Anfang der 50er Jahre Neuyork, das man heute überhaupt nicht mehr findet.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 03.11.2016 um 11.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#33757

Wörterbuch-schlimm ist nicht die Schreibweise an sich, aber doch die Tatsache, daß der Duden Chimborazo überhaupt nicht zu kennen vorgibt. Bei der Suche nach Chimborazo gibt Duden online die Antwort: Leider haben wir zu Ihrer Suche nach 'Chimborazo' keine Treffer gefunden. Oder meinten Sie: Chimborasso?

Jeder schreibt heute mit z, niemand schreibt mit ss. Duden stellt es genau umgekehrt dar. Wenn der Eintrag Chimborazo lauten würde, kann der Duden ja meinetwegen Chimborasso mit erwähnen, und zwar mit der Kennzeichnung "veraltet". Aber wem sage ich das.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.11.2016 um 09.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#33756

Nein, das habe ich nicht gewußt, aber so schlimm scheint es auch wieder nicht zu sein. Chimborasso steht auch in anderen, auch älteren Wörterbüchern und als Variante im Großen Brockhaus, und wenn man bei Wikipedia nachliest, ist es ja sowieso nur eine mehr oder weniger geschickte Transkription aus den Sprachen der Einheimischen. Das werden wir nie hinkriegen, aber das braucht auch nicht unser Ehrgeiz zu sein.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 03.11.2016 um 09.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#33755

Apropos jenseits des Duden. In einer Fernsehsendung über Alexander von Humboldt war vom Chimborazo die Rede, Aussprache "Tschimboratzo". Ich vermute mal, das ist die übliche Aussprache im Deutschen, außer bei Spanisch-Könnern. Aber was gibt eigentlich der Duden als Aussprache an? Ich sah nach und oh Schreck: Ich wußte gar nicht, wie der Duden den Namen angibt. Ich hätte es nicht einmal geahnt. (Wußten Sie es, lieber Herr Ickler?) Mit solchen Einträgen befördert sich der Duden selbst ins Jenseits. Komisch, daß die Leute immer meinen, Duden sei die Autorität schlechthin.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.05.2016 um 09.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#32653

Im genannten Aromagarten der Universität findet man die unglaublichsten orthographischen Fehler gedruckt und gestanzt auf den Schildern zu einzelnen Gewächsen, besonders seit 2010. rau ist reformiert geschrieben, sähen mit dem h, an das man sich beinahe schon gewöhnt hat.
Um den inflammablen Diptam macht meine Frau einen Bogen, aber ich glaube, es muß erst sommerlich heiß werden, bevor er zu brennen anfängt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.04.2016 um 10.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#32411

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17090

Ein Viertel aller Deutschen hat mindestens einen Band "Harry Potter" gelesen, kennt daher den einst vom Duden vergessenen Diptam (engl. dittany). Daran mußt ich vor ein paar Tagen denken, als wir durch den schönen Aromagarten der Universität schlenderten. Der Diptam war gerade sehr kräftig herausgekommen; er ist ja in freier Natur sehr gefährdet (ich habe sonst noch nie welchen gesehen). Überall wird hervorgehoben, daß er sich gelegentlich selbst entzündet, aber hat das schon mal jemand beobachtet?

Zurück zur Zauberei! Es ist ja bemerkenswert, wie die Literatur manchmal den Wortschatz durch neue oder wiederbelebte Wörter bereichert. Außer ein paar Botanikern und Apothekern (und mir!) hatte ja niemand etwas von Diptam gehört, nicht einmal der Duden. In "Harry Potter" wirkt es, jedenfalls auf mich, sehr erheiternd, daß ganz gewöhnliche Pflanzen mit magischen Kräften aufgeladen werden, entsprechend den mehr oder weniger schnittigen Reisigbesen, die in einer transtechnischen Welt als Fortbewegungsmittel dienen. Alles wie bei unseren Urgroßmüttern, den Hexen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.10.2015 um 05.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#30274

Von der Frankfurter Buchmesse:

Und jetzt ab zu den irdischen Wundern. Morgen Seoul mit einem Besuch bei Hwang Tong-gyu, dem Dichter, dem man in der Asienhalle nicht entkommt. (Gregor Dotzauer im Tagesspiegel 16.10.15)

Schön, daß er mal erwähnt wird, aber das Ganze stimmt natürlich nicht. Meister Hwang war genau eine Stunde auf der Buchmesse, zu einem Podiumsgespräch mit Katharina Borchardt (wir beiden Übersetzer waren auch da), und das Regal des kleinen, aber mutigen Ostasien-Verlags mit den beiden bisher erschienenen Lyrikbänden konnte man auch leicht übersehen.

Ein Gewinn beim Buchmesse-Besuch besteht im Zurechtrücken der Proportionen (falls nötig). Kochbücher sind weiterhin der Renner. Große Menschenmenge bei einer trivialen Kochschau vor Miele-Kulisse. Versehentlich fiel eine Aubergine ins Publikum, hahaha!

Hunderte von Cosplayern belebten das Bild, das war mir neu. Auch sonst viel Jugend, viele Kinder, das ist doch ganz erfreulich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.09.2015 um 17.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#29934

Denkste! Wir haben noch Hunderte von Verbesserungen angebracht, nicht zuletzt dank der Genauigkeit unserer strengen Verlegerin, aber nächste Woche kommt der Gedichtband wirklich und wahrhaftig heraus (ISBN 978-3-940527-90-5) Am 16. Oktober ist eine Autorenlesung mit Hwang Tong-gyu in Berlin, ich sollte eigentlich den deutschen Teil lesen, bin aber verhindert. Also wenn ihr schon jetzt den künftigen Literaturnobelpreisträger sehen wollt, nix wie hin!

Der nächste Band ist auch fast fertig und erscheint im Frühjahr: "Es gab auch die Zeit, da ich mich an den Zufall lehnte". Der vierte heißt "Freude am Leben" und ist, na ja, auch fast fertig. Da wird die Stimmung etwas heller sein, obwohl es natürlich ebenfalls ums Sterben geht.

Komisch: Ich feiere seit Jahrzehnten die Erfindung der Prosa und dann insbesondere der Fachprosa als größten Triumph der Menschheit, und dann beschäftige ich mich die Hälfte meiner Zeit mit Lyrik!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.07.2015 um 14.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#29490

So, jetzt haben wir den zweiten Band von Hwangs Gedichten fertig, und zur Buchmesse werden sie erschienen sein. Hwang kommt übrigens auch nach Frankfurt, wenn seine Gesundheit es zuläßt, und ich werde auch dort sein, wenn ihr eure Exemplare bestellt. Hier ist das Titelgedicht:


Winternacht 0 Uhr 5 Minuten

Zu den Sternen aufblickend ging ich zu Fuß.
An der Haltestelle beim Hintereingang des Apartmentsgeländes war ich aus dem Pendelbus gestiegen,
wollte die Straße überqueren, ging aber weiter.
Die Geschäfte ließen die Gitter herab, als wollten sie die Kälte in ihrem Innern verbergen.
Der Schnee, der gegen Spätabend eine Weile fiel, aber bald aufhörte,
ließ auch jetzt noch ein paar weiße Federn im Wind fliegen.
Die Stäube müßten sich für eine Weile gelegt haben.
Seit wann ist das? Den Mantel hochschlagend, sammelte ich mich ein wenig
und ging zu Fuß, zu den Sternen aufblickend, eine Station weiter bis zur letzten Haltestelle.

An der letzten Station des Pendelbusses, auf einer Seite des kleinen dreieckigen Platzes
ist ein Eisenwarenladen abgerissen worden,
der bis vor kurzem draußen am Fenster Scheren und Messer
büschelartig wie Barockmusik aufgehängt hatte,
und ist ein Zentrum für landwirtschaftliche Erzeugnisse „Gehen wir aufs Feld“ eingerichtet.
Im Gebäude brennt kein Licht, die Torlampe beleuchtet das Ladenschild.
Auf der anderen Seite schließt gerade die „Silla Bäckerei“.

An der Ecke, an der die letzte Seite beginnt,
eine Frau, die verstohlen immer wieder auf ihr Handy blickt,
als wartete sie auf ihre Tochter oder ihren Mann, die mit dem letzten Bus kommen sollten,
groß und mit leicht krummer Hüfte,
sie murmelt etwas hersagend mit kaum hörbarer Stimme.
Ich stehe neben ihr, als wäre ich mit ihr bekannt,
und schaue in den Himmel auf, mir die Hände reibend.
Am Himmel, der aussieht, als hätte es an ihm leicht gereift und dann aufgehört, dort der Große Wagen,
dort die Kassiopeia, und, ah, der Orion,
sie alle wurden nicht in einzelne Sterne auseinandergerissen, sondern blieben am Leben!

Die Frau sagt kaum hörbar, aber entschieden,
„Schluß jetzt, ich sterbe.“
Das blasse Gesicht, das die Straßenlaterne sanft beleuchtet,
an ihm haftet kein Zug von Mordlust, das beruhigt mich einigermaßen.
Ich wiederhole auch einige Male im Innern, „Komm nur schon!“

Ein Stern fragt, sanft aufstrahlend,
„Worauf wartet ihr? Auf einen Menschen, der vielleicht nicht kommen wird?
Eine Welt, in der es keine Finsternis gibt? Eine Welt, in der die Stäube sich gelegt haben?
Auch das Leben eines Kometen,
der in der Finsternis seinen staubigen Körper gefrieren und schmelzen lassend das Licht ausstrahlt,
wäre doch ein Geschmack von Leben.“
Hat sich da jemand geräuspert?
Wenn keiner neben mir da gewesen wäre, hätte ich beinahe ausgesprochen, jedes Wort deutlich markierend:
„Neben einem, der inständig auf etwas wartet,
redet man nicht über die Finsternis oder das Licht!“
Die Sterne flimmerten wie durch eine Taucherbrille, hielten dann inne.

Gleich wird der letzte Bus kommen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.04.2015 um 07.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#28599

Auf flispern würde ich gern zurückgreifen angesichts der Aufgabe, das Geräusch zu beschreiben, das Graupelschauer auf trockenem Laub verursachen. Sogar den Schnee kann man ja fallen hören, wenn man im tiefen Wald oder im Hochgebirge mal das Glück hat, keinen fernen Straßen- oder Flugzeuglärm hören zu müssen. Kennen Sie das noch? Das Graupelgeräusch hat etwa ähnlich Ungreifbares, Unkörperliches wie das Rauschen des Meeres. Keine identifizierbare Tonhöhe und keine Richtung, und wie laut es eigentlich ist, kann man in beiden Fällen auch nicht sagen. Vielleicht wispern die Graupelkörnchen auch. (Ich sitze natürlich am zweiten Band der Gedichtübersetzungen aus dem Koreanischen: Winternacht 0 Uhr 5 Minuten.)
 
 

Kommentar von KLaus Achenbach, verfaßt am 27.11.2010 um 00.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17340

Lieber Herr Wrase,

Sie sagen:

"Bei gar_nicht geht es um eine andere Schublade, das wurde ebenfalls hier bereits besprochen. Aber Sie haben recht, außerhalb professioneller Texte ist die Zusammenschreibung durchaus verbreitet. Das habe ich nicht bestritten, sondern stets gesagt, in besseren Texten sei der Anteil sehr gering. Man könnte es als Zweifelsfall ansehen, je nachdem, welche Texte man als Quellen ernst nimmt. Die Entscheidung bleibt dem Wörterbuchverfasser vorbehalten."

Da sind wir uns ja wirklich mal einig. Ich schlage deshalb vor, das Thema gar_nicht auf sich beruhen zu lassen, zumal es nur vom Hauptthema der Verbzusätze ablenkt. Ich war ja überhaupt erstaunt, ja erschrocken, welch eine Diskussion sich an etwas, das aus meiner Sicht eine bloße Randbemerkung in einem ganz besonderen Zusammenhang war, entzündet hat.

Sie sagen:

"Die Texte solcher Gesetze wie des Einkommensteuergesetzes sind sehr sorgfältig geschrieben. ... Ihre Schlußfolgerung, das seien Texte von niedriger Qualität, ist völlig daneben."

Ich habe niemals generell eine solche Schlußfolgerung gezogen. Allerdings habe ich gesagt, daß eine uneinheitliche Schreibung in ein und demselben Gesetz "nicht gerade ein gutes Zeugnis" für die Sprachprüfung durch die beteiligten Ressorts sei.

Die Schreibung zusammenveranlagt werden taucht nur in § 10d EStG auf. Genauer heißt es dort "bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b zusammenveranlagt werden". In § 26 heißt es aber "Ehegatten werden zusammen veranlagt, ...". Das ist ja wohl kein gutes Beispiel für eine einheitliche Gesetzessprache.

Sie sagen ferner:

"Ihre Recherche zeigt nur, daß sich zusammen_veranlagen ebenso gut getrennt wie zusammen schreiben läßt."

Das bestreite ich. Daß sich das aus zwei Fundstellen im EStG belegen ließe, bezweifle ich. Jedenfalls habe ich keine weiteren Fundstellen in "guten Texten" gefunden.

Apropos: ich halte den Icklerbogen bei ebenso_gut für sehr angemessen, die Unterscheidungen des Duden dagegen für reichlich abstrus.

Sie sagen:

"Texte, die meine Kollegen bei der "Zeit" bearbeitet haben, sind in orthographischer Hinsicht sterilisiert worden. Nach diesem strengen Bereinigungsprozeß gibt es nur noch jämmerliche Reste der ursprünglichen Vielfalt."

Im Grundsatz stimme ich mit Ihnen auch darin überein. Allerdings heißt das nicht, daß die Texte der ZEIT einfach ignoriert werden könnten. Vielmehr müßten selbst dort vorkommende Abweichungen von der Dudennorm gerade stärker gewichtet werden als in irgendwelchen Texten im Internet. Ob die Texte der SZ anders beurteilt werden sollten, weiß ich nicht. Das wird hier ja bestritten. Solange wir keinen SZ-Korpus haben, bleibt aber alles spekulativ.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 25.11.2010 um 17.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17331

Lieber Herr Wrase,

auch wenn es nicht mehr ganz zum Thema gehört: Prägend für mein Bild des Korrektors ist ein Auftritt, den ich als Volontär in der Schlußredaktion erlebte. Der Mann hüpfte umher und rief „Da-da, da-da“, während er mit dem Zeigefinger der einen Hand auf den Deckel eines gelben Buches klopfte, das er mit der anderen Hand festhielt: „Da-da, was da drinsteht, das gilt!“ Offensichtlich hatte er als Zweitkorrektor einen Kollegen bei einer dudenwidrigen Erstkorrektur ertappt und war darüber mit ihm in Streit geraten. Er war sicherlich sehr gewissenhaft, aber sein Kollege muß es deshalb nicht weniger gewesen sein. Und „unterbelichtet“ war dieser selbst dann nicht zwingend, wenn er einen Bock vom Typ *Harfinistin geschossen gehabt haben sollte.

Ich bezweifle, daß Korrektoren über ein Geheimwissen verfügen, das sie den gewöhnlichen Bedingungen des Umgangs mit Orthographie entzieht. Auch ihnen müssen Zweifel kommen, damit sie einen Zweifelsfall als solchen wahrnehmen und nachschlagen, und auch sie werden in ihnen unzweifelhaften Fällen ein vermeintlich falsch geschriebenes Wort, das sie in Wirklichkeit bloß nicht kennen, durch ein anderes Wort ersetzen, das sie kennen oder zu kennen glauben. Aus diesem Grunde ist es durchaus üblich, gerade Texte, bei denen es auf Feinheiten besonders ankommt, unter Umgehung des Korrektorats freizugeben, sie nachzukontrollieren oder sie wenigstens dem Schlußredakteur noch einmal ans Herz zu legen. Das geht jetzt nicht gegen die Zeitungskorrektoren und schon gar nicht gegen Sie, Herr Wrase: Zeitdruck ist jedenfalls nicht die Fehlerquelle, die auf diese Weise ausgeschaltet werden soll.

Trotzdem sind Korrektoren natürlich sehr nützlich, und trotzdem spielt Zeitdruck natürlich eine erhebliche Rolle. Aber diese Rolle spielt er deshalb, weil der Korrekturaufwand, wie Sie zutreffend feststellen, letztlich eine wirtschaftliche Frage ist. Zum Beispiel ließ sich auch früher sogar ein vierseitiges spät angeliefertes Papiermanuskript mühelos bewältigen, wenn man es an vier Tasterinnen verteilte, deren Arbeitsergebnisse dann von vier Korrektoren in Ordnung gebracht und abschließend zusammengeführt wurden. Der Verlag mußte halt nur gewillt sein, das erforderliche Personal zu bezahlen. Das war aber schon immer so, und daran hat sich durch die Digitalisierung der Textbearbeitung nichts geändert.

Richtig ist, daß die Einführung von Redaktionssystemen Einsparungen im Korrektorat erlaubte, richtig ist, daß das Einsparpotential von den meisten Verlagen weit überschätzt wurde, und richtig ist, daß dies auch für die Süddeutsche Zeitung gilt. Richtig ist ferner, daß eine Wochenzeitung unter der Bedingung kontinuierlicher Textanlieferung kostengünstiger korrigieren lassen kann als eine Tageszeitung.

Richtig ist jedoch ebenfalls, daß es auch für Wochenzeitungen einen Andruck gibt und daß auch ihr Korrekturaufwand Geld kostet. Insoweit folgt aus der Unterscheidung von Tages- und Wochenzeitung allein noch nichts für die Qualität der jeweiligen Korrektur. Und zumindest nicht erwiesen ist Ihre Annahme, die Süddeutsche Zeitung sei im fraglichen Zeitraum ohne Korrektoren produziert worden. Vielmehr entstanden wenigstens vier von sechs einschlägigen Jahrgängen unter Mitwirkung eines klassischen Korrektorats in unveränderter Stärke. Ich sehe nicht, warum mir der leitende Schlußredakteur einen Bären aufgebunden haben sollte, denn daß das Korrektorat ab 1998 aufgelöst wurde, hat er selbst bereitwillig erzählt, und daß dies aus wirtschaftlichen Gründen geschah, versteht sich von selbst.

Auf diesen bescheidenen Hinweis hatte ich hinausgewollt: Es mag ja sein, daß die fraglichen Texte in der Süddeutschen Zeitung sich grundsätzlich von anderen vorreformierten Zeitungstexten im allgemeinen und von denen der „Zeit“ im besonderen unterscheiden – aber nicht im Sinne der von Ihnen angeführten Begründungen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 25.11.2010 um 12.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17327

Lieber Herr Wrase,

nach wiederholtem Lesen Ihres Beitrags ziehe ich meine Bemerkung zum Statistikfälschen zurück.

Ich hatte übrigens das Suchergebnis bei der SZ für so unwahrscheinlich gehalten, daß ich es mir nicht näher angeschaut haben. Ich glaubte meinen Hinweis darauf durch zweimaliges Verwenden des Wortes "Kuriosum" hinreichend gegen Mißverständnisse abgesichert zu haben. Offenbar nicht.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 25.11.2010 um 00.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17322

Lieber Herr Wrase,

warum teilen Sie denn nicht einfach die Ergebnisse Ihrer Recherche mit? Die sprechen doch für sich selbst. Warum müssen Sie damit noch Vorwürfe verbinden. Ich hoffe, ich habe Ihre Äußerungen zur Fälschung von Statistiken falsch verstanden. Sonst wären sie ehrenrührig.

Ich verstehe nicht, warum Sie einen solchen Ton in die Diskussion bringen, der in diesem Forum sonst völlig unüblich ist.

Aber zurück zur Sache:

Verstehe ich Sie nun recht, daß es Ihnen völlig gleichgültig ist, ob die von Ihnen genannten Beispiele wie zusammen treten u. a. nun häufig, selten oder ganz selten auftreten, sondern daß es Ihnen nur darum geht, daß Sie überhaupt auftreten? Wenn ja, wären wir ja schon einen Schritt weiter.

Allerdings verstünde ich dann nicht recht Ihr Argument mit der "überkorrigierten" ZEIT.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.11.2010 um 09.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17310

Ich beteilige mich nur gelegentlich und halbherzig an dieser Diskussion, weil sie an meiner Vorstellung von einem Rechtschreibwörterbuch vorbeigeht. Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit der Frage der Grundwortschatzselektion in Allgemein- und Fachsprache bin ich davon abgekommen, die Statistik (in diesem Punkt!) allzu wichtig zu nehmen. Ich habe also die Frage der Repräsentativität sehr nachlässig gehandhabt, wenn man so will.

Das Zeitungskorpus (FAZ 1996, SZ 1994-1999) habe ich sehr oft durchforstet, aber nicht wegen der Prozentzahlen, sondern als Rückversicherung, daß bestimmte Schreibweisen tatsächlich vorkommen. (Aber wie gesagt: Zeitungen waren keineswegs meine einzige Quelle, ich habe auch sämtliche Gesetze nach Schönfelder auf CD-ROM, dazu natürlich Gutenberg-Projekt und vieles andere.) Hinzu kommt die Frage der grammatischen Möglichkeit und dann vor allem das oft erwähnte Prinzip, die geschlossenen Listen möglichst klein zu halten.
Der Verzicht auf eindeutige Festlegung an jenen Stellen, wo überhaupt ein begründeter Zweifel möglich ist, ist gerade der Grund für die große Erleichterung gegenüber dem alten Duden – bei gleichbleibender Textqualität. Anders gesagt: Wenn man erst komplizierte statistische Erhebungen anstellen muß, um festzustellen, welche Schreibweise überwiegt, dann mag man für andere Zwecke wichtige Arbeit leisten, aber nicht für ein Rechtschreibwörterbuch. Mein Wörterbuch ist kein Spiegel der Sprachstatistik. Das habe ich übrigens jederzeit und auch im Vorwort (S. 11) deutlich gesagt.

Mir scheint, daß der Zweck eines Rechtschreibwörterbuchs, nämlich grammatisch richtige und orthographisch unauffällige Texte zu erzeugen, manchmal ein bißchen aus dem Auge verloren wird.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 24.11.2010 um 04.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17309

Lieber Herr Bärlein,

mir ist nicht präsent, welche Jahrgänge Professor Ickler mit welcher Priorität untersucht hat, und Ihr Beitrag klingt so, als ob Ihnen das auch nicht bekannt ist. Konnte er seine Jahrgangs-CDs als Komplett-Datei zusammenfassen? Das spielt eine große Rolle, sonst hätte er ja jede Abfrage vielfach laufen lassen müssen, um das ganze Material auszuschöpfen. Wie war es denn, Meister?

Mag sein, daß ich nicht einschätzen kann, was "zeitungsübliche Korrektur" ist, obwohl ich selber sage, in meiner Branche gehe es sorgfältiger zu als in irgendwelchen Verlagen. Sie wissen besser als ich, wie es in Zeitungshäusern aussieht, wobei ich mich bei Ihren gelegentlichen Spitzen gegen Korrektoren, die aus einer Harfenistin eine Harfinistin machen, doch ein wenig wundere: Sind die wirklich so unterbelichtet?

Was nun den Korrekturanteil im Material von Professor Ickler angeht, könnte ich mir vorstellen, daß Sie die Angaben Ihres Informanten nicht ganz wörtlich nehmen müssen. Mir hat mein Gesprächspartner damals gesagt, die Eliminierung der Korrektoren aus der redaktionellen Arbeit habe allein wirtschaftliche Gründe. Solche Rationalisierungsmaßnahmen aus Kostengründen werden doch normalerweise, wenn möglich, zunächst schleichend angegangen. Da wird eben (meine Vermutung) auch schon im Vorfeld von Jahr zu Jahr weniger korrigiert, und man ist um jeden Mitarbeiter froh, der von sich aus geht, bevor der harte Schnitt vollends durchgesetzt wird.

Wir wissen doch, wie schlampig die Rechtschreibung in Büchern aussieht. Daß eine Tageszeitung, die neben dem Kostendruck auch noch einem gewaltigen Zeitdruck ausgesetzt ist, von vorne bis hinten ein sauberes Korrektorat durchzieht, ist zu bezweifeln. Rubriken mit wenig Lesern, spät eingereichte Texte oder ein Redakteur, von dem es heißt, er könne schon selber gut genug schreiben – Anlaß für Einsparungen gibt es genug.

"Erstens stand über den ganzen Zeitraum hinweg das alte Korrektorat der Redaktion noch in vollem Umfang zur Verfügung" – hinter solche Aussagen setze ich ein kleines Fragezeichen. Vor allem denke ich mit gesundem Menschenverstand, daß bei einer Tageszeitung zwangsläufig sehr viel mit der heißen Nadel gestrickt wird und optimale Abläufe nicht immer eingehalten werden können. Da wird es Platz für manchen Artikel gegeben haben, der eine Zubereitungsstufe weniger durchlaufen hat, als es im Kochbuch steht.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 24.11.2010 um 03.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17308

Lieber Herr Achenbach,

ich hätte es auf sich beruhen lassen, wenn nicht auch noch Herr Bärlein Ihre Mitteilung abgesegnet hätte, nachdem er auf sie hereingefallen war. Wenn Sie nur ein bißchen hinsehen, müssen Ihnen doch zum Beispiel die inkompatiblen Zeiträume auffallen, und Sie können dann nicht einfach die Zahlen 1:1 nebeneinanderstellen. Wer fälscht denn sonst derart grobschlächtig eine Statistik?

Mit einer unglaublichen Akribie gehen Sie sonst vor, um irgendwelche Gegenargumente zu stützen oder zu konstruieren. Kaum geht es um Ihr geliebtes garnicht oder sonstige Steckenpferde, setzen Sie sich selber Scheuklappen auf. Das hatten wir beim DWDS auch schon, als ich die zeitliche Aufschlüsselung nachreichen mußte, aus der sich das gegenteilige Bild ergab. Plötzlich räumten Sie ein, dasselbe sei Ihnen auch schon aufgefallen. Ach so?! Aber Sie haben es verschwiegen, weil es für Sie ungünstig ist? Nach dem Motto: Mal sehen, ob die anderen drauf kommen, daß Sie schief argumentieren, man kann es ja mal versuchen.

Und hier genügt ein saloppes "Nur so als Kuriosum", um einer kritischen Rückmeldung vorzubeugen. Daß irgendwo ein Gleichstand der Schreibungen ausgeworfen wird, muß ja unbedingt mitgeteilt werden. Da können Sie sich nicht zurückhalten, und Details spielen dann plötzlich keine Rolle mehr. Warum eigentlich so bescheiden? Sie hätten auch gleich interpretieren können, daß im SZ-Fundus ab dem Jahr 2001 fünf Jahre lang ausschließlich die Zusammenschreibung garnicht vorkommt und überhaupt keine Getrenntschreibung gar nicht. Das hätten Sie doch verkünden können, inklusive Kommentar "Nur so als Kuriosum".

Jetzt bleibt Ihnen der Triumph, mir vorzuhalten, ich hätte Ihnen einen Strick gedreht, nachdem Sie mich gebeten hatten, es zu unterlassen. Mein charakterliches Versagen müssen Sie natürlich ebenfalls feststellen. Ich frage mich immer wieder: Was wollen Sie hier eigentlich?

PS: Dieselbe Recherche im Fundus des SPIEGEL, nur die Online-Texte, Zeitraum "letztes Jahr", ergibt für die Getrenntschreibung 2818 Treffer und für die Zusammenschreibung 1 Treffer.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 23.11.2010 um 21.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17305

"Wichtiger wäre die Frage, wie stark denn nun die Korrektoren in den Jahrgängen mitgemischt haben, die Professor Ickler ausgewertet hat. Das werden wir nicht herauskriegen. Offenbar aber nicht allzu stark, und das ist auch wichtig, sonst hätte Professor Ickler nicht so viele Abweichungen von der Duden-Norm feststellen können." (Wolfgang Wrase)

Hier, lieber Herr Wrase, erliegen Sie einem Zirkelschluß. Sie setzen voraus, daß es bei zeitungsüblicher Korrektur weniger Abweichungen von der Dudennorm geben hätte, und folgern daraus, daß bei der SZ nicht bzw. nur nachlässig oder eingeschränkt korrigiert wurde. Der Punkt ist aber doch, daß die "normale Rechtschreibung" nicht mit der alten Dudennorm übereinstimmt, den auf diese gedrillten Korrektorentrupps zum Trotz – und das nicht nur bei der SZ. Sympathischerweise sind auch Korrektoren keine Automaten.

Im übrigen habe ich mich wohl nicht präzise genug ausgedrückt. Daß der Jahrgang 1994 nicht korrekturgelesen ist, ist allein schon technisch unmöglich. Daß die Jahrgänge 1995, 1996 und 1997 in zunehmendem Umfang nicht korrekturgelesen sind, ist zwar technisch denkbar. Einer solchen Annahme steht jedoch zweierlei entgegen. Erstens stand über den ganzen Zeitraum hinweg das alte Korrektorat der Redaktion noch in vollem Umfang zur Verfügung. Und zweitens: Hätte es in dieser Zeit auch nur einen ernsthaften Probelauf für die Produktion einer nichtkorrigierten Zeitung gegeben, dann hätte der Verlag sich vermutlich die Eselei gespart, ab 1998 das Korrektorat für die Redaktion vollständig aufzulösen.

Bleiben der Jahrgang 1998 und sieben Zwölftel des Jahrgangs 1999. Soweit sie Bestandteil des Icklerschen Korpus sein sollten, war meine Behauptung, diesem lägen ausschließlich korrekturgelesene Texte zugrunde, zugegebenermaßen zu forsch. Sie war übrigens schon deshalb zu dick aufgetragen, weil auch in einer Zeitung mit Korrektorat immer wieder nichtkorrigierte Texte (Kommentare, Glossen, späte Eilmeldungen) Platz finden. Beides dürfte jedoch nicht allzusehr ins Gewicht fallen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 23.11.2010 um 21.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17304

Lieber Herr Wrase,

nun drehen Sie mir doch einen Strick daraus. Ich habe es ja befürchtet.

Was immer ich auch sage, wie vorsichtig ich mich auch ausdrücke, Sie scheinen immer einen Hintergedanken, irgendeine Schlechtigkeit, einen Angriff auf Prof. Ickler, ja eine Majestätsbeleidígung darin zu entdecken.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 23.11.2010 um 17.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17303

Suche ich auf der Internetseite der SZ nach gar nicht/garnicht, erhalte ich für gar nicht 23 Resultate, für garnicht 21. Wie gesagt, nur ein Kuriosum." (Klaus Achenbach)

Ja, das ist kurios. Man könnte ja mal genauer hinsehen. Die 23 Fundstellen für gar nicht reichen bis September 2006 zurück. Die 21 Fundstellen für garnicht reichen bis August 2001 zurück. Warum die verschiedenen Zeiträume??? Und was sind denn das für Anzahlen?? Allein in der aktuellen SPIEGEL-Ausgabe sind 18 gar nicht enthalten, in der vorigen waren es 15. Macht ca. 2,5 Ausgaben, um auf dieselbe Anzahl zu kommen, wie angeblich im Fundus der Süddeutschen Zeitung aus mehr als 4 bzw. mehr als 9 Jahren auffindbar sind, im Schnitt also aus angeblich 6,5 Jahren täglicher Textproduktion für das Online-Angebot. Das haut hinten und vorne nicht hin. Aus solchen lückenhaften und inkonsistenten Daten mit undurchschaubarer Erzeugung kann man kein seriöses Bild gewinnen. Aber eine Meldung von Herrn Achenbach war es natürlich wert.

Ansonsten vielen Dank für die Recherche, Herr Bärlein. Mein Telefonat fand wahrscheinlich im Sommer 2000 statt, als ich die Untersuchung der SZ-Ausgaben machte. Vielleicht sagte der Kollege so etwas wie "Wir lesen alle schon längst nur noch Werbung", und ich hatte es nicht mehr genau im Kopf. Das paßt jedenfalls schon einigermaßen mit Ihrer Auskunft zusammen.

Wichtiger wäre die Frage, wie stark denn nun die Korrektoren in den Jahrgängen mitgemischt haben, die Professor Ickler ausgewertet hat. Das werden wir nicht herauskriegen. Offenbar aber nicht allzu stark, und das ist auch wichtig, sonst hätte Professor Ickler nicht so viele Abweichungen von der Duden-Norm feststellen können. Falls man da improvisiert hat (nur das Wichtigste, nur wenn es zeitlich noch reinpaßt usw.), wird das der Leiter der Schlußredaktion natürlich nicht so lebensnah schildern. Er möchte ja ein seriöses Bild von seinem Haus vermitteln.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 23.11.2010 um 13.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17297

"Suche ich auf der Internetseite der SZ nach gar nicht/garnicht, erhalte ich für gar nicht 23 Resultate, für garnicht 21. Wie gesagt, nur ein Kuriosum." (Klaus Achenbach)

So kurios ist das gar nicht. Es handelt sich eben um Texte der Online-Ausgabe, die nicht oder kaum korrigiert sind.

Laut telefonischer Auskunft von Fritz Elster, Leiter der Schlußredaktion, führte die Süddeutsche Zeitung ab 1995 ein Redaktionssystem ein, ein Vorgang, der sich über drei Jahre hinzog. Erst danach, also 1998, folgte die Auflösung des alten Korrektorates über weitere zwei Jahre hinweg, und zwar unter Ausnutzung von Alters- und sonstiger Fluktuation, wobei die verbliebenen Korrektoren der Anzeigenabteilung zugeordnet wurden.

Insoweit ist also nicht falsch, was Herrn Wrase seinerzeit von einem Kollegen berichtet wurde: Es gab in der Tat, beginnend um die Jahrtausendwende, ein Zeitfenster, in dem die Redaktion der SZ ganz ohne Korrektoren dastand. Freilich, so Elster, habe man bald gemerkt, daß das nicht funktioniert. Seitdem übernimmt eine zunehmend erweiterte Schlußredaktion die Funktion des alten Korrektorats.

Allerdings, so muß man schließen, besteht das dem "Ickler" zugrundeliegende Korpus ausschließlich aus klassisch korrigierten Texten.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 23.11.2010 um 13.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17296

Herr Ickler schreibt ja unter anderem in seinem Wörterbuch, daß sich bei so daß Zusammenschreibung anbahnt, und damit hat er natürlich nicht Österreich gemeint. Darauf hat sich Herr Achenbach bezogen. Die Reformer haben die zusammengeschriebene Variante auch für Deutschland »zugelassen«. Ich habe allerdings den Eindruck, daß sie schon wieder auf dem Rückzug ist und heute vor allem in Texten vorkommt, deren Verfasser »maximal reformiert« (bei Dudens würde man sagen: progressiv) zu schreiben wild entschlossen sind (so genannt, fertig gestellt, aufwändig, vor Kurzem, sodass usw.).
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 23.11.2010 um 11.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17292

Lieber Herr Markner,

daran ist nichts schwer zu verstehen.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 23.11.2010 um 09.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17291

Auch ich meine, daß die Fehlerrate in Printmedien vorreformatorisch geringer war. Andererseits würde es mich wundern, wenn nicht auch Printmedien heute nach der 80/20 Regel vorgingen.
Und das Ergebnis gibt ihnen recht. Ich hab in der breiten Masse noch nie von Klagen über die Rechtschreibung in Printmedien gehört.
Natürlich kann eine Software keinen Korrektor ersetzen, aber Software plus Redakteur sollten normalerweise für 80 % genügen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 23.11.2010 um 08.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17290

Die Schreibung sodaß war in vorreformatorischer Zeit nicht einfach bloß »unkonventionell«, sondern vielmehr im österreichischen Schreibgebrauch weit verbreitet und durch das ÖWB auch sanktioniert. Was ist daran so schwer zu begreifen?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 23.11.2010 um 04.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17289

Lieber Herr Achenbach,

Ihre Recherche zu zusammentreten bestätigt meine eigene Einschätzung. Ich habe dem Ergebnis deshalb auch nicht widersprochen, sondern sogleich nach der Konsequenz gefragt, die der Befund haben soll. Ich hatte ja zuvor auch nur gesagt, daß es die Getrenntschreibung sehr wohl gab. Ich habe keine Schwierigkeiten mit dem geringen Anteil der Getrenntschreibung in Ihrem Einzelfall, sondern damit, daß Sie die weitere Argumentation hartnäckig oder sogar bewußt ausblenden.

Sie können ja gerne mit diesem statistischen Vorgehen zum Beispiel bei zusammen... eine Wörterbuchstrecke verfassen, in der überwiegend Zusammenschreibung und einige Male dazwischen der Bogen angegeben ist. Wie Sie das genau ausgestalten würden, muß man Ihnen überlassen. Bitte führen Sie es vor! Ich fordere Sie noch einmal dazu auf. Dann erst stellt sich die Frage, ob das Ergebnis gefällt: ob es verständlich, sachgerecht und zweckdienlich ist, ob es unter dem Strich eine Verbesserung im Vergleich zum Ickler wäre.

Es ist doch schon hundertmal klargemacht worden, daß es im Ickler-Wörterbuch auch und durchaus vorrangig um eine nutzerfreundliche Darstellung geht. Es geht eben nicht um eine rein statistische Entscheidung bei jedem einzelnen möglichen Eintrag.

Warum ignorieren Sie zum Beispiel den letzten Beitrag von Professor Ickler? Dort heißt es klipp und klar: "... alles übrige fakultativ", also auch alles bei zusammen... (mit Ausnahme von zusammen sein). Man muß schon einigermaßen verbohrt sein, um dann mit einer weiteren Statistik für zusammentreten anzukommen. Sie schreiben zu diesem vermeintlichen Einzelfall: "Welchen Schwellenwert Prof. Ickler evtl. benutzt hat, weiß ich natürlich nicht." Daraus geht hervor, daß Sie seine ganzen Stellungnahmen nicht zur Kenntnis genommen oder nicht verstanden haben. Sonst wüßten Sie, daß ihn ein bestimmter Schwellenwert für einen solchen Einzelfall überhaupt nicht interessiert. Bei Verbzusätzen ist bei diesem Wörterbuch nahezu die einzige Frage: Ist die Zusammenschreibung aller möglichen Verbindungen mit diesem Verbzusatz eindeutig genug? Dann wird Zusammenschreibung angegeben. Alles übrige ist fakultativ (mit wenigen Ausnahmen, die eine gewisse Regelhaftigkeit haben, darunter die Verbindung mit sein).

Ich hatte Ihnen soeben eine ganze Reihe von zusammen... präsentiert, bei denen es mehr Getrenntschreibung gibt als bei zusammentreten, zum Teil viel mehr. Das hindert Sie nicht daran, noch weiter auf diesem Einzelfall herumzureiten. Was soll ich da noch sagen? Argumente zählen wohl bei Ihnen nicht viel.

Bei gar_nicht geht es um eine andere Schublade, das wurde ebenfalls hier bereits besprochen. Aber Sie haben recht, außerhalb professioneller Texte ist die Zusammenschreibung durchaus verbreitet. Das habe ich nicht bestritten, sondern stets gesagt, in besseren Texten sei der Anteil sehr gering. Man könnte es als Zweifelsfall ansehen, je nachdem, welche Texte man als Quellen ernst nimmt. Die Entscheidung bleibt dem Wörterbuchverfasser vorbehalten.

Ihre Behauptung "Verbzusätze lassen sich immer voranstellen" ist natürlich nicht richtig. Auf geht das vielleicht auch Ihnen noch. Ich habe auf die mögliche Voranstellung im Hauptsatz bei zusammen_leben hingewiesen, um zu verdeutlichen, daß in der Gruppe zusammen... verschiedene Konstruktionen und Qualitäten versammelt sind, nicht nur das Schema F "nahezu feste Zusammenschreibung". Dazu gehört auch die Beobachtung, daß das zusammen manchmal erweiterbar ist.

Die Texte solcher Gesetze wie des Einkommensteuergesetzes sind sehr sorgfältig geschrieben. Ihre Recherche zeigt nur, daß sich zusammen_veranlagen ebenso gut getrennt wie zusammen schreiben läßt. Ihre Schlußfolgerung, das seien Texte von niedriger Qualität, ist völlig daneben.

Sie können ja gerne weiterhin mit dem "Zeit"-Korpus arbeiten. Das ist ungefähr so sinnvoll, wie alle Texte auszuwerten, die ich im Lektorat hatte. Daraus Rückschlüsse über die Varianz von Schreibweisen ziehen zu wollen ist ein absurdes Unterfangen. Texte, die meine Kollegen bei der "Zeit" bearbeitet haben, sind in orthographischer Hinsicht sterilisiert worden. Nach diesem strengen Bereinigungsprozeß gibt es nur noch jämmerliche Reste der ursprünglichen Vielfalt.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 23.11.2010 um 01.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17281

Lieber Herr Wrase,

halten Sie sich doch besser an das, was ich wirklich gesagt habe, und nicht an das, was Sie meinen, daß ich gemeint haben könnte. Das würde mancherlei Mißverständnisse vermeiden helfen.

Ich habe ja selbst eingeräumt, daß die Schreibung garnicht in "guten Texten" - jedenfalls seit etwa Mitte des letzten Jahrhunderts - nur selten vorkommt. Ich habe auch ausdrücklich gesagt, daß es ein vertretbarer Standpunkt sei, solche in "guten Texten" nur selten vorkommende Schreibweisen in einem Wörterbuch nicht zu berücksichtigen. Wie Sie nun dazu kommen, ich hätte mich "hartnäckig gegen den Eintrag gar nicht ausgesprochen", ist mir schleierhaft.

Ich habe allerdings darauf hingewiesen, daß solche Schreibweisen in weniger guten Texten häufiger auftreten und daß man daraus vielleicht Rückschlüsse über eine breitere Sprachgemeinschaft ziehen könnte.

Sie haben damals diese Argument nicht gelten lassen wollen. Jetzt aber benutzen Sie haargenau dasselbe Argument, weil Ihnen meine Recherche zu zusammentreten nicht gefällt. Aus meinen Äußerungen können Sie allenfalle schließen, daß ich die Texte der ZEIT zu den "guten Texten" zähle. Nochmals: Zu den Texten der SZ habe ich mich nie geäußert, zur Qualität der Textquellen von Prof. Ickler erst recht nicht. Anscheinend haben Sie mich aber mißverstanden. Bitte betrachten Sie dieses Mißverständnis hiermit als ausgeräumt.

Ich habe mich auf den Kernkorpus und den ZEIT-Korpus des DWDS schlicht und einfach deshalb gestützt, weil sie offen zugänglich sind und weil sie größere Zeiträume aus der vorreformatorischen Zeit berücksichtigen. Beim DWDS gibt es auch Korpora deutscher Tageszeitungen. Diese habe ich bisher nicht berücksichtigt, weil sie Zeiträume erfassen, die ganz oder ganz überwiegend nach 1996 liegen. Außerdem standen zu diesen Zeiten schon automatische Korrekturprogramme zur Verfügung.

Die DWDS-Korpora haben zudem den großen Vorteil, daß sie verschiedenene Flexionsformen der gesuchten Wörter aufführen, auch wenn man nur eine Flexionsform eingibt. Ihre Vermutung, ich stützte meine Suchen nur auf den Infinitiv, ist insofern unbegründet. Allerdings gibt es bei den Suchfunktionen des DWDS leider noch verschiedene Fußangeln und Ungereimtheiten. So funktioniert beim ZEIT-Korpus die Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung nicht richtig. Gebe ich etwa zusammensein ein, erhalte ich hauptsächlich das Substantiv Zusammensein. Gebe ich aber zusammengewesen ein, erhalte ich korrekt verschiedene Verbformen.

Dagegen wissen weder Sie noch ich, was aus der Textbasis der SZ zu entnehmen ist, weil wir nicht darüber verfügen. Selbst Prof. Ickler verfügt derzeit nicht darüber. Solange sich das nicht ändert, brauchen wir uns den Kopf darüber eigentlich nicht zerbrechen.

Die Ergebnisse von Prof. Ickler lassen sich doch ganz zwanglos und wohlwollend wie folgt erklären: In seinen Textquellen hat er die Schreibung garnicht nur selten gefunden und deshalb in sein Wörterbuch nicht aufgenommen. Andererseits hat er die damals noch unkonventionelle Schreibung sodaß offenbar wesentlich häufiger gefunden und deshalb in seinem Wörterbuch berücksichtigt. Wie gesagt: Das ist vollkommen vertretbar. Warum streiten wir uns darüber?

Nun noch zu zusammentreten:
Eine Suche nach zusammentreten im DWDS-Korpus der Berliner Zeitung ergibt:

zusammentreten: 495
zusammen treten: 10 (alle nach 1999)

Falls Sie den Schwellenwert bei 2% festlegen wollen, wäre die Aufnahme von zusammen treten ins Wörterbuch gerechtfertigt. Welchen Schwellenwert Prof. Ickler evtl. benutzt hat, weiß ich natürlich nicht.

Die Fundstellen für garnicht liegen dagegen noch unter der Promillegrenze. Allerdings erkennen Korrekturprogramme "falsche" Zusammenschreibungen wesentlich besser als "falsche" Getrenntschreibungen.

Noch zu zusammenveranlagen:

Die Schreibung im EStG ist uneinheitlich. Verwendet wird nur die Form zusammenveranlagt/zusammen veranlagt, mal als Attribut, mal als Passiv. Als ("adjektivisch gebrauchtes") Attribut kann es natürlich immer zusammengeschrieben werden. Als Attribut wird zusammenveranlagt viermal, zusammen veranlagt zweimal benutzt. In der Passivform ("veranlagt werden") wird zusammen veranlagt sechsmal, zusammenveranlagt zweimal benutzt. Das ist nicht gerade ein gutes Zeugnis für die Sprachprüfung im Finanzministerium, vielleicht auch im Justizministerium. Wollen Sie mit diesem Beispiel wirklich argumentieren?

Ihr Beispiel zu zusammen leben/zusammenleben überzeugt mich ebensowenig. Verbzusätze lassen sich immer voranstellen ("Auf geht die Sonne"), und ob sich Ergänzungen nur auf den Verbzusatz oder auf das Verb als ganzes beziehen, ist kaum zu unterscheiden: "Ich habe ihn so richtig zusammengestaucht." Selbst ein Satz wie "so richtig zusammen habe ich ihn noch nicht gestaucht" ist zwar vielleicht ungewöhnlich, aber m. E. nicht grammatisch falsch. Schließlich ist es bei Ihrem Beispiel gar nicht so leicht zu unterscheiden, ob es sich bei zusammen um ein Adverb oder um einen Verbzusatz handelt. Diese Unterscheidung setzt der Icklerbogen aber gerade voraus.

Noch ein Kuriosum am Rande:

Suche ich auf der Internetseite der SZ nach gar nicht/garnicht, erhalte ich für gar nicht 23 Resultate, für garnicht 21. Wie gesagt, nur ein Kuriosum. Drehen Sie mir bitte nicht auch daraus noch einen Strick.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 22.11.2010 um 16.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17280

Man müßte jetzt wissen, wann die SZ zum "Desktop Publishing" übergegangen ist. Solange Skripte noch von der Texterfassung ins System eingegeben wurden, führte nämlich kein Weg an Korrektoren vorbei, schon gar nicht bei einer Tageszeitung.

Es ist nicht sinnvoll, Korrektoren durch Redakteure zu ersetzen, und es ist nicht möglich, sie durch Korrekturprogramme zu ersetzen. In beiden Punkten gebe ich Ihnen recht.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 22.11.2010 um 15.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17279

Ich habe vor über zehn Jahren mal ein längeres Telefonat mit einem Kollegen bei der Süddeutschen Zeitung geführt, um ihn nach seinen Erfahrungen und dem Umgang der SZ mit der Rechtschreibreform zu befragen. Er sagte unter anderem, schon seit vielen Jahren seien er und seine Kollegen nur noch für die Betreuung der Anzeigenwerbung da. Die redaktionellen Artikel in der SZ wurden also damals schon lange ohne Einbindung dieser Spezialisten produziert.

Das merkt man auch an den Fehlern, die man in der SZ sieht, damals wie heute, und die Professor Ickler hin und wieder hier bespricht. Einem halbwegs fähigen Lektor würden sie in sehr viel geringerer Zahl durchrutschen. Ein elektronisches Redaktionssystem kann die Rechtschreibung zu einem gewissen Anteil kontrollieren helfen, aber bei weitem nicht vollständig. So wie bei Word. Word-Nutzer sind nicht automatisch in der Lage, Texte mit makelloser Rechtschreibung zu verfassen. Ich habe nicht den Eindruck, daß ich nichts zu tun hätte.

Bei der "Zeit" bin ich mir sicher, daß es dort anders aussieht. Wenn viel mehr Zeit zur Verfügung steht, erwartet der Leser mit Recht eine höhere Qualität. Im Impressum der "Zeit" steht, optisch gleichrangig mit Ressorts wie Politik, Feuilleton, Gestaltung oder Bildredaktion, das Ressort Korrektorat und darunter derzeit der Name Mechthild Warmbier (verantwortlich). Das heißt, es handelt sich um eine Abteilung. Wenn sie nur für die Anzeigen zuständig wäre, dann wäre kein Eintrag dieser Art zu erwarten. Vielleicht möchte jemand mal dort anrufen und die Sache verifizieren. Ich meine aber, das ist nicht nötig. Die sehr wenigen Fehler, die einem bei der Lektüre der "Zeit" unterkommen, sind ebenfalls ein Hinweis auf die standardmäßige Mitwirkung von Korrektoren.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 22.11.2010 um 13.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17277

Aus den unterschiedlichen Produktionsbedingungen einer Wochen- und einer Tageszeitung folgt zunächst einmal nur, daß unter Annahme eines kontinuierlichen Verlaufs der Textanlieferung die Wochenzeitung mit einer geringeren Anzahl an Korrektoren auskommt, um dieselbe Korrekturleistung (Zeit/Texteinheit) zu erreichen. Der einzige systembedingte Vorteil der Wochenzeitung ist, daß die Autoren bzw. Redakteure nicht nur in Ausnahmefällen (z.B. bei Sonderseiten) genug Zeit haben, sich den fertig korrigierten Text noch einmal anzugucken und den Übereifer von Korrektoren auszubügeln, die gerne mal aus einer "Harfenistin" eine "Harfinistin" machen oder aus einem "disparat" ein "desperat".

Von daher müßte nicht die SZ, sondern die "Zeit" das authentischere Bild abgeben. Allerdings glaube ich nicht, daß der Unterschied ins Gewicht fällt, denn vor der Reform enthielten auch regionale Tageszeitungen nicht oder kaum mehr Fehler als ein mit durchschnittlicher Sorgfalt verlegter Kriminalroman, allem Zeitdruck zum Trotz.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 22.11.2010 um 11.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17274

Ich nehme an, hier wird überwiegend von Textauswertung von Texten vor der Reform diskutiert. Die Frage ist, welche Bedeutung hat das für die heutige Situation?
Heute haben doch alle Printmedien Redaktionssysteme, die u. a. auch die Rechtschreibung prüfen. Das einzige, was man daher auswerten kann, ist doch, wie groß die Abweichungen im veröffentlichten Text im Vergleich zu diesen Korrektursystemen sind (die gleichzeitig die Hausorthographie repräsentieren), oder liege ich da falsch?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.11.2010 um 09.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17272

Lieber Herr Achenbach, ich glaube nicht, daß ich Sie mißverstanden habe, sondern setze bloß allgemein voraus, daß die Frage der GZS bei zusammen (mit der Ausnahme von sein) pauschal geregelt werden sollte und nicht getrennt nach einzelnen Verben. Daher meine Beispielwahl, bei der es zugleich auch ein wenig um die sonderbare Quellenlage ging.
Im übrigen bin ich für Kritik durchaus empfänglich, ja geradezu danach süchtig, und über "Kleinlichkeit" dabei habe ich mich doch auch noch nie beklagt, oder? Mein Standpunkt war immer: Verbesserungsvorschläge, mögen sie noch so ins Detail gehen, sind immer sehr willkommen und werden sofort notiert. Die große Linie soll darüber nicht vergessen werden, aber ich kann das gut auseinanderhalten.

Also hier noch einmal: Die geschlossene Liste der zusammenzuschreibenden Verbzusätze sollte möglichst kurz sein und nur das enthalten, was man wegen Selbstverständlichkeit kaum je nachschlagen würde. Alles übrige fakultativ, das ist gut für Schüler usw. und schadet den Texten nicht.
zusammenveranlagen könnte man als orthographische Rückbildung aus dem Substantiv verstehen … Die Bedeutung geht zweifellos über wörtlich verstandenenes zusammen veranlagen hinaus. Andererseits fällt das nicht logisch fixierbare ästhetische Argument der allzu langen Wörter ins Gewicht. Eine spezielle Bedeutung ist ja nicht zwangsläufig mit Zusammenschreibung verknüpft.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 22.11.2010 um 07.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17271

Lieber Herr Achenbach,

die Wochenzeitung "Die Zeit" ist für unsere Fragen völlig anders zu bewerten als die Süddeutsche Zeitung, eine Tageszeitung mit im Schnitt dem siebenfachen Zeitdruck in der Textproduktion. Die Texte der SZ zeigen, wie die Rechtschreibung in einem Kollektiv von mehr als hundert geübten, anerkannt guten Schreibern aussieht. Sogenannte Rechtschreibfehler in der "Zeit" zeigen nur, wie gut dort das Lektorat besetzt ist und/oder ob doch manche Texte an ihm vorbei veröffentlicht werden. Das heißt, die "Zeit" können wir hier nicht als Quelle auswerten. Stattdessen könnten Sie auch gleich nachsehen, was im Duden verzeichnet war; das ist nach der Abrundung der wenigen Abweichungen kaum noch ein Unterschied. Anders gesagt: Unser Wörterbuch wertet Texte von guten Schreibern aus. Unser Wörterbuch wertet sinnvollerweise Texte aus, die zu einem großen Teil nicht von einem Spezialisten für Rechtschreibung korrigiert wurden. Ihr Echo "Was denn nun?" ist ganz einfach zu beantworten: SZ ja, "Zeit" nein.

Sie haben zwar nicht den Begriff "überkorrigiert" verwendet, aber bei gar_nicht sinngemäß so argumentiert.

zusammenveranlagen taucht so im EStG auf, siehe zum Beispiel Paragraph 10 d Absatz 1 Satz 1. Das ist zwar ein Sachverhalt aus der Bürokratie, die Frage der steuerlichen Behandlung betrifft aber alle Ehepaare, bei denen beide Partner Einkommensteuer abzuführen haben, also eine große Menge erwachsener Schreiber. Sie können mir nicht erzählen, daß dieser Begriff nur von Fachleuten verwendet wird. Ja, warum steht er eigentlich nicht im Rechtschreibwörterbuch? Der Fall ist im hohen Maße rechtschreiblich relevant, weil er von dem Schema "meist zusammengeschrieben" abweicht. Die meisten Leute schreiben getrennt, und die Frage der Schreibung könnte genauso oft gestellt werden wie bei dem vergleichsweise eindeutigen zusammenprallen.

Falls Sie mit der Einstufung als "nicht allgemeinsprachlich" andeuten wollen, so viele "Sonderfälle", sprich Abweichungen vom sehr deutlichen Übergewicht der Zusammenschreibung, gebe es auch wieder nicht, hier sind ein paar weitere "Ausnahmen": Bei zusammen_haben, zusammen_bekommen, zusammen_kriegen, zusammen_behalten, zusammen_lassen ist die Zusammenschreibung weniger fest als etwa bei zusammenbrechen. Auch bei zusammen_leben ist die Einordnung nicht so einfach. Sie können sagen: So richtig zusammen lebten sie erst nach drei Jahren. Der Verbzusatz ist ist bei zusammenleben erweiterbar und problemlos zur Voranstellung im Hauptsatz geeignet, anders als etwa bei zusammenstauchen. Es gibt also einen bunten Mix von Konstruktionen und Qualitäten auch bei diesem Verbzusatz.

Ihr Vorschlag, beim Verbzusatz zusammen... "meist zusammengeschrieben" statt nur "auch zusammengeschrieben" anzugeben, hat viel für sich, obwohl er eine gewisse Mehrdeutigkeit hat: Bezieht sich das "meist" auf die Anzahl der mit dem Verbzusatz verbundenen verschiedenen Verben, auf die Verteilung in jedem einzelnen Fall oder auf die durchschnittliche Verteilung in der ganzen Gruppe? Offensichtlich ist meist nur als pauschale Angabe möglich. Übrigens wäre meist oder zumindest überwiegend auch bei den meisten anderen dieser Kommentare berechtigt. Professor Ickler wollte offenbar bei der Angabe einer Tendenz zurückhaltend bleiben, wie wir es bei der Art des Bogens besprochen haben. Seine einfache Auskunft "Beides geht" oder "Beides kommt vor" wollte er als Standard möglichst durchhalten.

Ich bin eher auf Ihrer Linie und habe deshalb einen Bogen vorgeschlagen, der auf die ganz überwiegend feststellbare Tendenz zur Zusammenschreibung hindeutet. Diese Lösung kommt mir einen Schritt vorsichtiger vor als die ausdrückliche und vielfache Auskunft meist zusammengeschrieben, bei der sich auch die unangenehme Frage stellt, wo die Grenze zwischen auch und meist liegen soll. Gerade wenn Sie meist noch öfter verwenden wollen, ist diese Grenzziehung mit viel Willkür verbunden.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 21.11.2010 um 23.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17270

Lieber Herr Wrase,

Ihre Beiträge überraschen mich immer aufs neue. Bei garnicht haben Sie argumentiert, daß diese Schreibung in "guten Texten" kaum vorkomme. Jetzt werfen Sie mir vor, mich auf "gute Texte" zu stützen. Die Texte der Süddeutschen Zeitung seien besser geeignet, weil sie schlechter redigiert seien. "Was denn nun?"

Zur Richtigstellung möchte ich betonen, daß ich mich zur Qualität der "Quellen von Professor Ickler" niemals geäußert habe, und daß ich die Süddeutsche niemals als "überkorrigiert" bezeichnet habe. Tatsächlich habe ich keine Ahnung, wie gut die ZEIT oder die Süddeutsche korrigiert sind oder waren. Ich kann das schon deshalb nicht beurteilen, weil ich keinen Zugriff auf einen Korpus der Süddeutschen habe und auch nicht wüßte, wie ich darankommen könnte.

Sie fragen mich, wie ich es besser_machen würde. Wäre ich Wörtebuchmacher, würde ich zusammenveranlagen jedenfalls nicht als allgemeinsprachlich aufführen. Kennen Sie ein Wörterbuch, das das tut?

Dagegen würde ich beim Verbzusatz zusammen zumindest sagen "als Verbzusatz meist zusammengeschrieben", so wie Prof. Ickler bei auseinander und wieder.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 21.11.2010 um 20.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17269

Lieber Herr Achenbach,

es ist schon erstaunlich, wie wendig Sie mal für dies und das plädieren und mit welchen Quellen. Ich gehe davon aus, daß die "Zeit" Korrekturleser beschäftigt und fast alle Texte von ihnen prüfen läßt. Mit diesem Korpus können Sie nicht ankommen. Die "Süddeutsche Zeitung" ist als Tageszeitung viel besser geeignet, die meisten Texte werden nicht von Spezialisten geprüft; diese sichern bei der SZ im wesentlichen nur die Anzeigenwerbung ab. In diesem selben Diskussionsstrang haben Sie sich hartnäckig gegen den Eintrag gar nicht ausgesprochen und umgekehrt argumentiert: Die Quellen von Professor Ickler würden die Schreibwirklichkeit nicht wirklich erfassen. Dazu haben Sie als Indiz sogar eine Diskussion im Internet über gar_nicht bemüht. Ein professioneller Lektor, wie es ihn auch bei der "Zeit" gibt, hat es nicht nötig, sich an einer solchen Diskussion zu beteiligen. Dort haben Sie also die Süddeutsche für überkorrigiert gehalten, und jetzt wollen Sie aus der "Zeit" etwas herauslesen. Was denn nun? Ich frage mich immer wieder: Was wollen Sie eigentlich?

Was die Sonderfälle bei zusammen... betrifft: Da gibt es noch mehr als zusammensein und zusammenbleiben. Was ist mit zusammenveranlagen: wegen relativer Seltenheit getrennt angeben oder doch mit Bogen? Fiel mit nur gerade so ein. Man erlebt immer wieder Überraschungen, wenn man die Frage über viele Jahre im Blick behält. Ein weiterer ist zusammen oder getrennt schreiben: Muß da wirklich ein Bindestrich hinter zusammen stehen, nur weil man zusammenschreiben überlicherweise so schreibt? Daß zusammen vor schreiben immer ein Verbzusatz sein soll, getrennt immer ein selbständiges Adverb, ist nicht wirklich plausibel, oder? Auf den zweiten und dritten Blick ist manches nicht mehr so eindeutig. Jetzt hätten wir schon vier "Sonderfälle". Wer suchet, der findet noch mehr.

Professor Ickler hat zwar mit Hilfe von zusammen_bleiben argumentiert und sich nicht zu zusammen_treten geäußert. Er hat eben einen Schritt weiter_gedacht: Daß zusammen treten kurz vor der Reform nur noch selten vorkam, bestreitet ja keiner. Ja und? Hätten Sie es deshalb gerne ohne Bogen verzeichnet? Nur diese eine Fügung, die ich zufällig als Beispiel gewählt hatte? Das kann es ja wohl nicht sein. Es stellt sich die Frage, was Sie mit Ihrer Rückmeldung zur Seltenheit von zusammen treten eigentlich bezwecken wollten: Halten Sie den Ickler bei zusammen... für verbesserungswürdig? Wenn ja, wie wollen Sie es besser machen? Wollen Sie mehr Einzelfälle? Alles einzeln auflisten? Wollen Sie eine Regelschreibung angeben und dann die "Sonderfälle" auflisten, um Bögen einzusparen? Ihr Infokasten würde Klarheit bringen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 21.11.2010 um 19.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17268

Lieber Prof. Ickler,

ich danke Ihnen sehr, daß Sie meine Bemerkungen zu Ihrem Wörterbuch so verstehen, wie sie gemeint sind, und nicht etwa als kleinliche Kritik.

In einem Punkt haben Sie mich aber vielleicht mißverstanden. Ich habe mich doch zur Häufigkeit von zusammenbleiben gar nicht geäußert, sondern allenfalls – in Erwiderung auf Herrn Wrase – zur Häufigkeit von zusammentreten.

Es ist mit natürlich klar, daß zusammenbleiben und erst recht zusammensein Sonderfälle sind. Das dürfte wohl daran liegen, daß die Verben bleiben und sein von ihrer Bedeutung her eigentlich kaum einen resultativen Sinn ausdrücken dürften. Bei zusammensein kommt zudem noch das Doppelwesen von sein als Verb und als Kopula hinzu. Auf diesen Sonderfall weisen Sie ja in Ihrem Wörterbuch ausdrücklich hin.

Angesichts dessen ist es recht erstaunlich, wie stark die Tendenz zur Zusammenschreibung bei zusammenbleiben ist, jedenfalls vor der RSR war.
Im Zeitkorpus wird es z.B. vor 1996 fast ausschließlich zusammengeschrieben. Für zusammen bleiben finde ich dort vor 1996 nur drei Belege.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.11.2010 um 15.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17266

Die Angabe "als Verbzusatz a. zusammengeschrieben" ist tatsächlich zweideutig, wie Herr Achenbach es dargestellt hat. Ich habe das wahrscheinlich damals etwas mechanisch überall eingefügt, wo es um fakultative Zusammenschreibung geht.

Meine Zeitungskorpora kann ich zur Zeit nicht benutzen, weil es mir bisher nicht gelungen ist, sie auf einem neuen System zu installieren, vielleicht schaffe ich es eines Tages noch.

Wenn ich bei Google "zusammen blieb" eingebe, finde ich sehr viele Beispiele von Getrenntschreibung, die mir untadelig vorkommen und früher nicht aufgefallen wären. Ich weiß nicht, wie es zu der außerordentlichen Seltenheit gekommen ist, die Herr Achenbach festgestellt hat. Ich würde also bis auf weiteres auch bei der bisherigen Darstellung bleiben. Sie richtet keinen Schaden an und bewahrt die Schüler vor unrealistischen Fehleranrechnungen.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 21.11.2010 um 14.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17265

Ich selbst bin vermutlich ein „unbedarfter Nutzer“. Ich kann mich aber nicht erinnern, beim tatsächlichen Schreiben jemals betreffend GZS in einem Wörterbuch nachgesehen zu haben. Ich schreibe so, wie ich meine, daß der Sinn, die Bedeutung, die ich ausdrücken will, getroffen wird. Das einzige was mir dabei fallweise bewußt wird, ist, daß zwei Möglichkeiten gleichwertig sind.
Wörterbücher verwende ich wenn überhaupt, um seltene Schreibungen zu kontrollieren, z.B. Libyen oder Lybien, oder Rhythmus oder Rhytmus, bzw. gelegentlich bei Zweifelsfällen der GKS, z.B. im dunkeln/Dunkeln tappen. Normalerweise reicht aber der optische Test, also welche Schreibung mir besser gefällt.
Das "Bogenthema" existiert natürlich, man sollte es aber nicht überbewerten.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 21.11.2010 um 12.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17264

Der "unbedarfte Nutzer" und der allwissende Wörterbuchmacher sind zwei sich gegenseitig stützende Fiktionen. Der Zusammenhang ist um so stabiler, als beide Beteiligte bereitwillig in die Rolle eintreten, die sie einander anbieten. Denn soweit er annimmt, daß die Wörter aus dem Wörterbuch kommen, ist der Nutzer tatsächlich unbedarft, und soweit er dieser Erwartung gerecht werden zu müssen glaubt, gerät der Wörterbuchmacher tatsächlich in die Position dessen, der alles weiß: Er ist dann gewissermaßen dafür verantwortlich, daß die Welt zusammenhält. Ein Wörterbuch kann jedoch bestenfalls garantieren, daß es alles, was es aufführt, gibt, nicht aber, daß es alles, was es nicht aufführt, nicht gibt.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 21.11.2010 um 10.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17263

Lieber Herr Achenbach,

wie die Angabe als Verbzusatz a. zusammengeschrieben gemeint ist, ergibt sich daraus, daß nachfolgend die Schreibung mit Bogen angegeben ist. Gibt es Fälle, in denen zurecht kein Verbzusatz ist? Ich glaube nicht. Insofern hätte man sich die Formel sparen und gleich die Schreibung mit Bogen angeben können oder sollen. Das könnte so eine von vielen kleinen Verbesserungen sein, die man noch einarbeiten kann. Vielleicht hat Professor Ickler zu der Formel gegriffen, um eine Abgrenzung zu dem nachfolgend genannten zu Recht herzustellen, das genauso klingt, aber eben kein Verbzusatz ist.

Sie haben recht, beim Einzelfall (!) zusammen_treten könnten Sie vermutlich das statistische Argument walten lassen und sich entscheiden, zusammentreten ebenso wie fertigstellen eindeutig mit Zusammenschreibung zu verzeichnen. Ebenso bei anderen zusammen... – jedoch nicht bei allen. Und schon gar nicht pauschal für die ganze Gruppe zusammen... Könnten Sie mal bitte nachprüfen, aber bitte für alle zusammen..., ob die Getrenntschreibungen hinreichend selten sind, daß man sie unterschlagen kann? Viel Spaß! Um die Arbeit etwas abzukürzen, prüfen Sie am besten solche zusammen..., bei denen mehr Getrenntschreibung zu vermuten ist, zum Beispiel zusammen_bleiben, sinnvollerweise auch in einer finiten Form wie zusammen_bleibe oder zusammen_blieben, denn dort ist wiederum mehr Getrenntschreibung zu erwarten als im zusammenschreibungsfreundlichen Infinitiv. (Bei Ihren Recherchen arbeiten Sie vermutlich mit dem Infinitiv; das verzerrt das Ergebnis ein wenig zugunsten der Zusammenschreibung.)

Auf diese Weise könnten Sie – je nachdem wie eng oder großzügig Sie die statistische Grenze ziehen wollen, mehr oder weniger vielen zusammen... die Zusammenschreibung und mehr oder weniger vielen zusammen... den Bogen zuteilen, zum Beispiel in einem Verhältnis von 31 zu 4; oder vielleicht kommt 27 zu 8 heraus, wenn Sie Ihren großzügigen Tag haben. Darum geht es doch in Wirklichkeit: Wollen Sie ein solches Wörterbuch??? Professor Ickler wollte es jedenfalls nicht: ein Wörterbuch, das den Verfasser und vor allem den Nutzer zwingt, jede einzelne fragliche Verbindung anzugeben bzw. nachzusehen, nur um möglichst selten einfache, liberale Angaben machen bzw. sehen zu müssen.

Welche Nachteile die zwanghafte Einzelfallgerechtigkeit hat, habe ich hier schon mehrmals beschrieben, und Professor Ickler hat es mit großer Geduld hundertmal dargelegt. Wegen dieser Nachteile hat sich Professor Ickler entschlossen, dem Präzisions- und Eindeutigkeitswahn mit einem stark vereinfachten Konzept entgegenzutreten. Bei Verbzusätzen bekommen Sie im Ickler folgendes: "Manche Verbzusätze werden immer zusammengeschrieben, anderen Verbzusätzen ist die GZS nicht festgelegt. Welche das sind und einige nähere Angaben kann man ggf. im Wörterverzeichnis nachsehen." So kommt man zu summarischen Einträgen wie zusammen_..., die bei diesem Verbzusatz ungefähr hundertmal einfacher sind als ein Infokasten nach Ihrem Geschmack. Dreißigmal einfacher wegen der Zahl der Einträge bei zusammen..., wenn die exemplifizierenden Einträge zusammen_läppern, zusammen_pferchen, zusammen_schustern im Ickler herausgerechnet werden, die unter dem Stichwort zusammen bereits enthalten und somit verzichtbar sind. Und nochmals einfacher, weil die Angaben im Ickler regelmäßig sind, während es bei Ihnen hin und her gehen würde und Sie auch hier und da Erläuterungen zur Differenzierung unterbringen sollten, um den Nutzer bei dem ganzen Hin und Her besser zu orientieren.

Also, Ihre Fixierung auf einen Einzelfall ist nicht sachgerecht. Es genügt nicht, die Statistik nur bei zusammen_treten zu bemühen. Es geht um die Darstellung aller zusammen...! Sie sollten jetzt wirklich mal einen Infokasten zur GZS bei zusammen... oder auch nur bei fertig... (dort gibt es deutlich weniger Einzelfälle) verfassen, in denen Sie zusammentreten und fertigstellen ohne Bogen aufführen. Können Sie ja. Ich bin gespannt: Wie geht es weiter? Wenn Sie sich diese Mühe machen, hätten wir sicherlich einen Erkenntnisgewinn. Bitte, legen Sie los und präsentieren Sie uns einen Infokasten mit abwechselnd Zusammenschreibung und Bogen, und wir werden beurteilen können, ob das den Nutzer glücklicher machen oder auch nur der Wahrheit näher kommen wird als die Darstellung im Ickler.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 21.11.2010 um 00.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17261

Lieber Herr Wrase,

Sie schreiben in Ihrem Beitrag Nr. 17225, daß es Schreibungen wie Der Vorstand ist zu seiner ersten Sitzung zusammen getreten "sehr wohl gab".

Ich bezweifle das nicht, denn bekanntlich gibt es nichts, was es nicht gibt. Aber wie häufig gab es das? Wo und wann gab es das? Ich habe im DWDS zwei nachprüfbare Belege gefunden, im ZEIT-Korpus keinen einzigen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 20.11.2010 um 18.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17258

Ich möchte noch auf eine kleine Unklarheit im Ickler aufmerksam machen:

Die Standarderläuterung zu den Verbzusätzen lautet: "als Verbzusatz a. zusammengeschrieben § 10".

Das ist etwas zweideutig, denn es könnte bedeuten, daß der betreffende Eintrag nur als Verbzusatz, oder auch als Verbzusatz vorkommt. Zuallermeist ist die zweite Bedeutung gemeint. Dieselbe Formulierung wird aber auch bei zurecht gebraucht. Der Benutzer könnte sich fragen, ob und wann zurecht denn auch als Nichtverbzusatz gebraucht wird.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 18.11.2010 um 20.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17232

Ein Bogen. Ich würde einen zusammenschreibungsfreundlichen Bogen nehmen.

Die Frage ist berechtigt, denn die Antwort hat rein praktische Gründe. Anwenderfreundlichkeit. Einfachheit vor Präzision. Von der Sache her wäre wie gesagt eine stufenlose Skalierung denkbar: Je mehr Getrenntschreibung, desto länger der Bogen. Je mehr Zusammenschreibung, desto kürzer. Also 0,5 Millimeter, kaum sichtbar, bei wieder_wählen, 1 Millimeter bei fertig_stellen, 7 Millimeter bei sauber_machen. Alternativ könnte Herr Wagner maximal 10 senkrechte Abstandsstriche vorsehen und die Abstände ganz individuell zuteilen.

Theoretisch könnte man so etwas machen. Aber so genau will es ja niemand wissen. Außerdem: Wenn man jedem Fall individuell gerecht werden will, dann muß man erstens sämtliche Einzelfälle aufführen und diese zweitens differenzierend behandeln: Bei welchem Betonungsmuster, bei welcher genauen Bedeutung, bei welchen syntaktischen Bedingungen gibt es wieviel Zusammenschreibung? Das ist das Duden-Prinzip. Damit bekommt man manchen anständigen Eintrag, aber insgesamt einen unlernbaren und chaotisch anmutenden Berg von pedantischen Angaben. Je genauer man sein will, desto unbrauchbarer wird das Produkt.

Deshalb müssen drei Kategorien genügen: zusammen, getrennt oder fakultativ. Auch wenn man dann immer wieder fünfe gerade sein lassen und auf das Sprachgefühl des Nutzers vertrauen muß. Insgesamt überwiegen die Vorteile einer großzügigen Herangehensweise.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 18.11.2010 um 19.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17230

Falls dadurch auf intuitive Weise mehr Klarheit erreicht wird (z. B. GZS mit und ohne Bedeutungsunterschied), könnte fallweise der Doppelstrich oder der kleine Bogen verwendet werden. Aber das ist jetzt ebenfalls nur so eine Idee, die mir gerade durch den Kopf ging; ich habe noch nicht näher darüber nachgedacht.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 18.11.2010 um 18.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17229

Zur Klarstellung:
Wollen Sie mehrere Icklerbögen oder nur einen?
 
 

Kommentar von Pt, verfaßt am 18.11.2010 um 16.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17227

#17209: Ihre Idee gefällt mir, Herr Wagner. Sie wäre ein guter Kompromiß, da hier von der Zusammenschreibung (der meist besseren Lösung) ausgegangen wird, und nicht, wie beim Bindebogen, von der Getrenntschreibung. Damit entfällt auch die Lücke zwischen den Komponenten, die eine Dominaz der Getrenntschreibung suggeriert, trotz Bindebogen. Die Darstellung des Wortes bietet damit optisch immer noch eine Einheit.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 18.11.2010 um 14.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17225

Herr Metz, das ist doch ganz einfach. Ich bin nicht gegen den Bogen, und davon, daß er mal diese, mal jede Bedeutung haben solle, habe ich auch nicht gesprochen. Der Bogen ist richtig. Aber er ist nicht leicht zu verkraften, vor allem unter bestimmten Umständen: am Anfang, wenn man ihm zum erstenmal begegnet; bei manchen Einträgen; wenn er zu sperrig, zu breit und unnatürlich aussieht; im Auge von Lesern, die zwar das deskriptive Konzept im Kopf verstanden haben, sich aber insgeheim auch von einem solchen Wörterbuch erhoffen, es möge "minderwertige" Schreibweisen nicht aufführen oder sogar möglichst ohne Varianten auskommen bzw. möglichst immer eindeutige Schreibweisen angeben. Wieviel Widerstand der Bogen ausgelöst hat, weiß Professor Ickler selbst am besten, er hat es uns auch wissen lassen: "Wieviele Briefe und Telefonate habe ich hinter mich gebracht, nur um die Freunde davon zu überzeugen, daß mein Ansatz nicht ins Chaos führt! Das war manchmal schier zum Verzweifeln!" (#17030). Wenn sogar die Freunde ihn mit ihren Vorbehalten zur Verzweiflung treiben, kann man sich doch überlegen, ob es eine Möglichkeit gibt, den Bogen so auszugestalten, daß er nicht ganz so viel Übelkeit hervorruft, denn das hat weder der Bogen noch sein Erfinder im geringsten verdient. Wie schon Schiller sagte: "Der kluge Mann baut vor."

Was dagegen spricht, fertigstellen mit eindeutiger Zusammenschreibung zu notieren? Das hatten wir doch schon. Zum einen ist (oder war der Reform) die Zusammenschreibung noch nicht so bombenfest, wie man es als qualitätsbewußter Schreiber gerne hätte. Zweitens gibt es den Fall ganz fertig_stellen, der zwar nicht häufig vorkommt, aber die Festigkeit der Zusammenschreibung besonders in Frage stellt. Beides hat Professor Ickler immer wieder gesagt. Meine eigene Antwort war: Könnte man ja machen, aber dann wird es unsystematisch – es sei denn, alle fraglichen Verbindungen werden neu durchgesehen und daraufhin abgeklopft, ob der Verzicht auf den Bogen angesagt ist. Und damit wird der Zweck zerstört, der Ansatz kaputtgemacht, der da lautet: "Bei vielen Verbzusätzen ist die GZS grundsätzlich freigestellt." Zu dieser Überarbeitung habe ich sowohl dem Verfasser als auch den Nutzern folglich "viel Spaß" gewünscht, natürlich ironisch.

Denken Sie bitte auch daran, daß bisher noch viele Bögen summarisch für teilweise große Gruppen von Verbzusatz-Konstruktionen angegeben sind – eine große Erleichterung im Sinne der Nutzerfreundlichkeit! Zum Beispiel bei zusammen oder zurecht. Wenn Sie fertigstellen ohne Bogen verzeichnen, dann sollten Sie doch auch all jene zusammen... und zurecht... einzeln angeben, bei denen dasselbe statistische Übergewicht herrscht wie bei fertigstellen, ebenso bei zahlreichen anderen Verbzusätzen. Viel Spaß, wie gesagt! Die Nutzer werden im Ergebnis dazu verdammt sein, nachzusehen, was verzeichnet ist: Bogen oder Zusammenschreibung. Ich sagte dazu: Dann kann der Nutzer auch gleich beim Duden bleiben – während ich Ihnen zuvor antworten konnte, natürlich etwas verkürzt: "Den Ickler braucht man gar nicht, das ist das Schöne."

Aus demselben Grund, den ich "Systematik" genannt habe, sind auch die Bögen bei zusammen, weiter und wieder berechtigt, obwohl man es kaum glauben mag, wenn man ins Wörterbuch sieht. Denn es gab sehr wohl Schreibungen dieser Art:

Der Vorstand ist zu seiner ersten Sitzung zusammen getreten.
Das Gerücht wurde ungeprüft weiter gereicht.
Die Farben sind hier nicht korrekt wieder gegeben.

Somit kann man auch bei solchen Verbzusätzen (die im Satz mit dem gleichlautenden Adverb konkurrieren) die Getrenntschreibung als existent anerkennen, und dann kommt man zu Einträgen wie wieder_sehen oder wieder_geben, die auf den ersten Blick schockieren. Manche Leser könnten geneigt sein, den Verstand des Verfassers anzuzweifeln, weil ihnen der tatsächliche Befund nicht vor Augen ist, er ist ihnen nämlich beim Lesen kaum aufgefallen. Wenn Sie nun einen kurzen, unauffälligen Bogen nehmen, der (richtigerweise!) auf eine Tendenz zur Zusammenschreibung deutet und die Möglichkeit (deskriptiv gesagt: die Existenz) der Getrenntschreibung eher im Sinne einer Zusatzinformation angibt, tut das meiner Meinung nach allen Beteiligten einfach nur gut.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 17.11.2010 um 23.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17220

Herr Wrase, Sie verblüffen mich immer wieder. Erst vor anderthalb Wochen habe ich hier von Ihnen gelernt, daß Menschen, die zu einem Wörterbuch greifen, schon vorher wissen, daß sie fertigstellen schreiben werden, weil sie es immer wieder so gelesen haben. Das Trennende des Ickler-Bogens, das Herrn Achenbach in diesem Fall nicht behagt hatte, verteidigten Sie mit den Worten: »Es ist wichtiger, auch an dieser Stelle die Information zu bekräftigen: "Auch bei fertig_stellen handelt es sich eigentlich […] um zwei Wörter."« Nun bemängeln Sie ebendies: »Im Moment sieht der Bogen noch immer aus wie ein Abstandhalter […] Mein Ideal ist […]: unauffällig und verbindend […] Das so dargestellte Wort sollte m. E. einer normalen Zusammenschreibung ohne Bogen ähnlich sehen. Und zwar vor allem wegen solcher Fälle wie fertig_stellen

Ich könnte jetzt fragen: Ja was denn nun? Aber das tue ich nicht, weil ich sehr wohl sehe, daß auch Sie (anders übrigens, als einige Ihrer Beiträge vermuten lassen) mit Ihren Überlegungen noch nicht am Ende sind und daß wir es in gewissem Sinne mit zwei Seiten derselben Medaille zu tun haben.

Ein Bogen aber, der mal dies und mal das bedeuten soll, wäre ein untaugliches Hilfsmittel. Man kann daran so lange herumbasteln, wie man will, er wird nicht zuverlässig das bewirken können, was der Wörterbuchautor jeweils damit bezweckt. Fürs Schummeln bin ich immer zu haben, hier aber scheint es sich mir um einen klaren Fall von Selbstbeschummlung zu handeln. Man ist für Toleranz und will deshalb die Schreibung fertig stellen auch dann nicht unter den Tisch fallen lassen, wenn man ihr selbst in einem umfangreichen Korpus »guter« Texte nie begegnet ist. Ihr Argument, eine Festlegung auf fertigstellen mache die »Systematik« kaputt, finde ich schwach. So haben die Reformer argumentiert, denen die Schreibwirklichkeit und die von Herrn Ickler erwähnten intuitiven Gründe der Zusammenschreibung offenbar ziemlich egal waren. Wenn ein Ding nicht in ein System zur Beschreibung der Dinge paßt, dann ist das System und nicht das Ding fehlerhaft. Was spricht eigentlich dagegen, sich bei fertigstellen in einem strikt am tatsächlichen Schreibgebrauch orientierten Wörterbuch auf die Zusammenschreibung festzulegen, wenn man nur sie erwartet, tatsächlich nur sie vorgefunden hat und selber auch nur sie benutzen würde? Wohlgemerkt, wir sprechen hier von Texten aus der Zeit vor 1996.

Ansonsten kann ich dem Ickler-Bogen, egal in welcher Gestalt, inzwischen viel abgewinnen. Es stimmt schon, was Sie schreiben, Herr Wrase, man tut sich zunächst schwer damit, wenn man mit dem Duden groß geworden ist. Für mich kann ich sagen: nicht weil ich am einmal Gelernten krampfhaft festhalten wollte, sondern weil ich meine, manche der im Ickler verzeichneten Getrenntschreibungen vor der Reform in relevanten Texten nie gesehen zu haben. Das ist natürlich ein subjektiver Befund, dem Herr Ickler jederzeit sein umfangreiches Korpus entgegensetzen kann. Darüber zu diskutieren ist müßig. Ich bringe es hier nur an, weil es möglicherweise hilft zu verstehen, warum der vielbesagte Bogen bei einigen hier, wiewohl nicht minder liberal eingestellt als Herr Ickler, keine uneingeschränkte Begeisterung auslöst. Denn ich denke, daß ich nicht der einzige bin, dem es so geht. Der Umfang des Dissenses läßt sich freilich nur schwer bestimmen. Vielleicht reden wir von einem Dutzend Fällen, vielleicht von mehr.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 17.11.2010 um 16.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17209

Muß es eigentlich ein Bogen sein? Mir geht gerade durch den Kopf, daß man statt dessen auch einen doppelten senkrechten Strich (wie er einzeln sonst zur Markierung der Trennstellen dient) setzen könnte:
ernst||neh|men
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 17.11.2010 um 12.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17202

Es ist herrlich, wenn man sich einig ist. Stimmt: Natürlich ist die Argumentation mit irgendwelchen "Nutzern", die plötzlich Ihr Wörterbuch anstelle des Duden kaufen könnten, nicht realistisch. Ich gebe auch zu, daß Ihr bisheriger Bogen durchaus als Verbindungsbogen erkennbar ist und daß die Irritation mehr wegen des vielfachen Offenhaltens der Schreibung entstand, nicht in erster Linie wegen der Breite oder der Gestalt des Bogens.

Ihr letzter Satz lautet: Wenn sich die Zusammenschreibung anbahnt, wird ein Wörterbuch sie nicht aufhalten, nicht einmal die Korrekturprogramme werden es schaffen, sie verzögern höchstens ein wenig. Die Frage ist: Muß es sein, daß das Wörterbuch bei vielen Bögen den Eindruck vermittelt, daß es sich gegen längst angebahnte und dominierende Zusammenschreibung sträubt (obwohl es sie nicht aufhalten kann)? Typographisch könnte man diesem falschen Eindruck ein wenig vorbeugen. Und: Mit einer näheren Zusammenrückung wären bestimmte Einträge besser zu verkraften.

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß der "Nutzer" an manchen Einträgen schwer zu schlucken hat. Sie sind Herrn Achenbach unangenehm aufgefallen (#17150), sicher nicht nur ihm. Dazu gehören die Bögen bei den Verbzusätzen zusammen, weiter und wieder. Ich weiß, es gibt gute Gründe, auch hier keine obligatorische Zusammenschreibung vorzusehen, aber Sie wissen doch, lieber Professor Ickler, wie schwer sich sprachbewußte Menschen an dieser Stelle mit der "Beliebigkeit" tun. Für diese empfindsamen Schreiber steht einigermaßen fest, daß ein getrennt geschriebenes wieder das freie Adverb ist, zum Beispiel wieder aufrichten, während der Verbzusatz wieder zusammengeschrieben werden muß, zum Beispiel wiederaufrichten, weil der Leser auf diese Unterscheidungsschreibung in aller Regel angewiesen ist, um den Schreiber verstehen zu können.

Für mich wäre ein kurzer Duden-Bogen mit seiner tendenziösen Botschaft der Preis, den ich dafür zahlen möchte, daß ich auch in solchen Fällen beim Bogen bleibe.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.11.2010 um 10.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17201

Lieber Herr Wrase, eigentlich habe ich gar nichts einzuwenden, im Gegenteil, Ihre typographischen Vorschläge gefallen mir. Ich meine nur, man sollte so etwas nicht überschätzen. Denn "Kunden" im gewöhnlichen Sinn hat es ja für mein Wörterbuch bisher kaum gegeben, ich meine: Menschen, die einfach danach schreiben, wie sie sonst nach dem Duden geschrieben haben. Es gab ein paar hundert Interessierte. Die haben das Buch nicht eigentlich benutzt, sondern mehr oder weniger studiert, als den Beitrag zur Reformdiskussion, der es ja auch sein sollte. Diese Menschen bemerken anderes und gewichten anders als normale Benutzer eines RS-Wörterbuchs (also Lehrer und Sekretärinnen in der Hauptmasse).

Hinter der Zusammenschreibung von syntaktischen Gruppen stecken intuitive Gründe, die wir nicht genau kennen, sondern nur teilweise erahnen und vielleicht auf Regeln bringen, wie geschehen. Die Entwicklung der GZS ist nicht abgeschlossen, geschweige denn zur Ruhe gekommen. Da ist Offenhalten angesagt. Wenn sich die Zusammenschreibung anbahnt, wird ein Wörterbuch sie nicht aufhalten, nicht einmal die Korrekturprogramme werden es schaffen, sie verzögern höchstens ein wenig.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 17.11.2010 um 09.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17200

Am Anfang waren viele unter uns übersensibilisiert und haben Schreibweisen beanstandet, die seit je üblich und meist dudenkonform waren. Ich hatte alle Hände voll zu tun, mich damit auseinanderzusetzen und zu beschwichtigen.

Darum geht es: Magenzwicken hier und da, und ein überarbeiteter Professor wird mit noch mehr Anstrengungen überhäuft. Das war nicht nur am Anfang so, sondern geht im Prinzip immer so weiter. Die beharrliche und geduldige Aufklärung durch den Verfasser haben bisher nur wenige Privilegierte genossen. Natürlich sind die Beschwerden der Leser aus irrigen Vorstellungen und einer ärgerlichen Duden-Konditionierung entsprungen. Aber muß man es sich so schwer machen? Ein Schleichweg zwecks gegenseitiger Entlastung, ein bißchen Diplomatie für den Seelenfrieden: Für solche guten Zwecke darf man zwar nicht an der Wahrheit, aber doch an ihrer Präsentation ein bißchen drehen, meinen Sie nicht?

Wie wäre es mit einem Kompromißbogen? Gehen wir von meinem Duden-Verbindungsbogen aus, und dann geben wir im Sinne von Professor Icklers Offenheit 0,25 Millmeter Dehnung hinzu – einverstanden?

Im Ernst: Ich verstehe genau, was Professor Ickler meint. Es gibt aber auch Gegenargumente, dazu gehört das Unbehagen der Kunden. Außerdem handelt es bei einer optischen Bevorzugung der Zusammenschreibung nicht um eine gezielte Variantenführung im Sinne von "wahrheitswidrige Manipulation des Nutzers durch den Verfasser", sondern um eine bessere Wiedergabe der Sprachwirklichkeit. Denn es steht ja schon im allgemeinen Teil – ich drehe das Zitat hier um: "Zusammenschreibung ist oft besser, Getrenntschreibung aber nicht falsch." Zusammenschreibung ist im Schnitt besser, deshalb überwiegt sie auch insgesamt deutlich bei den betreffenden Begriffen. Folglich steht in Paragraph 10: "Zahlreiche Wörter ... werden mehr oder weniger regelmäßig mit Verben zusammengeschrieben." Regelmäßige Zusammenschreibung! Zwar nicht "obligatorisch" (das behandelt Paragraph 9), aber "mehr oder weniger regelmäßig". Genau diesem Befund wird der jetzige Bogen, man könnte ihn Fifty-fifty-Bogen nennen, nicht gerecht. Ein Verbindungsbogen, der die starke Affinität zwischen Verbzusatz und Verb abbildet und Zusammenschreibung ein bißchen nahelegt, nennen wir ihn Eighty-twenty-Bogen, wäre von der Sache her angemessener. Das ist also gar kein Schleichweg, sondern der nächstliegende Weg.

Ich fasse zusammen: Die Getrenntschreibung überwiegt tatsächlich, und zwar deutlich. Bei den meisten Einträgen und deshalb auch insgesamt wäre es gerecht, die Verbindung eingängiger darzustellen und auf ein befremdliches Zeichen zu verzichten, das den Abstand ebenso verkörpert wie die Zusammengehörigkeit. Die Leute mögen keine totale Beliebigkeit, ein bißchen Tendenz empfinden sie als Wohltat. Dies alles kann ein Eighty-twenty-Bogen (z. B. Duden-Bogen + 0,25 Millimeter Ickler-Zugabe) leisten. Zu einem beträchtlichen Teil entfällt dann die Notwendigkeit zusätzlicher Kommentare ("Wenn Sie sich nicht entscheiden können, schreiben Sie einfach zusammen" oder "Zusammenschreibung ist meistens besser"), denn diese Auskunft ist in einem maßgeschneiderten Bogen schon enthalten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.11.2010 um 07.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17198

Ein kleines Unbehagen bleibt. Der so versteckte Bogen wirkt wie die unselige "gezielte Variantenführung", mit der, ohne daß es offen gesagt würde, eine Vorzugsschreibweise durchgesetzt werden sollte. Ich habe nichts gegen Vorzugsschreibweisen, wohl aber etwas gegen solche Schleichwege. Ich selbst sage ja "oftmals besser" oder so ähnlich und hätte das noch deutlich sagen können.
Insgesamt gefällt es mir besser, in aller Offenheit zu unterscheiden:
1. eine Handvoll immer zusammengeschriebener Zusätze (wo auch niemand nachschlägt)
2. unzählige immer getrennt geschriebene Zusätze, aber auch Adverbialien
3. eine große Anzahl von Zweifelsfällen, die entweder der ersten oder der zweiten oder der überschaubaren Gruppe der fakultativen GZS zugeschlagen werden, je nach Befund in guten Texten.

Wo ist denn der Schaden, wenn wirklich jemand "fertig gestellt" schreibt? (Und wessen Protest "entzündet" sich daran?)

Am Anfang waren viele unter uns übersensibilisiert und haben Schreibweisen beanstandet, die seit je üblich und meist dudenkonform waren. Ich hatte alle Hände voll zu tun, mich damit auseinanderzusetzen und zu beschwichtigen. Der Vorwurf der "Beliebigkeit" war sehr hartnäckig. In meinem Wörterbuch gibt es rund 1000 Rundbögen, wenn ich mich recht erinnere, aber sie gehören zu sehr viel weniger gleichartigen Gruppen, ich glaube rund 300. Und diese waren, wie ich seinerzeit beanspruchte, nicht von mir ins Beliebige befördert, sondern von der Schreibgemeinschaft selbst so gehandhabt worden, und keiner hatte es gemerkt. Aber als sie mit dem Bogen versehen in meinem Wörterbuch standen, erhob sich hier und da ein Gezeter über meine "Beliebigkeitsschreibung". Und dazu kamen noch ein paar Verrückte, die ausgerechnet mir vorwarfen, ich wollte alles festzurren wie ein Schulmeister. Das war schon ärgerlich.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.11.2010 um 18.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17197

Ich sehe gerade: Auch der Duden-Bogen liegt mit dem Bauch auf der Grundlinie. Er ist nur noch eine Spur kleiner. Das paßt jetzt schon. Vielen Dank für Ihren Superbogen!
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.11.2010 um 18.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17196

Lieber Herr Wagner,

nicht übel, nämlich noch kürzer. Genauso gut wie beim letzten Versuch ist die Gestalt: flach, mit wenig Biegung. Jetzt liegt der Bogen mit dem Bauch auf der Grundlinie, die Enden sind etwas darüber. Ein optimaler Bindebogen wäre vermutlich etwas tiefer, er würde am Anfang und am Ende die Grundlinie berühren.

Aber mühen Sie sich um Gottes willen nicht weiter. Im Ernstfall würde man schon einen geeigneten Bogen finden, und das könnte im Internet sehr gut der zuletzt von Ihnen erzeugte sein. Er ist nach meinem Dafürhalten um Klassen besser als der bisher verwendete Bogen. Mein Ideal ist wie gesagt: unauffällig und verbindend, so wie der ehemalige Duden-Bogen, dem Sie jetzt sehr nahe kommen.

Das so dargestellte Wort sollte m. E. einer normalen Zusammenschreibung ohne Bogen ähnlich sehen. Und zwar vor allem wegen solcher Fälle wie fertig_stellen. In vielen Fällen könnten die Nutzer einräumen, daß beide Möglichkeiten etwas für sich haben und die Freigabe ihnen einleuchtet. An fertig_stellen und dergleichen entzündet sich der Protest. Der Betrachter denkt: "Das gibt es doch gar nicht, daß das Wörterbuch hier zwei gleichrangige Möglichkeiten angibt. Was ist denn das für ein komisches Wörterbuch?"

Andererseits: Wenn ausgerechnet das Spezifische an unserem alternativen Wörterbuch kaschiert wird, ist das natürlich eine zweischneidige Sache.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 16.11.2010 um 17.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17195

Lieber Herr Wrase,

da es classgerman nur für Firefox 3.5 gibt, wollte ich 3.6 noch nicht installieren. Der Unicode-Bogen ist definitiv so breit, das geht auch aus der entsprechenden Tabelle (http://www.unicode.org/charts/PDF/U2000.pdf) hervor. Der dortige Eintrag bringt mich auf folgende Idee (Zeichen Nr. 8995, hex. 2323, genannt „smile“ [vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Unicode-Block_Verschiedene_technische_Zeichen]):
ernstnehmen
Wie sehr unterscheidet sich das von dem in #17191; nur in der vertikalen Ausrichtung?

Nachtrag: Ich vergaß zu erwähnen, daß ich diesen Bogen jetzt sehen kann.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.11.2010 um 16.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17194

Lieber Herr Wagner,

vielen Dank. Ich sehe ihn (Firexfox 3.6.12). Schon ein Stück kürzer = besser. Er liegt bei dieser Programmierung auch minimal tiefer, ist aber immer noch zweifellos ein Bindebogen. Der Duden-Bogen war jedoch noch viel kürzer. Vielleicht haben die einfach eine kleine Schriftart für den Bogen verwendet oder sich ein hauseigenes Zeichen basteln lassen?

Natürlich gehören die Benutzungshinweise dazu. Aber die skandalöse Botschaft "Freiheit!" sehen die Leute im Wörterverzeichnis ungleich häufiger. Das kann man schon ein bißchen kaschieren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.11.2010 um 15.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17193

Ohne Erklärung in Benutzungshinweisen kommt kein Bogen aus, egal wie groß er ist (oder unsichtbar ...).
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 16.11.2010 um 15.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17192

Hm, sehr diskret. Genauer gesagt, man sieht nichts (Firefox 3.0.19).
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 16.11.2010 um 14.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17191

Lieber Herr Wrase,

die Tiefstellung liefert der entsprechende HTML-Befehl, der hier (bei den Kommentaren) allerdings nicht frei zugänglich ist; ich muß ihn bei einer nachträglichen redaktionellen Bearbeitung des Beitrags einfügen.
Ich gehe mal davon aus, daß Sie den Bindebogen sehen können, daher probiere ich es einfach mal so:
ernstnehmen.
Wie macht er sich hier?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.11.2010 um 12.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17189

Lieber Herr Wagner,

schade, daß Sie den "Bindebogen unten" in Ihrem Browser nicht sehen. Sonst hätte ich Sie als Zeichen-Crack gebeten, ihn auch mal tiefzustellen. Ich vermute, dann sieht er ähnlicher aus wie im Duden, und man bekommt einen befriedigenden Anblick zum Beispiel bei fertig_stellen. Ich weiß nicht, wie das mit der Tiefstellung geht.

Aber wir können ja auch einfach in den Duden 1991 blicken. Dort sieht man einen sehr kleinen, sehr feinen Bindebogen, zum Beispiel bei fertig_kochen. Ich meine, das wäre schon ein enormer psychologischer Unterschied zum Zeichen "Vereinigungsmenge".
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 16.11.2010 um 11.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17187

Zu #17180:

Der obere Bogen ist das Unicode-Zeichen Nummer 8746 (hex. 222A), es ist ein mathematisches Sonderzeichen und bedeutet "Vereinigungsmenge" (siehe z. B. http://de.wikipedia.org/wiki/Unicode-Block_Mathematische_Operatoren). Als solches ist es für den hiesigen Zweck viel zu groß; ich probiere es mal in Tiefstellung:
ernstnehmen.

Der untere Bogen ist das Unicode-Zeichen Nummer 8255 (hex. 203F), es ist das Interpunktionszeichen "Bindebogen unten" (siehe z. B. http://de.wikipedia.org/wiki/Unicode-Block_Interpunktion,_allgemein oder http://unicode.e-workers.de/unicode3.php). Eigentlich ist es also genau das gesuchte Zeichen, dummerweise zeigt es mir mein Browser (Firefox 3.5.15) nicht an.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 16.11.2010 um 09.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17183

Die s/ss/ß-Verteilung, die man hier sieht, ist nicht nur deshalb schwankend, weil vor Adelung noch mehrere Systeme konkurrierten, sondern sie ist auch stark abhängig von editorischen Entscheidungen. Der Brief ist in deutscher Schreibschrift abgefaßt, die Transkription hingegen erfolgt in Antiqua ohne langes s; ss und ß sind im Einzelfall kaum voneinander zu unterscheiden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.11.2010 um 09.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17182

Daß der Bogen etwas Trennendes haben könnte, ist mir seinerzeit nicht in den Sinn gekommen, auch ist er ja bei den fetten Haupteinträgen dünner als der Rest – aber bitte, wenn das der Eindruck ist, könnte man es ändern. Sollte es zu einer Online-Fassung kommen, wäre das ja Sache eines einzigen Klicks. Im Augenblick steht es nicht zur Diskussion.

Natürlich erhebe ich nicht den Anspruch, den Schreibbrauch vor 1996 absolut fehlerfrei erfaßt zu haben, ich beteuere ja im Gegenteil den Versuchs- und Vorschlagscharakter des Wörterbuchs.
Bei fertigstellen haben meine Recherchen an FAZ und SZ ähnlich eindeutige Ergebnisse gebracht wie die von Herrn Achenbach an der ZEIT. Ich weiß nicht mehr, was mich trotzdem dazu veranlaßt hat, den Bogen zu setzen, vielleicht die Erwägung, daß bei ganz fertigstellen nicht vollkommen klar ist, ob die Modifikation sich auf den ganzen Komplex oder nur auf den Zusatz bezieht. Außerhalb der Zeitung, in der sie verschwindend selten ist, habe ich auch Getrenntschreibung gefunden.
Die einzelnen Funde von Herrn Achenbach sind zweifellos wertvoll, trotzdem berühren sie mich nicht so stark, weil ich die freundschaftlich zugesandten umfangreichen Konvolute von damals noch vor Augen habe, aus denen ich massenhaft Verbesserungen für mein Wörterbuch gewinnen konnte. Wenn also jetzt noch das eine oder andere besser gemacht werden kann – in Ordnung, aber vergleichsweise Peanuts! Ich hoffe, daß die Gesamtkonzeption anerkannt wird, auch wenn die Durchführung (im Alleingang in wenigen Monaten) nicht perfekt ist.
Am meisten verdanke ich Wolfgang Wrase. Er war nicht nur der schärfste Beobachter und Kenner, sondern hat später dann auch den Nachweis der Nützlichkeit meines Entwurfs geliefert. Leider ist die deutsche Rechtschreibung trotzdem auf unabsehbare Zeit zerstört, wie ich beim Lesen reformierter Texte täglich merke und ab und zu in Kurzrezensionen exemplifiziere.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.11.2010 um 03.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17181

Zur Auflockerung mal etwas anderes. Ich habe gestern Briefe von Friedrich Schiller gelesen und dachte, ich muß hier mal vorführen, wie es damals um die Rechtschreibung bestellt war.

Im November 1783 schrieb das 24jährige Genie, krank wie meistens, an seine Gönnerin Henriette von Wolzogen folgendes:

–––––

Meine vorigen Nachläßigkeiten zu verbeßern, und mich vorzüglich durch die wiederholte warme Versicherung meiner noch unverlezten Zärtlichkeit zu versündigen, will ich Sie heute auf die Tortur eines 3 Blatt langen Briefs schrauben – eine Exekuzion, die Ihnen gewis heilsam seyn wird. Alle Ihre Correspondenten werden mirs danken, daß ich Sie durch meine zu grose Dosis von Brief so überfüllte, daß Sie gewis nicht mehr wegen zu kurzem und zu nachläßigem Briefschreiben mit ihnen zanken. – Doch im Ernst, meine Beste, ich habe eben ein verdrüßliches Geschäft geendigt, und will mir jezt in Ihrer Gesellschaft einen desto süßeren Augenblik machen.

Mein böses kaltes Fieber scheint nunmehr nachlaßen zu wollen, denn ich habe bereits 3 Tage keinen Anfall gehabt. Ich lebe aber auch erbärmlich genug um es vom Hals zu schütteln. Schon 14 Tage habe ich weder Fleisch noch Fleischbrüh gesehen. Waßersuppen heute, Waßersuppen morgen, und dieses geht so Mittags und Abends. Allenfalls gelbe Rüben, oder saure Kartoffeln, oder so etwas dazu. Fieberrinde ess ich wie Brod, und ich habe mir sie express von Frankfurt verschrieben. Ein guter Freund hat mir zu meinem Geburtstag 4 Bouteillen Burgunder geschikt – davon wird zuweilen ein Gläschen mit herrlichem Erfolg getrunken, doch mus ich Ihnen gestehen, dass ich mir äuserst wenig aus dem Wein mache, so wolfeil und gut er hier zu haben ist. Mit mehr Vergnügen trinke ich Bier. Freuen Sie Sich also, ich werde mich auf diese Art bald wieder ins Bauerbacher Leben gewöhnen.

Sobald ich gesund bin, wird überhaubt meine Kost sehr einfach eingerichtet. In einem Wek wird mein Frühstük bestehen, um 12 kr. Habe ich aus einem hiesigen Wirtshauß ein Mittagseßen zu 4 Schüßeln, wovon ich noch auf den Abend aufheben kann. Notabene ich habe mir einen zinnernen Einsaz gekauft. Abends eße ich allenfalls Kartoffel in Salz oder ein Ey oder so etwas zu einer Bouteille Bier. Dem ohnerachtet sind meine Ausgaben sehr groß. Wenn ich auch Monats nicht über 11 Gulden fürs Maul aufgehen laße, so kostet mich mein neues logis 5 Gulden, das Holz 2 fl. 30 kr. Und darüber, Lichter 1 Gulden, Friseur einen Thaler, Bedienung von einem Tambour einen Thaler, Wäsch eienen Thaler, Bader 30 kr., Postgeld 1-2 Gulden, Tabak, Papier und tausend Kleinigkeiten ungerechnet. [...]

–––––

Die Orthographie dieser Zeit war nicht das Gelbe vom Ey. Schiller hätte bestimmt die Einheitsschreibung unseres 20. Jahrhunderts angenehm gefunden. Theurer Freund Achenbach, Sie müßen meine Speculazion nicht critisiren.

Aber was Schiller wohl zu unserer "Discussion" gesagt hätte?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.11.2010 um 02.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17180

Lieber Herr Achenbach,

also gut. Auch ich habe mich übrigens mit dem Bogen nicht wohl gefühlt und ging immer davon aus, daß es anderen genauso geht. Ich schlug deshalb brieflich vor, einen unauffälligeren Bogen zu verwenden. Im Moment sieht dieser sperrige Bogen noch immer aus wie ein Abstandhalter. Er nimmt das ganze Mittelband ein und vermittelt nicht den Eindruck von Verbindung, weil er irgendwo oben an den Kleinbuchstaben anknüpft und nicht unten, wo der Schreiber das Zeichen normalerweise beendet. Der frühere Duden-Bogen wäre viel unauffälliger und "verbindender": Er ist kürzer, sehr viel flacher und setzt unten an. Man bemerkt ihn kaum.

Wenn Sie mich fragen, ist ein solches Detail wichtig für die Akzeptanz dieser Notation. Es ist ein bißchen viel für die Nutzer, sich zugleich an ein neues Konzept der Getrennt-/Zusammenschreibung und im Zusammenhang damit an ein ungewohntes und auffälliges Zeichen zu gewöhnen.

Ich empfehle daher nach wie vor einen Bogen von der Gestalt, wie man ihn früher im Duden gesehen hat. Dort hatte er eine ähnliche Bedeutung (der davorstehende Teil sei bei den nachfolgenden Begriffen vorne zu ergänzen), allerdings mit einem großen Unterschied: Es ging im Duden nur um das Ersparen von ständiger Wiederholung, nicht um alternative Schreibungen.

Aber das macht ja nichts. Ich hätte es trickreich gefunden, den Bogen vom Duden zu übernehmen und mit einer neuen Bedeutung aufzuladen, ohne daß sich der Nutzer beim Anblick gestört fühlt. Einen unauffälligen Bogen hätte der Nutzer so interpretiert: "Es gibt auf jeden Fall mal die Zusammenschreibung, das Wort, so wie ich es sehe. Der kleine Bogen weist mich darauf hin, daß dasselbe übrigens auch getrennt möglich ist." Das ist zwar optisch eine Bevorzugung der Zusammenschreibung, aber der Nutzer versteht es dennoch richtig.

Der Duden ist 2000 von dem Bogen abgekommen und schreibt seither immer aus, zum Beispiel: Feinabstimmung; Feinarbeit; Feinbäckerei; Feinblech, während man zuvor nur beim ersten Begriff Fein gesehen hat.

Professor Ickler hat ja vor kurzem mehrmals gesagt, daß er erwägt, künftig ebenso auszuschreiben. Ich glaube, ich würde eher zu einem unauffälligen (!) Bogen raten. Der Grund: Auch das Konzept der an vielen Stellen freigestellten GZS irritiert die meisten Nutzer. Man muß sie nicht an tausend Stellen unübersehbar mit der verhaßten Freiheit konfrontieren. Es genügt, sie ganz leise darauf hinzuweisen, daß es jeweils zwei Möglichkeiten gibt. Um ihnen die künftig größere Freiheit schmackhaft zu machen, darf man auch ein bißchen schummeln und die Zusammenschreibung in den Vordergrund stellen. Wenn es denn überhaupt eine Schummelei ist. Denn die erste Information für den Betrachter ist ja nur: "Es gibt dieses Wort" bzw. "Es gibt diese Zusammenschreibung".

Zum Vergleich:
fertigstellen
fertigstellen

Den unteren Bogen habe ich nicht kleiner hingekriegt. Wichtig: Man muß ihn sich viel kürzer vorstellen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 15.11.2010 um 22.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17179

Liebe Redaktion.
mein letzter Beitrag richtete sich natürlich nicht an Hern Ickler, sondern an Herrn Wrase. Ich bitte dringend um Korrektur. (Ist erledigt. – Red.)
Das übermäßige Grübeln über den Icklerbogen hat mich wohl etwas verwirrt.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 15.11.2010 um 21.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17178

Lieber Herr Wrase,

Sie betreiben schon wieder Motivforschung. Lassen wir es doch bei Argumenten und Gegenargumenten (fast hätte ich das als rhetorische Frage ausgedrückt, angesichts Ihres Beitrags habe ich mir das aber verkniffen).

Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen glaubhaft machen kann, daß ich keine Kritik um der Kritik willen betreiben möchte – und das erst recht nicht bei dem von mir hoch geschätzten Wörterbuch von Prof. Ickler. Ich weiß natürlich auch, und habe es auch gesagt, daß Autoren von Wörterbüchern ständig Entscheidungen in zahlreichen Grenz- und Zweifelsfällen treffen müssen. Es wäre beckmesserisch, daran herumzukritteln. Aber man kann doch zu einzelnen solcher Fragen anderer Meinung sein und dies auch ausdrücken, ohne gleichsam der Majestätsbeleidigung angeklagt zu werden.

Ich bin vom Icklerbogen nicht recht überzeugt und verheimliche das nicht. Jemand hat in dieser Diskussion gesagt (ich finde die Stelle leider nicht wieder), daß er damit anfangs auch Probleme hatte, sich schließlich aber dazu bekehrt hat. Vielleicht geht es mir auch so, wenn ich länger darüber nachdenke.

Billigen Sie mir doch einfach zu, daß ich noch nicht so weit bin.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 15.11.2010 um 12.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17175

Ich stelle jetzt einmal eine Hypothese auf:
Gar bedeutet in den hier diskutierten Fällen sowas wie überhaupt. ‚Überhaupt nicht‘ empfinde ich als klare Getrenntschreibung, weil es sich um zwei klar separat empfundene Bedeutungen handelt. Bei gar hingegen scheint mir die klare Einzelbedeutung verblassend. Darin vermute ich den Grund für die diskutierte Bereitschaft zur Zusammenschreibung.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 15.11.2010 um 04.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17173

Lieber Herr Achenbach,

ich sage Ihnen, wie Ihre Fragen bei mir ankommen. Ich habe immer wieder den Eindruck: Sie könnten sie selbst sehr gut selbst beantworten. Sie stellen die Fragen nicht, um Ihre Erkenntnis zu vermehren, sondern weil Sie das Bedürfnis haben, im Wörterbuch oder in den Ausführungen anderer Schwächen oder Inkonsequenzen nachzuweisen – egal ob es diese gibt oder ob Sie gewaltsam argumentieren müssen, um Ihre Kritik anbringen zu können.

Es ist Ihnen doch selbst klar, daß fertig_stellen in verschiedener Hinsicht ein völlig anderer Fall ist als gar_nicht. Ihre Frage "Hätten Sie dann nicht auch sagen müssen ...?" kommt mir deshalb rhetorisch vor. Wie ich den Eintrag fertig_stellen beurteile, habe ich weiter unten bereits erklärt (17040), bitte ggf. nochmals lesen. Der Fall gehört in eine Gruppe von Verbzusätzen, bei denen grundsätzlich Getrennt- und Zusammenschreibung möglich ist. Die Kombinationen mit gar könnte man zwar ebenfalls zusammenschreiben, und sporadisch kommt das auch vor, es ist aber nicht üblich: In keinem einzigen Fall ist die Zusammenschreibung jemals über den Status einer Nebenvariante hinausgekommen – und befand sich seit hundert Jahren deutlich auf dem Rückzug, wie wir gesehen haben.

In rein statistischer Hinsicht hätte Professor Ickler ein isoliertes fertigstellen auch mit eindeutiger Zusammenschreibung notieren können. Aber dann bekommen Sie erstens einen Bruch der Systematik innerhalb der Gruppe fertig..., zweitens einen Bruch innerhalb der viel größeren Gruppe von Verbzusätzen, und drittens stellt sich dann die Frage: Bei welchen Verbzusatz-Verb-Kombinationen machen wir diese Ausnahme, daß wir allein statistisch entscheiden und nur zusammen oder nur getrennt angeben? Viel Spaß mit diesen Entscheidungen – viel Spaß dem Wörterbuchverfasser und vor allem viel Spaß den Nutzern.

Konkret hätte das den Zweck des Wörterbuchs in diesem Bereich vernichtet. Die Nutzer denken dann: "Bei den meisten dieser Verbzusätze ist mir die Schreibung freigestellt, aber bei einigen ist die Schreibung doch festgelegt. Dann muß ich wohl nachsehen, ob bei fertig_bekommen oder fertig_bringen die Schreibung festgelegt ist oder nicht." Ebenso bei tausend anderen Fügungen mit Verbzusatz. Dann kann der Nutzer auch gleich beim Duden bleiben.

Sie können immer so weitermachen mit Ihren Vorhalten der Art "Ja, aber dort ist es anders gemacht worden, hätte man da nicht auch ...?" oder "Warum sieht jener Eintrag anders aus als dieser?". Richtig, der Wörterbuchmacher muß im einen Fall abrunden und im anderen aufrunden. Er muß verschiedene Aspekte berücksichtigen und mal so, mal so entscheiden, obwohl es vielleicht auch anders denkbar ist. Er muß sich fragen, welche Kriterien jeweils die wichtigsten sind; das kann mal allein die Statistik sein, mal zusätzlich etwas anderes, zum Beispiel auch die Nutzerfreundlichkeit oder die Systematik oder vielleicht auch mal ein Aspekt der Qualität. Ich finde nach wie vor, er hat jeweils gute Entscheidungen getroffen.

Sie interessieren sich für das Eigenleben von Nebenvarianten, die weder dem Duden entsprechen noch nennenswert in Jahrgängen der Süddeutschen Zeitung vertreten sind? Das können Sie ja gerne tun. Wollen Sie, daß Professor Ickler deshalb sein Quellenmaterial um irgendwelche Massen von Forumstexten erweitert und sein Wörterbuch mit zahlreichen weiteren Varianten ergänzt, die aus diesem Material stammen? Da Sie wohl kaum annehmen werden, daß er sich Ihnen zuliebe diese Mühe machen wird, können Sie eigentlich nur bekanntgeben, daß Ihnen der Eintrag gar nicht nicht gefällt, wie Sie es ja bereits getan haben. Muß es sein, daß Sie Beiträge schreiben, in denen Sie immer wieder nahelegen, die Unterschlagung von garnicht sei eine fragwürdige Entscheidung?
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 15.11.2010 um 02.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17172

Lieber Herr Wrase,

Sie sagen, daß die Schreibung garnicht "in guten Texten heute sehr selten vorkommt und deshalb nicht im Wörterbuch stehen sollte".

Sie meinen ferner, die Dudenregeln hätten keinen großen Einfluß auf die tatsächliche Schreibung, vielmehr sagen Sie: "Die Schreiber (auch viele Lektoren) haben sich in erster Linie nach ihrem Sprachgefühl gerichtet und danach, was sie gelesen hatten".

Ich habe mal die Schreibung von fertigstellen/fertig stellen im Zeitkorpus des DWDS überprüft. Das ist ja ein relativ moderner Korpus (ab 1946), wobei die früheren Jahrgänge nicht einmal voll erfaßt sind.

Ich erhalte folgende Ergebnisse für verschiedene Zeiträume, in denen verschiedene Schreibregeln galten:

Verhältnis von fertigstellen zu fertig stellen:

1946 - 1995: 2474 : 4
1996 - 2005: 177 : 216
2006 - 2009: 137 : 71

Ich entnehme daraus, daß die jeweils gültigen Rechtschreibregeln doch einen beachtlichen Einfluß auf die Schreiber (und Lektoren) der "Zeit" gehabt zu haben scheinen.

Hätten Sie 1995 nicht auch sagen müssen, daß "die Schreibung fertig stellen in guten Texten heute sehr selten vorkommt und deshalb nicht im Wörterbuch stehen sollte"? Prof. Ickler hat sich - sicherlich aus guten Gründen - anders entschieden.

Wie man so daß, zu Hause oder gar nicht schreiben "soll", was "richtig" oder "falsch" ist, was in "guten Texten" steht, interessiert mich eigentlich wenig. Ich hielte es aber für einen vertretbaren Standpunkt zu sagen: "Die Schreibungen so daß, zu Hause und gar nicht haben sich nun einmal in guten Texten durchgesetzt. Warum sollten wir dann unnötigerweise weitere Varianten zulassen?" Das wirft aber die auch in diesem Forum nicht recht ausdiskutierte Grundsatzfrage nach dem Umgang mit Varianten auf.

Was mich aber an derartigen abweichenden Schreibungen fasziniert, ist daß sie, obwohl jahrzehntelang "verboten" und (infolgedessen) in "guten Texten" kaum benutzt, gewissermaßen im Untergrund quicklebendig geblieben sind. Ich schließe das einerseits subjektiv aus meinem eigenen Schreibgefühl (obwohl ich glaube so gut wie nur "gute Texte" zu lesen), andererseits objektiv u. a. aus den ausdrücklichen "Verboten" des Duden und den einschlägigen Diskussionen im Internet.

Ich vermute deshalb, daß derartige abweichende Schreibungen durch die gleichen grundlegenden in der Sprachgemeinschaft wirkenden Kräfte hervorgerufenen werden wie etwa die Schreibungen instand oder zugute und überhaupt die deutliche Tendenz zu vermehrter Zusammenschreibung seit etwa Anfang des letzten Jahrhunderts. Beruhte die Schreibung in "guten Texten" allein auf Gewohnheit, könnten solche Veränderungen ja gar nicht stattfinden.

Damit kommen wir zur Frage, ob Wörterbücher sich allein auf Statistiken der beobachteten Schreibung in "guten Texten" verlassen, oder vielleicht auch die beschriebenen Umstände berücksichtigen sollten. Um Einwendungen gleich vorzubeugen: Ich bin mir bewußt, daß diese Frage sehr schwierig, ja vielleicht gar nicht zu beantworten ist.

Lieber Herr Wrase,

wie Sie meinen Bemerkungen vielleicht entnehmen können, bin ich bei der Beschäftigung mit der Rechtschreibung in erster Linie vom Erkenntnisinteresse geleitet, weiger von normativen Fragen. Vielleicht erklärt das, warum wir manchmal aneinander vorbeizureden scheinen.
 
 

Kommentar von Argonaftis, verfaßt am 14.11.2010 um 23.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17171

Es ist schon erstaunlich, wieviel Gehirnschmalz in diesem Faden zu
garnicht und gar nicht aufgewendet wurde. Man möchte hoffen, nicht allzu viele Leser des Forums, schon gar nicht Gelegenheitsleser, hätten sich der Lektüre hingegeben (oder von ihr abgewendet).
Theodor Heuss im Vorwort (Essay) zu Wilhelm Busch » DIE GROSSEN DEUTSCHEN « Bertelsmann 1959: Wohl auch sein Leben, gewiß aber das postume Sein dieses Mannes ist ein goßartiges Paradox.
...Sie (die Münchener Jahre) haben ihm, was die "Schule" anlangt, wohl gar nichts geboten,...
Weiter: ...Daß er sich in ihr (die Unsterblichkeit, in die er stolperte), an die er gar nicht dachte, ohne Störung bewegen könne,...

Andere Verbindungen mit gar in der zweiten Bedeutung (neben fertiggekocht):
nicht gar (... so ernst nehmen); gar wohl ( ...der Bessere gewesen); auf gar kein[en Fall].
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 14.11.2010 um 22.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17169

Werte Diskutanten, mir geht es weder darum, Wörterbucheinträge einzufordern, noch geht es mir darum, von anderen zu verlangen, von mir als möglich empfundene Schreibungen anzuwenden!
Das einzige, worauf ich hinweisen will, ist, daß man auch weniger üblichen Schreibungen gegenüber tolerant sein kann, so lange es keine wirklich stichhaltigen Gegenargumente gibt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.11.2010 um 13.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17166

Die Diskussion um "gamicht" erinnert mich an den Ausweistrick von Victor Klemperer, der einmal, um nicht als Jude verdächtigt zu werden, mit winzigem Aufwand aus seinem Namen "Kleinpeter" machte.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 14.11.2010 um 11.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17164

Genau, Herr Metz. Auf das letztere Argument hat Herr Bärlein bereits mehrfach hingewiesen.

Herr Strasser hat übrigens durchaus von einer Unterscheidung gesprochen und behauptet, bei Getrenntschreibung gehöre nicht zum folgenden Begriff, zum Beispiel: ganz und gar "nicht einverstanden". Außerdem gebe es auch eine verschiedene Betonung je nach Konstruktion.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 14.11.2010 um 11.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17163

Ich habe Herrn Strasser nicht so verstanden, daß er auf einer Unterscheidungsschreibung bestünde, sondern so, daß er auf eine immerhin mögliche Unterscheidung hinweist. Statt ganz und gar | nicht zufriedenstellend würde man aber tatsächlich wohl eher ganz und gar unbefriedigend oder etwas ähnliches sagen. Gegen ganz und garnicht zufriedenstellend ließe sich zudem einwenden, daß man es als Verkürzung von ganz zufriedenstellend und garnicht zufriedenstellend lesen könnte, auch wenn dieses Mißverständnis sehr unwahrscheinlich ist.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 14.11.2010 um 10.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17162

Bei gar nicht habe ich insgesamt gesagt, daß auch die Zusammenschreibung "harmlos" und bei vernünftiger Beurteilung "in Ordnung" ist, aber in guten Texten heute sehr selten vorkommt und deshalb nicht im Wörterbuch stehen sollte. Ich habe dargelegt, daß die Getrenntschreibung in verschiedener Hinsicht "geringfügig besser" oder "etwas besser" ist und deshalb auch von mir gepflegt wird. Was an dieser Bewertung überzogen sein soll, erschließt sich mir nicht.

Nun versuchen Sie, Herr Strasser, einen angeblichen Vorteil der Zusammenschreibung zu konstruieren: Sie ermögliche die Unterscheidung von "ganz und gar nicht" zufriedenstellend und ganz und gar "nicht zufriedenstellend". Im ersten Fall wäre dann sinnvollerweise zu schreiben ganz und garnicht zufriedenstellend, um die Betonung und die Bedeutung klarzustellen.

Das entspricht nicht der Realität. Man sagt nicht Das ist ganz und gar "nicht zufriedenstellend", auch nicht mit einer eigens zu diesem Zweck geänderten Betonung. Man sagt ja auch nicht Ganz und gar ist das nicht zufriedenstellend oder Das ist nicht zufriedenstellend, und zwar ganz und gar. Wenn letztere Anordnung, dann sagt man: Das ist nicht zufriedenstellend, und zwar ganz und gar nicht. Wenn jemand sagt Das ist ganz und gar nicht zufriedenstellend, bedeutet es immer: "Das ist alles andere als zufriedenstellend". Ein Mißverständnis kommt hier nicht auf, genausowenig wie bei vergleichbaren Formulierungen. Derselbe Unterschied bestünde theoretisch ja auch zwischen Das ist "absolut nicht" zufriedenstellend und Das ist absolut "nicht zufriedenstellend".

Der Satz Das ist absolut nicht zufriedenstellend oder Das ist ganz und gar nicht zufriedenstellend ist völlig unproblematisch. Eine Unterscheidungsschreibung braucht man folglich nicht. Wenn es anders wäre, ließe sie sich im Quellenmaterial auffinden, und eine Berücksichtigung im Wörterbuch wäre zu prüfen, falls es sich nicht nur um verschwindend seltene Sonderfälle handelt.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 14.11.2010 um 10.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17161

Nochmals ‚ganz und gar‘, es gibt die Möglichkeiten: Etwas kann ganz und gar etwas sein oder ganz und gar etwas nicht sein. Also etwa: ‚Die Ergebnisse sind ganz und gar zufriedenstellend.‘ bzw. ‚Die Ergebnisse sind ganz und gar nicht zufriedenstellend.‘ In diesem Sinn kommt nur Getrenntschreibung in Frage.
Sage ich aber: ‚Mit den Ergebnissen bin ich ganz und gar nicht einverstanden‘, könnte man auch alternativ schreiben: ‚Mit den Ergebnissen bin ich ganz und garnicht einverstanden‘. Hier besteht ein Bedeutungsunterschied: bei Getrenntschreibung gehört das nicht zu einverstanden, bei Zusammenschreibung ist ‚garnicht‘ ein separater Begriff, der durch das ganz spezifisch verstärkt wird. Auch gesprochen klingen beide Varianten unterschiedlich.

Hr. Wrase, ich schätze Sie seit längerer Zeit als kompetenten Fachmann, manchmal allerdings finde ich Ihre Standpunkte ein wenig überzogen, das ist alles.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.11.2010 um 09.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17160

Herr Achenbach schreibt:

"Nehmen wir das Wort feststellen. Im Wörterverzeichnis des Ickler ist dafür nur die Zusammenschreibung aufgeführt. Nun kann man ja eine Weiche vielleicht nicht nur stellen, sondern auch fest stellen. Bevor Sie nun sagen, daß sei zu weit hergeholt, möchte ich betonen, daß ich nur illustrieren will, daß allein schon die Unterscheidung zwischen obligatorischer und fakultativer Zusammenschreibung zu Grenz- und Zweifelsfällen führen dürfte, die der Wörterbuchautor so oder so entscheiden muß und die wahrscheinlich nicht unstrittig sein werden.

Prof. Ickler differenziert aber auch bei den fakultativen Zusammenschreibungen. Eine Standardformulierung, z.B. bei fest, ist: "als Verbzusatz auch zusammengeschrieben“. In einigen Fällen (wieder, auseinander) heißt es aber: "als Verbzusatz meist zusammengeschrieben. Wo gehört nun das Wörtchen meist hin und wo nicht? Ich fürchte, daß man auch darüber nächtelang diskutieren könnte."

Kommentar:
Im Wörterverzeichnis ist in der Tat für feststellen und festsetzen nur die Zusammenschreibung eingetragen, unter fest gibt es einen Hinweis auf diese Ausnahmen von der Kann-Bestimmung für (Resultativ-)Zusätze. Der Grund ist, daß die geläufigen Bedeutungen für diese beiden Wörter (zu denen man noch festnehmen stellen könnte) nahezu ausschließlich geworden sind, ich habe keine Gegenbeispiele gefunden. Das freie Adverb fest (meistens mit gleichmäßiger Betonung beider Teile) wird natürlich vom Verb getrennt geschrieben, das steht auch noch einmal ausdrücklich unter fest, zusammen mit einer leichtverständlichen Erläuterung. Da der besonders Wißbegierige auch noch, wie so oft, auf § 10 verwiesen wird, glaube ich weiterhin, daß der orthographische Zweifelsfall im großen und ganzen befriedigend behandelt ist. Die Frage, was mit „oft“ und „meist“ gemeint ist, wird im Regelwerk ja auch behandelt. Nächtelang diskutieren kann man nur, wenn man eine Entweder-Oder-Entscheidung sucht, die aber im Bereich der GZS mit linguistischen Mitteln nicht möglich ist, sondern nur durch willkürliche Setzung mit all ihren Folgen. (Zu diesem Ergebnis kommt auch die hervorragende Linguistin Beatrice Primus mit scharfsinnigen Argumenten.)

Welche Probleme wiederholen aufwerfen soll, verstehe ich noch nicht. Bei Betonung auf dem Verb handelt es sich um ein Kompositum, es folgt Zusammenschreibung. wieder als freies Adverb wird getrennt geschrieben, wie alle Adverbien, das kann man nicht in einem Wörterbuch unterbringen, muß man wohl auch nicht. Bleibt der Verbzusatz, stark betont, wie angegeben. Den schreibt man meist zusammen: wiedersehen, wiederholen usw., wie es unter wieder, unter den Verben selbst und unter § 10 angegeben ist. Wie Herr Achenbach darauf kommt, der Benutzer werde sich sicherheitshalber für allgemeine Getrenntschreibung entscheiden, ist mir nicht klar. Er müßte ja so „unbedarft“ sein, daß er sich die Einträge gar nicht genauer ansieht. Dann hätte ich mir die Mühe mit den Bögen und auch mit den Regeln sparen und alles getrennt schreiben können, fast wie die Reformer. Aber bitte schön, auch der unbedarfteste Nutzer ist willkommen, möge er also getrennt schreiben, niemand streicht es ihm an!

Der Duden schleppte seit alters falsche Behauptungen über die Betonungsverhältnisse mit, das scheint unheilbar zu sein.
Richtig ist, wie schon zugegeben, daß im Wörterverzeichnis ein Symbol, das man eigens lernen muß, für viele Benutzer ungünstig ist – auch wenn fast alle bekannten Wörterbücher viel mehr Zeichen benutzen, die in einem eigenen Verzeichnis bzw. Benutzungshinweisen aufgelöst werden.
Ohne Benutzungshinweise kommt wohl kein Wörterbuch aus. Herr Achenbach hat auch meine Benutzungshinweise gelesen: „Daß der Bogen "Wortverbindungen, die in bestimmten Stellungen zusammengeschrieben werden" kennzeichnet, hilft ihm nicht weiter, da er nicht weiß, welche Wortverbindungen und Stellungen denn gemeint sind. Also muß er im Regelteil suchen.“ Ja, was denn sonst? Die Regel, soweit sie sich formulieren läßt, kann doch nicht unter den Benutzungshinweisen stehen! Den Rest besorgt das Wörterverzeichnis. (Insofern ist der Bogen nicht NUR ein Regelverweis, die orthographische Auskunft ist vielmehr mit einer gewissen Redundanz durchaus im Wörterverzeichnis gegeben.)

„Erst wenn ich dem Verweis auf die Regel folge, stelle ich fest, daß es anscheinend doch einen Unterschied zwischen [i]schwerbeschädigt und [i]schwer beschädigt gibt.“
Ja und? Ist es unzumutbar, auch mal dem Verweis zu folgen, wenn man es genauer wissen will?

Bei zusammen und auseinander hat Herr Achenbach recht: Hier ist das Wörterbuch „toleranter“ als meine sonstige Kritik. Dazu haben mich die Tatsachen gezwungen, obwohl ich selbstverständlich die Zusammenschreibung des Verbzusatzes bei weitem besser finde. Das war wirklich schwierig, ich habe mich dafür entschieden, die geschlossene Liste der immer zusammengeschriebenen Zusätze möglichst klein zu halten. (Unter zusammen ist ein blinder Verweis auf einen Unterparagraphen stehengeblieben, wird in der nächsten Auflage beseitigt.)
Insgesamt kann ich die Resignation von Herrn Achenbach nicht teilen. Die Notationsweise im Wörterbuch ist vielleicht nicht optimal, aber die Benutzer haben sich bisher kaum darüber beklagt. Die Hauptkritik richtete sich immer gegen die vermeintlich zu liberalen Lösungen, weil der empirische Ansatz nicht verstanden wurde. An einigen Stellen habe ich Hinweise auf mögliche Unterscheidungsschreibungen gegeben (stehenbleiben u. ä.), aber wir haben nicht ohne Grund damals lange diskutiert, ob Unterscheidungen, die der Schreiber feinsinnig anbringt, vom Leser auch ebenso feinsinnig verstanden werden, wenn sie noch nicht üblich sind.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 14.11.2010 um 09.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17159

Ich finde es lediglich einigermaßen arrogant, wenn jemand, dessen Rechtschreibsicht offenkundig von ‚Duden-Obrigkeit‘ bestimmt ist, sich anmaßt, andere Leute der Rechtschreibfehler zu bezichtigen, wenn sie ‚garnicht‘ schreiben.

Was ist daran arrogant? Auf irgendeine Norm muß man sich ja beziehen, wenn man das Anliegen hat: "Ich möchte, daß mein Text keine Fehler enthält." Das ist in der Werbung aller Regel der Duden oder die "Rechtschreibreform" in der jeweils neuen Fassung, allerdings abzüglich diverser Abweichungen, die sich die Firmen selbst schon erlauben. Wenn dann der Lektor garnicht korrigiert, so er es denn einmal zu Gesicht bekommt, wird er dem Auftrag gerecht – und entscheidet sich zugleich für die in verschiedener Hinsicht etwas bessere Schreibweise, wie ich zuvor gezeigt habe. Natürlich spricht man in einem solchen Fall der Einfachheit halber von "Fehler" und nicht von "Fehler im Sinne des Duden", wie schon gesagt.

Außerdem finde ich es daneben, ausgerechnet mich als jemanden hinzustellen, dessen Rechtschreibsicht offkundig von Duden-Obrigkeit bestimmt sei. Ich kritisiere alles mögliche am Duden und ignoriere ihn auch oft bei meiner Tätigkeit. Nach dem Prinzip "Versuch und Irrtum" habe ich festgestellt, daß außer mir sowieso kaum jemand weiß, welche Schreibweisen dem Duden oder dem aktuellen Reformstand entsprechen. Deshalb entscheide ich mich oft auch dann für die besseren Schreibweisen, wenn sie nicht im Duden stehen. Wenn es mal vorkam, daß jemand sagte: "Wir haben nachgesehen, daß das so gar nicht im Duden steht", habe ich meine Entscheidung immer gut begründen können. Meistens sagte ich: "Danach richtet sich sowieso kaum jemand. Ich habe die übliche Schreibung gewählt. Sie ist besser, weil ... Unter Rechtschreibung sollte man im Zweifel das Übliche verstehen, nicht jeden Blödsinn, der gerade im Duden steht. Das war übrigens auch vor der Reform schon allgemeiner Konsens, wenn auch nicht jedem bewußt. Ihr könnt natürlich auch die Duden-Schreibweise anwenden, wenn ihr euch damit besser fühlt."

Man kann ‚garnicht‘ natürlich auch wegen einer Verwechslungsgefahr mit ‚gamicht‘ ungünstig finden. So lange ‚gamicht‘ aber kein sinnvolles deutsches Wort ist, ist dieses Argument wohl eher theoretisch. Wäre es andererseits stichhaltig, müßte die Schreibung sämtlicher Wörter überdacht werden, in denen rn vorkommt.

Das ist überhaupt nicht theoretisch. Jeder kann sich hier überzeugen, daß rn und m jedenfalls innnerhalb unseres Begriffs ga...icht kaum voneinander zu unterscheiden und damit verwechslungsträchtig sind. Wenn gamicht existierte, wäre die Verwechslungsgefahr nur viel größer, und der Leseirrtum könnte erst später im Satz entdeckt werden. Weil gamicht nicht existiert, wird der Leser in der Regel das Wortbild richtig deuten. Aber nur dann, wenn er ausreichend konzentriert ist. Ein müder Leser liest schon mal das vermeintliche gamicht zu Ende und bemerkt erst dann, daß er etwas falsch gesehen haben muß.

Das Argument "Dann müßte die Schreibweise aller Wörter überdacht werden, in denen rn vorkommt" ist natürlich nicht richtig. Zunächst ist das eine Frage der Typographie (Schriftart, Größe, Schriftschnitt und Zeichenabstand). Der große Typograph Friedrich Forssman hat einmal eine Schriftart des "Spiegel" angeprangert, weil er dort selbst Ungam gelesen hatte und erst bei genauerem Hinsehen zu erkennen war, daß es sich um Ungarn handelte; zum Beleg war die Stelle abgebildet. Auch wir haben hier eine sehr ungünstige Typographie in dieser Hinsicht. Freilich ist eine Schreibweise auch danach zu beurteilen, daß sie in den verschiedensten Schriftarten gut zu lesen ist, auch in derjenigen, die wir hier sehen.

"Alle Wörter mit rn", das ist so abwegig wie die Behauptung: "Tippfehler bei bestimmten Buchstabenpaaren müßten sich gleich häufig ereignen, egal bei welchem Wort und an welcher Stelle des Wortes." In Wirklichkeit kommt es auf jedes Detail an: Wie lang ist das Wort? Handelt es sich um den Wortanfang, das Ende, die Mitte? Welche Zeichen gehen voraus, welche kommen danach? Jedes einzelne Zeichen der Umgebung kann einen großen Unterschied machen. Genau dasselbe gilt für das Lesen, bei dem auch wichtig ist: Wie viele Wörter mit den betreffenden Zeichengruppen gibt es, wie bekannt und wie eigenständig sind sie? Haben die Buchstaben Ober- oder Unterlänge, oder bleiben sie im Mittelband? Bei garnicht vs. gamicht sind die Verhältnisse besonders ungünstig: Der Anfang ga... mit Unterlänge und das Ende ...icht mit 3 x Oberlänge ziehen die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Genau dazwischen steht das unscheinbare rn, es wird nur noch unscharf am Rande wahrgenommen.

Bei der Beurteilung der Leserfreundlichkeit wird man zwar nicht von einem allesentscheidenden Unterschied, aber sehr wohl von einem feinen Qualitätsunterschied zwischen garnicht und gar nicht sprechen können, der zumindest bei einer Reihe von Schriftarten wirksam wird.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 13.11.2010 um 20.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17158

Lieber Herr Achenbach,

von einem Versehen war ich ebenfalls ausgegangen. Auf Ihren betreffenden Passus hatte ich mich lediglich eingangs und nur deshalb bezogen, um das mutmaßliche Mißverständnis – auch für Dritte erkennbar – aus der Diskussion auszugrenzen. Mir kommt es auf denselben Punkt an wie Ihnen.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 13.11.2010 um 18.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17157

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich möchte mich hier nicht für die Schreibung ‚garnicht‘ stark machen! Ich verwende sie selbst auch nicht.
Ich finde es lediglich einigermaßen arrogant, wenn jemand, dessen Rechtschreibsicht offenkundig von ‚Duden-Obrigkeit‘ bestimmt ist, sich anmaßt, andere Leute der Rechtschreibfehler zu bezichtigen, wenn sie ‚garnicht‘ schreiben.

Man kann ‚garnicht‘ natürlich auch wegen einer Verwechslungsgefahr mit ‚gamicht‘ ungünstig finden. So lange ‚gamicht‘ aber kein sinnvolles deutsches Wort ist, ist dieses Argument wohl eher theoretisch. Wäre es andererseits stichhaltig, müßte die Schreibung sämtlicher Wörter überdacht werden, in denen rn vorkommt.

Einige hier vertreten auch, daß die Getrenntschreibung von ‚ganz und gar nicht‘ das Kriterium sei, auch ‚gar nicht‘ getrennt zu schreiben. Die zugrundeliegende Logik verstehe ich nicht, sie wäre auch rein formal und hätte nichts mit Bedeutung zu tun. Derartige nur auf Formalismus und nicht auf Wortbedeutung aufgesetzte Logik ist es aber, die auf Seiten der Reform häufig und zu Recht kritisiert wird und wurde. Etwa die frühere ‚Regel‘, Ableitungen auf -ig, -lich und -isch immer getrennt zu schreiben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.11.2010 um 18.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17154

Natürlich ist der Rundbogen ein Regelverweis, denn selbsterklärend ist diese Notationsweise ja nicht. Wenn ich die vielen Mißdeutungsmöglichkeiten betrachte, die hier aufgedeckt worden sind, wird mein Unbehagen an solchen Verweisen größer. Wie gesagt, man könnte alle in Betracht kommenden Schreibweisen jeweils auch ausdrücklich angeben, der Platzverbrauch wäre gering.

Wenn ich das Wörterbuch nicht mehr für den an sich schon sprachkompetenten Benutzer adressiere, sondern gewissermaßen an einen Automaten, dann muß ich natürlich viel expliziter werden.

Demnächst mehr.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 13.11.2010 um 16.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17153

Lieber Herr Bärlein,

leider ist mir in dem Passus, auf den Sie sich beziehen, ein Fehler unterlaufen. Ich habe versehentlich in wiederholen die Betonung falsch gesetzt. Tatsächlich ging es mir nicht um dieses Präfixverb. Mir war ja klar, daß der Unterschied im Ickler klar dargestellt ist. Mir ging es vielmehr um die Unterscheidung zwischen wiederholen und wieder holen, also um den Unterschied zwischen dem Gebrauch von wieder als Adverb und als Verbzusatz. Im nächsten Absatz habe ich die Betonungen richtig gesetzt.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 13.11.2010 um 10.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17152

Herr Achenbach hat nicht fünf neue Fässer aufgemacht, sondern in Wirklichkeit nur eins. Im Spundloch steckt "wieder_holen". Die Unterscheidung von wiederhólen (repetieren) ist, zumindest in meiner, der vierten Auflage, durch einen eigenen Eintrag klargestellt. Bleibt die Unterscheidung von wíeder holen bzw. wíederholen (zurückholen) und wíeder hólen (noch einmal holen). Im letzten Fall könnte der Nutzer zwar zu einer Zusammenschreibung verleitet werden. Aber ganz so unbedarft ist er ja nicht. Wer "wieder holen" (noch einmal holen) nachschlägt, hat möglicherweise Probleme mit den Dehnungszeichen, aber nicht mit der Getrenntschreibung.

Den "unbedarften Nutzer" halte ich für ein Konstrukt, auf das man ein Wörterbuch nicht abstellen sollte. Wer überhaupt nachschlägt, hat bereits eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was er nachschlägt. Und umgekehrt: Wenn er eine solche Vorstellung nicht hat, hilft ihm kein Wörterbuch der Welt weiter. Dazu fällt mir ein freier Mitarbeiter ein, der immer "Vorort-Termin" schrieb, wenn er eine Ortsbesichtigung meinte. Auf diese Skurrilität war er verfallen nicht obwohl, sondern weil er im Wörterbuch nachgeguckt hatte, wie man "vor Ort" schreibt.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 13.11.2010 um 02.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17151

Lieber Herr Achenbach,

Sie argumentieren sehr sorgfältig. Soll ich Ihnen ehrlich sagen, was ich statt einzelner Antworten zuerst dachte? Ich dachte: Meine Güte, der Strang ist schon so lang und enthält schon so viel. Wir haben bei gar nicht gesehen, wie viele Aspekte man bei einem solchen Einzelfall betrachten und ausführlich diskutieren kann. Jetzt machen Sie gleich noch mal fünf solche Fässer auf und stellen grundsätzliche Fragen dazu. Das wird nach meinem Geschmack zuviel des Guten an diesem Ort. (Sage ich, obwohl oder weil ich selber schon so viel geschrieben habe.)

Ich meine, es wäre vielleicht besser für das Forum, wenn wir diese Fragen an anderer Stelle behandeln, und dann möglichst eins nach dem anderen. Ich nehme an, daß Professor Ickler sein Tagebuch noch lange weiterführen wird. Es wird genug Gelegenheiten geben, Ihren Beitrag unterzubringen. Sie könnten dann Teile davon einfach kopieren. Alternativ könnten Sie sich vielleicht auf ein Thema konzentrieren.

Ich antworte deshalb vorerst nicht (und fahre auch demnächst ins Wochenende). Aber wer möchte, kann natürlich darauf einsteigen.

Oder ich gebe doch eine Antwort, eine allgemeine: was ich als zweites dachte. Wenn Sie mit diesem sezierenden Blick herangehen, wird kein Wörterbuch und keine Regelung vor Ihnen bestehen können. Nachteile haben Rechtschreibregeln immer, erst recht ihre Darstellung. Sie werden immer Inkosistenzen finden, Mängel, Lücken, der Nutzer wird immer entweder Präzision vermissen oder über die Kompliziertheit klagen usw. Es bringt im Grunde nichts, sich mit diesen Schwächen zu beschäftigen, denn sie sind unvermeidlich, so wie jedes Geschöpf und jedes Werk seine Schwächen hat. Wenn Sie einen anderen Ansatz wählen, um bestimmte Nachteile zu vermeiden, werden Sie wieder andere Schwierigkeiten haben. Es ist unmöglich, ein Wörterbuch herzustellen, das der Sprache gerecht wird, wie ich schon sagte. Es ist unmöglich, Regeln zu formulieren, die zugleich nutzerfreundlich sind und alles beantworten. Es ist bei dieser Materie grundsätzlich nícht möglich, ein perfektes Produkt herzustellen, so daß Sie nichts daran aussetzen könnten. Seien Sie doch einfach mal ein bißchen gnädiger eingestellt, ein wenig optimistischer: Man könnte auch die Vorteile sehen und nicht immer nur die Nachteile einer bestimmten Konzeption. Vorteile hat der Ickler nämlich eine ganze Menge, jedenfalls verglichen mit dem Duden, denken Sie mal an das Gewicht (in Gramm). Er hat nicht nur Nachteile.

Ich setze die Vorteile ins Verhältnis zu den damit verbundenen Nachteilen und komme zu dem Ergebnis, daß der Ickler insgesamt zweckmäßiger ist als der Duden, jedenfalls für die meisten Schreiber. Damit ist der Ickler für mich ein gelungenes Werk. Es besser machen als hochspezialisierte Truppe von Experten, die sich mit nichts anderem als Rechtschreibung und Wörterbucharbeit befassen: Das muß erst mal einer nachmachen.

Etwas anderes sind echte Irrtümer innerhalb des zwangsläufig unvollkommenen Werkes oder Mängel, die man ausbessern könnte. Wenn Sie diese dem Verfasser melden, egal ob per Mail oder öffentlich, wird er sich bestimmt darum kümmern.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 13.11.2010 um 01.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17150

Lieber Herr Wrase,

nachdem wir mit garnicht und Konchyliologie ziemlich weit abgeschweift sind, möchte ich doch wieder zum Thema "Icklerbogen" zurückkehren.

Zunächst möchte ich betonen, daß Prof. Ickler ja nicht überall den Icklerbogen setzt. Vielmehr behandelt er bei den Verbzusätzen in § 9 ja zunächst die "obligatorischen Zusammenschreibungen". Dazu gibt er geschlossene Listen von Präpositionen und Partikeln, die immer zusammmengeschrieben werden, sowie eine offene Liste von "einzelnen, zum Teil reihenbildenden Verbindungen" an. Das dürfte natürlich allerlei Abgrenzungsfragen aufwerfen. Ich erinnere auch an die Kritik von Prof. Ickler an der geschlossenen Liste der Amtlichen Regeln von 1996.

Nehmen wir das Wort feststellen. Im Wörterverzeichnis des Ickler ist dafür nur die Zusammenschreibung aufgeführt. Nun kann man ja eine Weiche vielleicht nicht nur stellen, sondern auch fest stellen. Bevor Sie nun sagen, daß sei zu weit hergeholt, möchte ich betonen, daß ich nur illustrieren will, daß allein schon die Unterscheidung zwischen obligatorischer und fakultativer Zusammenschreibung zu Grenz- und Zweifelsfällen führen dürfte, die der Wörterbuchautor so oder so entscheiden muß und die wahrscheinlich nicht unstrittig sein werden.

Prof. Ickler differenziert aber auch bei den fakultativen Zusammenschreibungen. Eine Standardformulierung, z.B. bei fest, ist: als Verbzusatz auch zusammengeschrieben. In einigen Fällen (wieder, auseinander) heißt es aber: als Verbzusatz meist zusammengeschrieben. Wo gehört nun das Wörtchen meist hin und wo nicht? Ich fürchte, daß man auch darüber nächtelang diskutieren könnte.

Eine Hauptfrage ist nun: Was soll der unbedarfte Nutzer des Ickler mit dem Bogen anfangen, wenn er z.B. bei wieder_holen nachschlägt? Auf keinen Fall darf er daraus schließen, daß es egal sei, ob er nun zusammenschreibt oder nicht. Denn das gilt nur, wenn es sich bei wieder um einen Verbzusatz handelt. Also muß er sich zuerst die Frage stellen, ob es sich um einen solchen handelt oder nicht. Nur dann hat er die Wahl, sonst muß er getrennt schreiben.

Welchen Schluß wird der unbedarfte Nutzer daraus ziehen? Doch wohl den, daß es am besten ist, beim Icklerbogen immer getrennt zu schreiben. Dann kann er ja nichts falsch machen.

Genauso argumentiert ja auch der Duden bei attributiv gebrauchten Partizipien und Adjektiven. Das führt zu dem merkwürdigen Ergebnis, daß der Duden einerseits garkochen, anderersets gar gekocht empfiehlt. Allerdings gibt er bei ein frischgebackenes Ehepaar nur die Zusammenschreibung an. Wie er das aus den Amtlichen Regeln ableiten will, ist mir schleierhaft.

Diese Überlegungen des unbedarften Nutzers setzen aber voraus, daß er erstmal herausgefunden hat, was der Icklerbogen eigentlich bedeutet. Dazu muß er zunächst in die "Benutzungshinweise zum Wörterverzeichnis" schauen. Daß der Bogen "Wortverbindungen, die in bestimmten Stellungen zusammengeschrieben werden" kennzeichnet, hilft ihm nicht weiter, da er nicht weiß, welche Wortverbindungen und Stellungen denn gemeint sind. Also muß er im Regelteil suchen. Ist er ein anstelliger Mensch, der alles ganz richtig machen will, wird er sich mit der "Kurzen Anleitung" nicht zufriedengeben, sondern nach geraumer Zeit, wenn er nicht auf den Kopf gefallen ist, auf die §§ 8–11 stoßen. Nachdem er sich diese sorgfältig eingeprägt hat, weiß er endlich, welche Fragen (s.o.) er sich stellen muß, wenn er beim nächsten Mal auf den Icklerbogen stößt.

In anderen Worten: Der Icklerbogen ist keine Anleitung zum Schreiben, sondern ein Regelverweis. Schaut der besagte Nutzer nun im (alten) Duden nach, wird er gleich an Ort und Stelle über den Unterschied zwischen wiederholen und wieder holen belehrt. Falls ihm das nicht ausreicht, wird er noch auf den Eintrag wieder verwiesen.

Vielleicht wird er sich über die beiden Betonungen in wieder holen etwas wundern, aber das wird ihn nicht besonders stören, denn er ist sich ja bewußt, daß er wiederholen und wieder holen unterschiedlich betont.

Nun mag das alles uns, die wir uns intensiv mit der Rechtschreibung und anderen sprachlichen Fragen beschäftigt haben, wenig berühren. Wir trauen uns ein eigenes Urteil zu, wir verlassen uns auf unsere Sprachintuition, wenn wir auf den Icklerbogen stoßen. Daß wir trotzdem häufig ganz unterschiedlicher Meinung sind, stört uns auch nicht. Man muß ja tolerant sein.

Es gibt aber eine Seite der Sache, die mir besondere Sorge macht:

Der Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung, darunter auch besonders die Verbzusatzverben, ist doch der Bereich, der den schärfsten allgemeinen Widerstand hervorgerufen hat. Er war es auch, der meine ersten Zweifel an der Rechtschschreibreform erweckte, nämlich als ich hörte, daß man nur noch schwer beschädigt schreiben solle. Mein erster Gedanke war: "Das bedeutet doch etwas ganz anderes und wird auch ganz anders ausgesprochen."

Im Ickler finde ich nun schwer_beschädigt, und wundere mich. Erst wenn ich dem Verweis auf die Regel folge, stelle ich fest, daß es anscheinend doch einen Unterschied zwischen schwerbeschädigt und schwer beschädigt gibt.

Die Frage der Groß- oder Kleinschreibung hat die breitere Öffentlichkeit dagegen weniger interessiert. Wiesen wir auf den Unterschied zwischen im allgemeinen und im Allgemeinen hin, liefen wir Gefahr, für gefährliche Pedanten gehalten zu werden. Der Unterschied zwischen zusammenarbeiten und zusammen arbeiten leuchtete den meisten dagegen unmittelbar ein.

Prof. Ickler schreibt im "Schildbürgerstreich": "Zwischen Geschwistern, die liebevoll aneinander hängen, und siamesischen Zwillingen, die unglücklicherweise aneinanderhängen, wird in der Schrift nicht mehr unterschieden. Nach dieser Unterregel wäre auch zu schreiben: sich mit einer Sache auseinander setzen. Das ist ein so unerhörter Angriff auf Sinn und Verstand des Lesers, daß ..."

In den "Folgen der Rechtschreibreform" schreibt Prof. Ickler:
"Aber auch und gerade da, wo die Neuregelung »korrekt« angewandt ist, leidet der Sinn: Im Geschichtsbuch I des Cornelsen-Verlags heißt es, daß sich die Menschenaffen und die Menschenvorfahren auseinander entwickelt hatten – als hätten sich die einen aus den anderen entwickelt, während sie sich in Wirklichkeit in verschiedene Richtungen, also auseinanderentwickelt hatten."

Schaut der besagte unbedarfte Nutzer, den all diese Argumente sehr überzeugt haben, nun im Ickler nach, stellt er verblüfft fest, daß es anscheinend doch egal ist, ob man auseinander setzen, auseinander entwickeln, aneinander hängen und zusammen arbeiten getrennt oder zusammen schreibt.

Was bleibt dann von unseren Argumenten noch übrig? Klar, Erfolg versprechender geht nun wirklich nicht. Aber das ist ja inzwischen schon bereinigt. Was dann noch?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 13.11.2010 um 01.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17149

Lieber Herr Strasser,

von Ihnen stammt wahrscheinlich der wichtigste Beitrag in diesem Strang (17082). Dort haben Sie gesagt, daß Ickler gar nichts verbietet. Auch ich verbiete nichts. Unter "Fehler" verstehe ich in meinem Beitrag natürlich das, was meine Auftraggeber darunter verstehen würden, also normalerweise Fehler gemessen am aktuellen Duden. Da ist es schnuppe, daß garnicht für sich genommen eine harmlose Schreibung ist. Marken wie Roche oder Casio, Swiss Life oder BMW möchten in der Printwerbung einen souveränen Eindruck machen, zumal sie eine Menge Geld dafür ausgeben. Der Leser soll nicht sagen können: "Die schreiben ja wie in einem Forum, mal so, mal so. Irgendwie schlampig." Nirgendwo geht es strenger zu als in der Werbung, viel anspruchsvoller als in Buchverlagen. Man erwartet von mir, daß kein einziger Fehler in den Texten nachweisbar sein soll.
Wir könnten natürlich ab jetzt immer "Fehler im Sinne des Duden 2006" oder "Fehler im Sinne der Word-Rechtschreibprüfung" usw. schreiben statt "Fehler". Solange der Kontext klarstellt, worum es geht, bleibe ich bei "Fehler".

Es wurde bereits gezeigt: Es ist kein Zufall, daß gar nicht sich durchgesetzt hat. Bei einem vernünftigen Verständnis sind beide Schreibungen in Ordnung, weil lesbar und verständlich, aber gar nicht ist noch eine Spur besser, unter anderem weil es für eine regelmäßige Schreibung der ganzen Gruppe mit gar sorgt. In der Rechtschreibung setzt sich meistens die bessere Schreibweise durch, auch wenn der Vorteil gering ist und den meisten Schreibern und Lesern gar nicht bewußt wird. Es gibt Leute, die auf feine Qualitätsunterschiede Wert legen, auch und gerade in der Branche Werbung. Das freut mich, und für diese Auftraggeber arbeite ich besonders gern.

Werfen Sie mal einen kurzen Blick auf dieses kursive garnicht. Man muß schon genau hinsehen, um es von gamicht unterscheiden zu können. Bei gar nicht bleibt Ihnen diese Irritation erspart. Das ist auch so ein feiner Qualitätsunterschied bei der Leserfreundlichkeit, der kaum jemandem bewußt wird. Meistens hilft der Kontext, aber wenn Ihre Zusammenschreibung eine Million mal gelesen wird, dann wird in fünftausend Fällen der Leser in die Falle laufen: Er liest gamicht, denkt "Hä?" und kapiert dann: "Ach so, das ist r + n." Gute Rechtschreibung schließt so etwas nach Möglichkeit aus.
 
 

Kommentar von Argonaftis, verfaßt am 12.11.2010 um 23.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17148

Zum Verb flispern (H. Ickler), das zum Wortschatz meiner Mutter zählte, verweist Adelung - 1793 Bd. 2 S. 213 auf flistern.
Mundartlich sagt man auch pischbern für tuscheln.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 12.11.2010 um 21.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17147

Ehrlich gesagt, es würde meinen Glauben an die menschliche Vernunft verletzen, darum glaube ich es auch nicht: daß der einzige Grund für eine Schreibweise die Statistik sein kann. Sollte einmal die Statistik die Vernunft besiegen, dann müßte man doch dafür kämpfen, daß sich die Vernunft wieder durchsetzt.

Für mich ist das Argument "ganz und gar nicht" absolut überzeugend, absolut vernünftig, und man kann nicht mal so, mal so schreiben.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 12.11.2010 um 18.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17146

zu #17143:

„Also fliegen diese Fehler meistens schon beim Texter raus.“
bzw.
„Die Mitwirkung eines Korrektors ist nicht nötig, um die Fehlerquote in so einem Fall unter 1 Prozent zu bringen.“

Die Schreibung ‚garnicht‘ hart als Fehler zu klassifizieren, halte ich für ziemlich übertrieben! Wir haben festgestellt, daß die Schreibung ‚gar nicht‘ statistisch überwiegt, das ist es aber auch schon!
Deswegen aber die Schreibung ‚garnicht‘ als Fehler (oder auch „verbotene“ Schreibung) anzuprangern, widerspricht meinem Sprachempfinden zutiefst!
Jemand, der ‚garnicht‘ schreiben will, soll ‚garnicht‘ schreiben, der einzige Grund, es nicht zu tun, wäre nämlich die statistische Seltenheit – na und, wen schert‘s?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 12.11.2010 um 18.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17145

Die Franzosen halten an dem Begriff fest, und so heißt es denn: «La conchyliologie est la branche de l'histoire naturelle consacrée à l'étude des mollusques à coquille.»
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 12.11.2010 um 17.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17144

Lieber Herr Achenbach,

Duden 1991, 2000, 2006 stimmen darin überein:
Konchylie, die; -, -n meist Plur. (Zool. Schale der Weichtiere)

Die Weichtierkunde bestand ursprünglich vor allem darin, die faszinierend vielgestaltigen und haltbaren Gehäuse der Weichtiere zu untersuchen. Die Schale stand pars pro toto für das ganze Tier, sowohl in der Forschung als auch bei der Begriffsbildung.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 12.11.2010 um 17.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17143

Vielen Dank für die Recherche! So langsam lichtet sich der Nebel.

Ich habe jetzt auch mal die Suchfunktion auf meine Dateien angewendet. Ich speichere nicht alle Werbemittel, die ich bearbeite, aber vielleicht ein Zehntel, vielleicht ein oder zwei Jahre lang. Werbeagenturen betreuen ihre Kunden längerfristig. Dann kann ich bei Bedarf bestimmte Inhalte, Namen, Schreibweisen, Preise usw. recherchieren und abgleichen. Es sind Dokumente in dem Zustand, wie sie zu mir kamen.

Im Moment sind es 1.381 Dateien.
Dateien, in denen gar nicht vorkommt: 80
Dateien, in denen garnicht vorkommt: 0

Auch wenn es nur eine Stichprobe aus allen Aufträgen ist: Es könnte durchaus sein, daß ich zwei Jahre lang kein einziges garnicht zu korrigieren hatte. Oder möglicherweise ein paar einzelne in den übrigen Dateien, die ich nicht gespeichert habe.

Woher kommt diese Quote von vermutlich unter 1 Prozent, im Gegensatz zu dem Forum von Herrn Bärlein mit 10 Prozent? Höchstwahrscheinlich läuft in dem Forum keine automatische Rechtschreibprüfung. Werbetexter sind zwar oft nicht die sorgfältigsten Schreiber, aber sie machen sich in der Regel wenigstens die Mühe, die von Word unterschlängelten Begriffe anzusehen und ggf. zu korrigieren. Word unterschlängelt garnicht und garnichts. Also fliegen diese Fehler meistens schon beim Texter raus. Außerdem: Wenn Word zehn oder zwanzig mal den Fehler gemeldet hat und den Schreiber zur Korrektur veranlaßt hat, merkt er sich das irgendwann. So schwer ist es dann auch wieder nicht. Dasselbe dürfte für Journalisten gelten, die etwa für die Süddeutsche Zeitung schreiben. Zumindest wenn sie davon ausgehen, daß kein Schlußredakteur mehr draufsehen wird, werden sie die Rechtschreibhilfe in Anspruch nehmen.

Außerdem sehen in der Werbung mehrere Leute den Text, bevor er zum Lektor kommt: der Kontakter, der Kunde oder verschiedene Personen beim Kunden. Da gibt sich auch der Kontakter, der die Agentur gegenüber dem Kunden vertritt, ein bißchen Mühe, damit kein schlampiger Text rausgeht, und sieht genauer hin. Ich werde meistens erst später eingeschaltet, wenn das Werbemittel ein "finales" Stadium erreicht hat. Es gibt dann immer noch genug für mich zu tun. Word allein kann nicht für einen tadellosen Text sorgen.

Diese beiden Faktoren reichen m. E. aus, um den Unterschied zu erklären. Die Mitwirkung eines Korrektors ist nicht nötig, um die Fehlerquote in so einem Fall unter 1 Prozent zu bringen.

Übrigens wäre durchaus ein liberaler Eintrag möglich:
gar_nicht; ganz oder gar_nicht; aber ganz und gar nicht

Es hat aber etwas mit Textqualität zu tun, daß man über die einzelne Textstelle hinausdenkt und es vermeidet, ständig zwischen garnicht und gar kein(e, er) usw. hin und her zu wechseln. Ein guter Schreiber sorgt für ein gleichmäßiges Schriftbild bei diesen sehr ähnlichen Fügungen, egal ob sich sich auf einer Seite häufen oder nicht. Das ist auf die Dauer sogar für ihn selber einfacher. Wenn er das einmal verstanden hat, wird er Word in solchen Fällen auch nicht als Gängelband, sondern als Hilfe empfinden. Professor Ickler hat mit guten Gründen Texte von dieser besseren Sorte untersucht und kein gedankenloses Forumsgeschreibsel untergemischt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.11.2010 um 16.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17141

In Büchern um 1900 herum habe ich sehr viele überraschende Zusammenschreibungen wie garnicht gefunden. Ob nur der Duden sie wieder aus der Mode gebracht hat, weiß ich nicht.
Mozzarella ist schon notiert.

Wenn mein alter Freund Drosdowski noch lebte, würde er lachen angesichts unserer Diskussion. Er war zuerst richtig böse, weil ich in einer ganzseitigen Besprechung in der FAZ dem damals sechsbändigen Großen Wörterbuch allerlei Lücken nachgewiesen hatte. Thomas Steinfeld hatte ein Beispiel gleich in die Überschrift befördert: flispern. Tucholsky hatte darüber nachgesonnen, was die Birkenblätter im Wind machen, und es nicht gefunden. Ich hatte es bei Jung-Stilling gelesen: sie flispern. Aber mein Rüffel für den Duden galt nicht dieser Lücke selbst, sondern der Vernachlässigung der klassischen Literatur, mit deren Totheit ich mich nicht abfinden wollte. Inzwischen haben Feminismus und andere Schwachheiten solche feinsinnigen Überlegungen obsolet werden lassen. Drosdowskis Zorn hielt aber, wie gewohnt, nicht lange an, und er hat mir ja dann einiges anvertraut.

Mein Wörterbuch ist damals so entstanden: Ich hatte mir zunächst eine viel längere Wörterliste aus vorhandenen anderen Wörterbüchern zusammengestellt. Die Auswahl und die Überprüfung der Schreibweisen geschah dann mit Hilfe von Zeitungskorpora und anderen Mitteln. Es sind durchaus auch Wörter hinzugekommen, aber niemand kann aus dem hohlen Bauch alles finden, was es so gibt. Auf die Probefassung hin haben dann viele Freunde und auch unbekannte Personen Ergänzungsvorschläge gemacht. Das könnte immer so weiter gehen, wenn es denn immer wieder neue Auflagen gäbe. Am besten wäre eine Internetfassung, das machen wir vielleicht bald. Dann könnte man in nullkommanichts die Mozzarella nachtragen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 12.11.2010 um 16.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17140

Lieber Herr Wrase,

wie definiert der Duden 2000 denn Konchylie?
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 12.11.2010 um 12.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17138

Die interne Suchfunktion eines Forums, in dem ich mitlese, zeigt für die vergangenen zwölf Monate 2000 Treffer für gar nicht und (nicht ganz taggleich) 234 Treffer für garnicht an. Daran gemessen ist meine Wahrnehmung der Häufigkeit von garnicht in unbearbeiteten Texten ("häufiger untergekommen als die Getrenntschreibung") ebenso maßlos übertrieben, wie die von Herrn Wrase ("weniger als ein Prozent") untertrieben ist. Dafür, daß der Anteil in Texten nach Korrektur sich tatsächlich im Promillebereich bewegen dürfte, sind über zehn Prozent jedoch beachtlich. Die Tendenz zur Zusammenschreibung scheint mir evident.

Ins Wörterbuch gehört garnicht damit jedoch noch lange nicht, und zwar, weil es zu einer sinnwidrigen Verneinung von ganz und gar führt. Darauf hatte ich mit meiner betreffenden Intervention hinausgewollt: garnicht eignet sich nicht dazu, beispielhaft Toleranz, den Icklerbogen oder sogenannte schwankende Schreibungen zu diskutieren.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 12.11.2010 um 02.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17131

Ich habe nicht alle Duden, kann aber folgendes berichten.

1980: Lehre von den Konchylien, bes. von ihren Gehäusen
1991: Lehre von den Gehäusen der Konchylien
1996: Lehre von den Gehäusen der Konchylien
2000 ff.: Lehre von den Konchylien

Die sinnverändernde Kürzung wurde also 2000 durch weitere Kürzung bereinigt. Im Blick auf die Stichwortauswahl geht es aber darum, daß der Begriff im Deutschen vor etwa 100 Jahren außer Gebrauch kam. Wenn man ihn in Google eingibt, erhält man in erster Linie Verweise auf dieses Buch: Einleitung in die Konchyliologie oder Grundzüge der Naturgeschichte der Weichthiere (1853). Ein Eintrag aus dem Brockhaus Konversationslexikon (1902–1910) wird angezeigt. Oder eine Textstelle bei Darwin, Über die Entstehung der Arten (1859). Eine weitere: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste (Ersch, Gruber), Zweite Section, Fünfter Theil (1829).

Heute sagt man Malakologie (Lehre von den Weichtieren) bzw. Conchologie (Lehre von den Gehäusen der Weichtiere). Der erste Begriff ist immerhin im Duden verzeichnet. Daß jedoch Konchyliologie drinsteht und Conchologie fehlt, obwohl wegen C/K rechtschreiblich relevant – das ist so, als stünde seit 100 Jahren Kanapee (Sitz- und Liegemöbel) im Wörterbuch, nicht aber Sofa.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 11.11.2010 um 21.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17129

Übrigens ist die Konchyliologie doch nicht bloß die Lehre von den Gehäusen der Konchylien. Stand das so im Duden?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 11.11.2010 um 19.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17128

Lieber Herr Achenbach,

Kritik wäre in der Tat fehl am Platz, was die Lücken betrifft, der Verfasser hat nämlich nicht wenige geschlossen. Ich gebe Ihnen ein Gegenbeispiel: Pitbull hatte der Duden erst 2004. Da gab es den Ickler mit Pitbull schon in der dritten Auflage, wenn ich richtig rechne. Na was sagen Sie jetzt? Wenn jetzt noch Snobiety rausfliegt und Mozzarella reinkommt, ist die Stichwortauswahl perfekt.

Mein Theoriewechsel, lieber Herr Bärlein, mußte zwangsläufig stattfinden, nachdem Sie meine erste Arbeitshypothese (mangelnde Zählleistung bei unauffälligem gar nicht) zurückgewiesen haben.

Die Diskussion erschöpft sich leider, weil unsere Quellen nicht die ganze Wahrheit offenbaren und die persönlichen Einschätzungen unvereinbar auseinandergehen. Herr Achenbach und Herr Bärlein vertreten die These, es gebe eine beachtliche Tendenz zu garnicht, und dieses könne als Parallele zu sodaß in den Ickler aufgenommen werden. Herr Bärlein sieht massenhaft Zusammenschreibung, ich kaum welche, obwohl unsere Schreiber so ungefähr dieselben sein dürften. Woran liegt das? Ein Rätsel.

Ich bin übrigens auch über das Verzeichnen von sodaß nicht begeistert gewesen. Ich mußte mich damit abfinden, daß Professor Ickler aufgrund seiner Daten zu dem Ergebnis gekommen ist, sodaß sei eine Variante von respektablem Gewicht, anders als garnicht. Ob er möglicherweise die Variantenprüfung im letzteren Fall ausgelassen hat, weiß ich nicht. Man muß ja immer zuerst auf die Idee kommen, daß bei einem Eintrag wie gar nicht Varianten fehlen könnten; möglicherweise aufgrund von Fehlerstatistiken. Ich weiß nicht, ob Professor Ickler so etwas verwendet hat. Ich habe mich mit derlei Statistiken nicht beschäftigt. Ich habe meine Fehlerstatistiken im Kopf, und da spielt weder sodaß noch garnicht eine beachtenswerte Rolle.

Was bleibt an Erkenntnis? Ickler verbietet keine Schreibweisen, sondern verzeichnet die üblichen. Die Grundlage für das Urteil, was üblich ist bzw. zum damaligen Zeitpunkt üblich war, können keine privaten Vorlieben von einzelnen Personen wie mir oder Herrn Achenbach sein. Zeitungsjahrgänge waren eine gute Wahl: viele verschiedene geübte Schreiber, die über das Anfängertum hinausgewachsen sind und für eine gewisse Qualität bürgen – und kaum Korrektoren, die die Texte verfälscht hätten. Diese real existierenden brauchbaren Schreibungen zusammenzufassen war das Unternehmen.

Man kann diesen oder jenen Eintrag gelungen oder unschön finden. Ob garnicht in einem deskriptiven Wörterbuch verzeichnet wird, hängt aber nicht von den Empfindungen einzelner Gutachter ab. Wenn genug Schreiber der angeblich starken Tendenz zur Zusammenschreibung gefolgt sind, wird die Variante in einem solchen Wörterbuch verzeichnet werden. Einstweilen ist aber ausweislich der DWDS-Recherche anzunehmen, daß sich ihr Anteil in Texten von ernstzunehmender Qualität im Promillebereich bewegt. Zuwenig für den Ickler (meine ich jedenfalls).
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 11.11.2010 um 18.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17127

Die Verhältnisse bei garnicht und sodaß sind grundverschieden. Die Form sodaß war österreichischer Standard, garnicht hingegen immer eine offiziell unzulässige Variante, die aber ihre beste Zeit hinter sich hat.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 11.11.2010 um 17.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17126

Lieber Herr Wrase,

ich kann mir den Hinweis nicht verkneifen, daß Mozzarella auch im Ickler (2004) fehlt.

Aber, um Himmels willen, verstehen Sie das bitte nicht als Kritik am Ickler.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.11.2010 um 17.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17124

gar ist als kurze Form von sogar quicklebendig, und da fällt dem Literaturfreund bestimmt die Huldigung Adornos für Stefan Georges berühmte Zeilen ein:

(...)
Nun drängt der mai
Nun muss ich gar
Um dein aug und haar
Alle tage
In sehnen leben.


Adorno las in dieses gar was anderes hinein und fand die Verse daher über alle Maßen schön, während Gerhard Kaiser darin nur sogar sieht und Adornos Interpretation folglich "Tiefsinnsquatsch" nennt.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 11.11.2010 um 17.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17123

Lieber Herr Wrase,

Sie scheinen sich aber etwas selektiv nur auf bestimmte Statistiken zu stützen. Ich bin Ihnen ja dankbar, daß Sie auf den merkwürdigen Rückgang der Fundstellen für garnicht beim DWDS hingewiesen haben (und auf die nützliche Darstellungsmöglichkeit des "Wortverlaufs", die mir bis dahin entgangen war).

Ich habe aber auch darauf aufmerksam gemacht, daß der DWDS bei sodaß haargenau das gleiche Bild liefert. Daraus müßten Sie dann ja auch schließen, daß die Variante sodaß "in besseren Texten im Lauf des letzten Jahrhunderts nahezu ausgestorben ist und keinen nennenswerten Boden mehr hatte".

Prof. Ickler sagt dazu aber: "Bei so daß bahnt sich Zusammenschreibung an: sodaß" (§ 12, Anm. 2 seines Wörterbuchs).

Ich ziehe daraus den Schluß, daß das DWDS-Ergebnis bei garnicht vermutlich genauso irreführend ist wie bei sodaß.

Auch bei den anderen Ergebnissen, die ich angeführt habe, kommen mir Zweifel. Etwa bei zuhause fallen im Wortverlauf drei Spitzen in den 50er, 70er und 80er Jahren auf. Bei näherem Hinsehen stelle ich fest, daß für den Zeitraum 1946 - 1958 (!) ingesamt etwa 37 Treffer allein aus dem Tagebuch von Viktor Klemperer stammen. Das Ergebnis für die 70er und 80er Jahre ist hauptsächlich durch drei bis vier Autoren bestimmt, darunter Enzensberger.

Nach diesen Erfahrungen zweifle ich allmählich daran, ob der DWDS-Korpus wirklich mehr taugt als Google.

Sie meinen, daß ich den Einfluß des Duden überschätze. Davon bin ich nicht überzeugt, besonders wenn es sich um häufige Wörter handelt, die im Schulunterricht eben auch häufiger auftauchen. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß ich schon als kleiner Schuljunge erstaunt, ja verärgert war, daß ich nicht sodaß und zuhause schreiben durfte. Solche "Fehler" wären mir im Diktat oder Aufsatz bestimmt nicht so konsequent angestrichen worden, wenn es nicht so im Duden gestanden hätte.

Der ursprüngliche Duden befaßte sich ja kaum mit Fragen der GZS und der GKS. Viele Einzelfallfestlegungen sind ja erst durch die Zusammenlegung mit dem Buchdruckerduden oder noch später in den allgemeinen Duden gelangt. Daß sich die damals erwachsenen Autoren um diese Neuerungen des Duden nicht geschert haben, ist naheliegend. Ich vermute deshalb, daß diese Einzelentscheidungen des Duden erst über den Schulunterricht in die Sprachgemeinschaft eingedrungen sind, also mit Verspätung von etwa einer Generation. Das könnte ja die DWDS-Ergebnisse zu so häufigen Wörtern wie sodaß/so daß und garnicht/gar nicht immerhin erklären.

Immernin gibt es ja noch die anderen Hinweise, wie die zitierte Regel des Duden, die Debatten über garnicht/gar nicht im Internet und die Erfahrungen von Herrn Bärlein. Dazu noch ein Zitat aus dem Internet: "Gar nicht, schreibt man gar nicht zusammen. Stimmt diese Regel?
Denn ich lese immer wieder beides." All diese Hinweise kann man doch nicht einfach vom Tisch wischen.

Schließlich gibt es auch ohne empirische Untersuchungen gute Gründe, eine Tendenz zur Zusammenschreibung garnicht zu vermuten. Das Wörtchen gar ist ja als selbständiges Adverb heute ja so gut wie ausgestorben. Es lebt als Bestandteil fester Wendungen wie gar nicht oder ganz und gar noch fort. "Sie war ein gar liebliches Mädchen" würde heute jedoch keiner mehr sagen oder schreiben. Deshalb ist heute die Wortgruppe gar nicht allein aus ihren Bestandteilen nicht verständlich. Bei sogar und Garaus ist die Entwicklung zur Zusammenschreibung schon lange abgeschlossen. Ein weterer Kandidat wäre gar so. Tatsächlich findet man garso schon im Internet.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 11.11.2010 um 14.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17121

Lieber Herr Wrase, es wird umgekehrt ein Schuh daraus. zuhause – im "Ickler" ist es sogar der Haupteintrag – konnte nur deshalb Verbreitung finden, weil und soweit es irgendwann eben auch den Korrektoren nicht mehr auffiel und deshalb auch sie nicht mehr im Duden nachguckten.

Im übrigen argumentieren Sie etwas unlogisch, wenn Sie zuerst sagen, die paar garnicht in Manuskripten seien mir überproportional stark aufgefallen, und dann, ich hätte mich wohl daran gewöhnt und hielte diese Schreibung deshalb für die unauffälligere. Professionalität in der Textbearbeitung – die Sie mir zubilligen werden – bedeutet, daß man auch die unauffälligen Probleme kennt. Das Erstaunliche ist doch, daß Redakteure und Korrektoren bei garnicht fast immer eingreifen, die Leute also so gut wie gar nichts anderes als "gar nicht" gedruckt zu lesen bekommen, aber manche trotzdem immer wieder Texte mit "garnicht" abliefern.

Grundsätzlich finde ich ihre Theorie von der überlegenen Normativität des Gelesenen richtig, aber sie greift in manchen Fällen nicht. Dazu gehören auch Rückumstellungsprobleme nach 2006 bzw. 2007. So werden seit geraumer Zeit den Zeitungen von den Agenturen dpa und AP weit überwiegend wieder die Schreibungen sogenannt und kennengelernt geliefert. Trotzdem überwiegen in den Redaktionen selbst, soweit ich es beobachten kann, immer noch so genannt und kennen gelernt. Die Leute haben halt acht Jahre lang gelernt, die auffälligere Schreibweise für die richtige zu halten. Das blockiert heute die Vorbildfunktion des Gelesenen, um so mehr, als die herkömmlichen Schreibungen eben in der Regel die unauffälligeren sind.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 11.11.2010 um 12.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17119

Ja nun, lieber Herr Bärlein, wenn Ihnen mehrheitlich garnicht angeliefert wird, gewöhnen Sie sich natürlich daran und halten das nach einer Weile für mindestens so unauffällig wie gar nicht. Trotzdem wundert mich das Ganze. Was sind denn das für Schreiber? Und nicht einmal die Korrektoren wußten, was der Duden bei zu Hause verzeichnete? Merkwürdig. Vielleicht hat einer nach dem anderen in der Redaktion irgendwann zum Nachbarschreibtisch hin gefragt, ob man zusammen- oder getrennt schreibt, weil man ja immer zu faul ist, im Duden nachzusehen. Und dann setzte sich das Gerücht durch, daß Zusammenschreibung angesagt ist. So was gibt's.

Ich bleibe jedenfalls insoweit bei meiner Theorie: Die Mehrheitsschreibung gar nicht ist unauffällig. Gute Schreibungen, übliche Schreibungen sind unauffälig. Das gilt auch für diejenigen, die sich haben sagen lassen oder irgendwann die Vermutung aufgestellt haben, daß man garnicht schreiben solle. Sie sehen als Leser immer wieder das unauffällige gar nicht und bemerken es nicht. Erst wenn krasse, ungewohnte Schreibungen ankommen wie nach der Reform, fällt es auf, es prägt sich sofort ein. Das Auffällige wird dann bewußt nachgeahmt und auch gleich generalisiert.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 11.11.2010 um 10.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17118

Jetzt habe ich auch ein bißchen gegoogelt und festgestellt, daß die Alternative gar nicht/garnicht im Netz immerhin diskutiert wird. Ein Merkspruch lautete "gar nicht zusammen geht gar nicht". Daß sich überhaupt jemand einen Merkspruch ausdenkt, scheint mir ein starkes Indiz dafür zu sein, daß garnicht ganz so randständig wohl doch nicht ist. Trotzdem, da gebe ich Ihnen recht, Herr Wrase, ist meine Wahrnehmung möglicherweise verzerrt. Bei einem begrenzten Mitarbeiterstamm mit geringer Fluktuation kann es natürlich purer Zufall sein, wenn er mehrheitlich garnicht als Marotte pflegt. Allerdings widerspreche ich Ihrer Vermutung, die korrekten gar nicht seien mir wohl gar nicht aufgefallen. Ich halte, im Gegenteil, garnicht für die unauffälligere Schreibweise.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 11.11.2010 um 08.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17117

Bei meiner Tätigkeit sieht es nicht anders aus. Die Texte, die ich korrigiere, sind etwa zur Hälfte mehr oder weniger laienhaft, was die Orthographie betrifft. Manchmal muß ich in jeder Zeile etwas korrigieren. Ich vermute, Herr Bärlein, daß sich Ihre Aufmerksamkeit für garnicht ("orthographische Klippe, die den Kontrollblick des Textbearbeiters stark anzieht") so auswirkt, daß Sie diese Fälle weit überrepräsentiert wahrnehmen. Die ganzen korrekten gar nicht fallen Ihnen nicht auf und werden von Ihnen nicht richtig gezählt, da bin ich ziemlich sicher.

Meine persönliche Schätzung für das bunte Kollektiv von Schreibern, deren Texte ich prüfe: weniger als 1 Prozent Zusammenschreibung. Da unterscheidet sich unsere Erfahrung bzw. Wahrnehmung enorm!

Ich weise nochmals darauf hin: Alle Schreibweisen wirken sich auf andere Schreibweisen aus – auch beim einzelnen Schreiber. Wer regelmäßig gar kein und gar nie schreibt, gar niemand sowie ganz und gar nicht, wird jedesmal an die Selbständigkeit von gar erinnert, er schreibt deshalb sehr wahrscheinlich auch gar nicht und gar nichts. Hinzu kommt die Verstärkung über das Lesen. Dieser Zusammenhang ist sehr viel stärker als irgendwelche Einträge im Duden.

Kennt jemand eine Möglichkeit, den Fall garnicht für nichtredigierte Texte zu prüfen, also so etwas wie ein zuverlässiges Google?
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 11.11.2010 um 07.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17115

Lieber Herr Wrase, mit "Manuskripten" meinte ich Zeitungsmanuskripte, also das Rohmaterial, das der Redakteur auf den Schreibtisch bekommt und das idealerweise (nämlich damit die Reihenfolge einen Sinn hat) von weniger kundigen Schreibern stammt. Das ist auch fast schon die Erklärung für die Diskrepanz zwischen Ihren und meinen Beobachtungen. gar nicht ist eine kleine orthographische Klippe, die den Kontrollblick des Textbearbeiters ähnlich stark anzieht wie nämlich oder wie ein Fremdwort. Deshalb kommt garnicht gedruckt nur sehr selten vor. (Das Gegenbeispiel ist zuhause, vor der Reform sehr stark verbreitet. Ein früherer Kollege achtete sehr streng darauf, daß es so und nicht anders geschrieben wurde, obwohl er die Abweichung von der Schreibung nach Hause für eine typische Duden-Spitzfindigkeit hielt. Daß der Duden etwas anderes als zuhause vorgesehen haben könnte, kam ihm gar nicht in den Kopf. Mir damals übrigens auch nicht, und den Korrektoren ebensowenig.)
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 11.11.2010 um 04.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17114

Vielen Dank für diesen anschaulichen und feinsinnigen Beitrag, Herr Metz.

An Herrn Achenbach: Mit Duden-Wahnsinn habe ich nicht die notwendigerweise willkürliche Grenzziehung bei der Stichwortauswahl gemeint, obwohl der Duden auch da versagt hat: jahrzehntelang ärgerlich viele Lücken und auffällig viele Leichen, jedenfalls im Rechtschreib-Duden. So stand der scheinlebendige Eintrag Konchyliologie drin ("Lehre von den Gehäusen der Konchylien"), hingegen fehlte Mozzarella von Ausgabe zu Ausgabe, erst 1996 wurde die Lücke geschlossen.

Mit Duden-Wahnsinn habe ich jene eigenwilligen Anweisungen gemeint, die nicht notwendig waren, sondern unrealistisch, kompliziert, widersprüchlich. Ein Wust von überflüssigem Murks, den niemand beherrscht hat. Anders gesagt: Die Leichen des Duden bestanden hauptsächlich auf der Ebene von differenzierten Einzelfallregelungen zu bestimmten Schreibungen, die mit der Schreibwirklichkeit so wenig zu tun hatten wie die Garnelensammlerin. Auf den Müll damit!

Professor Ickler schreibt immer wieder: "Wir sind uns doch im wesentlichen längst einig" oder "Alles schon hundertmal besprochen". Da hat er recht, und ich meine im Gegensatz zu Herrn Metz, daß die Diskussion nicht besonders wertvoll ist, sondern zu größeren Teilen eigentlich überflüssig. Was gibt es eigentlich zu streiten?

Im Moment dreht sich die Diskussion um die Zuverlässigkeit von statistischen Erhebungen oder persönlichen Eindrücken sowie um die Deutung der Befunde. Da immerhin kann man verschiedener Meinung sein.

Herr Achenbach, Sie haben meine Beobachtung bestätigt, daß die Nebenvariante garnicht in besseren Texten im Lauf des letzten Jahrhunderts nahezu ausgestorben ist und keinen nennenswerten Boden mehr hatte. Sie führen das auf die Allgewalt der Duden-Norm zurück. Da überschätzen Sie den Einfluß des Duden. Der Duden konnte vorschreiben, was er wollte – die Schreiber (auch viele Lektoren) haben sich in erster Linie nach ihrem Sprachgefühl gerichtet und danach, was sie gelesen hatten. So schreibt jeder von allen anderen ab, und es entsteht Rechtschreibung. Vielleicht ein wenig unterstützt vom Duden, oft aber auch gegen den Duden. Sie selbst bestätigen das anhand von DWDS-Recherchen: Der Häufigkeitsverlauf von Schreibweisen, die dem Duden nicht entsprachen, sieht entweder genauso aus wie bei garnicht, also stetiger Rückgang – oder ganz anders: kein Rückgang. Neuerdings haben wir wieder eine anschauliche Bestätigung für die Machtlosigkeit des Duden: die Fehler der Sorte hinaus gehen oder zurück schauen, die uns seit der Refom überschwemmen, ohne daß sie jemals im Duden standen. Hier sieht man, worauf Schreibungen beruhen: Einer schreibt vom anderen ab, und alle Schreibweisen beeinflussen andere Schreibweisen. Wenn man immer wieder sich auseinander setzen liest, bekommt man einen deutlichen Impuls, mehr getrennt zu schreiben, und produziert fortan vermehrt hinüber reichen und dergleichen.

Herr Achenbach, Sie haben gerade nochmals nahegelegt, Google für die bessere Quelle zu halten. Da muß ich Ihnen ebenfalls widersprechen. Wenn ich nach garnicht suche und zugleich gar nicht ausschließe, erhalte ich angeblich 1.270.000 Ergebnisse. Ich wollte gerade weitere Filter anwenden, um die Anzahl der Treffer zu beschränken und mir ein genaueres Bild zu verschaffen. Ich gebe ein, daß zusätzlich das Wort schlau enthalten sein soll. Ich erhalte angeblich 818.000 Ergebnisse. Das würde bedeuten, daß in zwei von drei Texten (oft nur kurze Messages in irgendwelchen Foren) das Wort schlau vorkommt. Das genügt mir. Ich bleibe dabei: Google können Sie vergessen.

Jetzt behauptet der sorgfältige Beobachter Urs Bärlein zu meiner Verblüffung, die Zusammenschreibung garnicht sei ihm "in Manuskripten" öfter begegnet als die Getrenntschreibung. Wie bitte?
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 10.11.2010 um 23.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17113

Auch wenn man mit persönlichen Anekdoten und Bekenntnissen haushalten sollte – das »frisch gebackene Ehepaar« ist so sprechend, daß ich es nicht lassen kann, es noch einmal aufzuwärmen. Die zitierte Äußerung von Herrn Ickler war auch mir nicht entgangen. Ich weiß noch, daß ich etwas verwirrt war, als ich sie im »Schildbürgerstreich« las. Ich hatte nämlich, wie ich meinte, gerade erst so richtig verstanden, warum die vom Duden vorgegebene Unterscheidung zwischen konkreter und übertragener Bedeutung nicht nur wenig praxistauglich ist (das hatte ich schon länger bemerkt), sondern auch vom Grundsatz her nicht notwendig und vielleicht sogar widersinnig. Wenn Herr Ickler beispielsweise schreibt, daß er eine Kröte schlucken mußte, so macht er den übertragenen Gebrauch ja auch nicht im Schriftbild kenntlich. Er würde dieses Wort vermutlich auch nicht anders aussprechen. Dadurch würde die Metapher nämlich nur bloßgestellt – und damit geschwächt. Soweit zumindest die Theorie. Wenn man sie verstanden hat, sieht man bestimmte Getrenntschreibungen, die man bis dato für idiotisch gehalten hat, mit anderen Augen. Man muß sie deshalb nicht mögen, und man muß sie auch nicht übernehmen. – Diesen Grundgedanken also hatte ich eben erst verinnerlicht, da stolperte ich über den bewußten »Spaß«, der scheinbar alles wieder in Frage stellte. Schon bald stand für mich aber fest: Nicht der Bogen bei »frisch_gebacken« im Ickler paßt nicht zu dem Spaß, sondern der Spaß paßt nicht zum Bogen, und der Bogen ist verläßlicher als der Spaß. Jedenfalls fiel der Spaß völlig aus dem Rahmen, weshalb ich ihm letztlich keine entscheidende Bedeutung beimaß.

Nun zum Thema »Das bessere Wörterbuch«. Viel von dem, was ich hierzu schreiben wollte, findet sich in den Beiträgen meiner Vorredner; ich will versuchen, Wiederholungen zu vermeiden.

Auch für mich steht fest: Die Sprache ist so nuancenreich, daß ihr ein 0|1-System, wie es die Getrennt-|Zusammenschreibung ist, niemals gerecht werden kann. Aufgabe: Teilen Sie die Welt ein in nützliche und überflüssige Dinge, in schöne und häßliche, große und kleine. Ist der Duden, der in meinem Regal steht, der Bildschirm, auf den ich gerade blicke, das halbleere Weinglas auf meinem Schreibtisch nützlich oder überflüssig, schön oder häßlich, groß oder klein? Herr Wrase hat anschaulich dargelegt, wie schlecht die »harten« Entscheidungen, die man beim Schreiben immer wieder treffen muß, zu den weichen Übergängen in unserer Sprache passen.

Wenn man sich nicht festlegen mag, ob mein Computerbildschirm ein großer oder kleiner Gegenstand ist, dann wird man sich vielleicht wenigstens darauf verständigen können, daß ein Nashorn groß und eine Maus klein ist? Man stelle sich vor: eine Welt, in der es üblich ist, in geschriebenen Texten alle Konkreta mit einem G für groß und einem K für klein zu kennzeichnen. Man stelle sich weiter vor: in dieser Welt gibt es zwei Enzyklopädien, einen Tuten und einen Iggler. Wie würden die Herren Achenbach und Wrase wohl diese Werke kommentieren? Herr Achenbach würde vermutlich sagen: »Mir scheint, daß der Tuten das Nashorn zutreffend mit einem G und die Maus mit einem K versehen hat. Daß er Weiße Gehörnte Heidschnucken als klein und die nur wenige Zentimeter größeren Grauen Gehörnten Heidschnucken als groß ausweist, kommt mir allerdings kleinlich vor, da müßte man noch mal genauer hinschauen.« Herr Wrase würde wahrscheinlich entgegnen: »Gewiß ist ein Nashorn groß, aber haben Sie bedacht, daß ein Elefant noch viel größer ist? Und ist Ihnen denn nicht klar, daß eine Maus neben einer Ameise riesig wirkt? Es hat keinen Sinn, in einer Enzyklopädie zwischen G und K zu unterscheiden. Deshalb bevorzuge ich den Iggler, der alle Stichwörter mit dem Zusatz ›G/K‹ versieht. Außerdem weiß ein normaler Mensch sowieso, was groß und was klein ist.«

Und so weiter und so fort. Ich weiß, ich weiß, der Vergleich ist schief, falsch, unvollständig. Aber mit etwas Humor und gutem Willen wird man erahnen, worauf ich anspiele. Herr Achenbach schreibt: »Ich möchte vorausschicken, daß ich diese Diskussion für sehr wichtig halte und ich mich freuen würde, wenn sie nicht - wie soviele andere - wieder im Sande verliefe.« Damit spricht er mir aus der Seele. Herr Ickler schreibt: »Es ist doch alles schon hundertmal gesagt, und wenn man alles zusammennimmt, sind wir uns doch einig: Schreiben wie bisher, den nachweisbaren Tendenzen folgen, keine staatlichen Eingriffe, keine Monopole usw.« Nun, offenbar reicht es weder, etwas hundertmal zu sagen, noch, sich in allgemein formulierten Zielen einig zu sein. Ich zumindest sehe einen klaren Unterschied zwischen dem Ansatz von Herrn Wrase und dem von Herrn Achenbach. Derweil droht die Diskussion tatsächlich schon wieder im Sande zu verlaufen; nun wird wieder über einzelne Trefferquoten bei Google diskutiert. (Bitte nicht falsch verstehen: Das ist alles interessant und trägt zur Versachlichung der Debatte bei, hat aber mit der hier interessierenden Frage wenig zu tun.)

Wenn wir uns in den von Herrn Ickler noch einmal in Erinnerung gerufenen Zielen tatsächlich einig sind, dann sollten wir nicht zu früh aufhören, die dennoch bestehenden Unterschiede herauszuarbeiten. Wir können dabei nur gewinnen. Ich finde es gut, daß wir uns so quälen! Wir unterscheiden uns dadurch wohltuend von denen, die die Macht, und sei es nur die Macht der Gewohnheit, auf ihrer Seite wissen und es deshalb nicht mehr nötig zu haben vermeinen, sich um die Verbesserung ihrer Konzepte zu bemühen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 10.11.2010 um 23.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17112

Lieber Herr Wrase,

vielen Dank für den interessanten und sachlichen Beitrag.

Mir war übrigens beim DWDS auch schon der Rückgang der Fundstellen für garnicht aufgefallen. Die gleiche Erscheinung stellte ich aber auch bei sodaß fest. Deshalb habe ich das zunächst nicht angesprochen, sondern für eine spätere genauere Untersuchung zurückgestellt.

Tatsächlich ergibt sich für sodaß genau das gleiche Bild wie für garnicht:

anzeigbare Treffer 1900 - 1949: 813
anzeigbare Treffer 1950 - 2000: 26

Nun läge es auf der Hand zu sagen, daß sich die Autorität des Duden eben erst im Laufe des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Schließlich haben die Kultusminister ihm erst in den 50er Jahren einen "offiziellen" Status verliehen. Dagegen spricht aber, daß sich bei anderen nichdudenkonformen Schreibungen wie umso, instandsetzen oder zuhause keine vergleichbare Entwicklung feststellen läßt. Für eine genauere Beurteilung müßte man eigentlich auch wissen, wann sich der Duden auf gewisse ausschließliche Schreibungen festgelegt hat.

Gewisse Mängel beim DWDS sind mir auch schon früher aufgefallen. Gelegentlich tritt ein und die selbe Fundstelle mehr als zehnmal auf. Auch treten manche Autoren gehäuft auf. Ein Beispiel ist Ludwig Klages, dessen Rechtschreibung anscheinend recht eigenwillig war. So gibt es im DWDS nur recht wenige Fundstellen für garkein. Eine merkwürdige Spitze zeigt sich aber für die 30er Jahre. Diese scheint aber einzig allein auf Ludwig Klages zurückzuführen sein.

Gerade wegen dieser Mängel des DWDS habe ich auch auf eine Google-Suche zurückgegriffen, obwohl ich selbst in diesem Forum auf die vielen Fallstricke bei Google hingewiesen habe.

Ein Problem bei solchen empirischen Untersuchungen ist ja allgemein, daß die vom Duden vorgeschriebenen Schreibungen wie eine "self-fullfilling prophecy" wirken . Alle einigermaßen ordentlich redigierten Texte werden den Duden in seinen Vorschriften naturgemäß bestätigen. Dagegen kann man im Internet, also bei Google oder anderen Suchmaschinen, schon eher dem Volk "aufs Maul schauen". Natürlich kann man im Internet auch die abenteuerlichsten Schreibungen finden. Solange die Zahl der Fundstellen aber hinreichend groß, ja im Millionenbereich liegt, kann man ja vielleicht hoffen, daß sich das "wegmendelt", um mit Prof. Ickler zu sprechen.

Fazit: Es gibt wahrscheinlich keine Korpora, die nicht irgenwelche Mängel oder Einseitigkeiten haben. Das gilt wohl für die Korpora, die Prof. Ickler benutzt hat, genauso wie für die Zettelkästen des Duden. Dabei verfügt der Duden noch über einen großen Trumpf, nämlich all die Anfragen aus dem Publikum. Es wäre wirklich ein großes Verdienst um die Wissenschaft, wenn diese Informationsfülle der Öffentlichkeit, womöglich gar in digitalisierter Form, zur Verfügung stünde.

Weiteres Fazit: Jede beckmesserische Kritik an den Einzelentscheidungen der Wörterbuchautoren ist unangemessen. Aber darüber sind wir uns ja wohl schon einig.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 10.11.2010 um 22.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17109

Bei gar nicht/garnicht spielt noch etwas anderes hinein. gar nicht ist eine Intensivierung von nicht, ebenso wie ganz und gar nicht. ganz und garnicht geht aber gar nicht. Von daher wohl das Beharren sprachbewußter Schreiber auf dem gar nicht, obwohl es, für sich genommen, zur Zusammenschreibung drängt. Mir ist sie in Manuskripten häufiger untergekommen als die Getrenntschreibung.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 10.11.2010 um 20.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17107

„Theoretisch wäre es gerecht, zwischen Klein- und Großschreibung stufenlos skalieren zu können. Oder zwischen getrennt und zusammen. Aber das wäre viel zu kompliziert und schlecht lesbar. Das gibt es genauso wenig wie die Möglichkeit, eine Variante nur zu einem Drittel ins Wörterbuch aufzunehmen. Klar, man könnte sich die Mühe machen und Prozentangaben zur Häufigkeit liefern und so weiter, aber das wäre alles fürchterlich schwierig und für alle belastend. Auch zwischen falsch und richtig sollte man im Wörterbuch stufenlos skalieren können ...“
Dazu gibt es nur eine praktikable Aussage, sie stammt von T. Ickler: „Keine Schreibweise, die der deutschen Grammatik gerecht wird, kann orthographisch als falsch gelten.“
Einfacher ausgedrückt: Man soll die Kirche im Dorf lassen …
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 10.11.2010 um 19.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17106

Lieber Herr Achenbach,

ich gebe zu, ich habe übertrieben und Ihnen ein hypothetisches Verhalten vorgeworfen. Kein feiner Stil. Vielen Dank für Ihren Schwamm drüber – und nun für Ihre Recherche.

Google wird für unsere Zwecke immer unzuverlässiger. Ich glaube, das kann man komplett vergessen.

DWDS ist besser. Man sollte aber genauer hinsehen. Von den 717 Treffern werden 671 angezeigt (Zeitraum: 1900 bis 1999) und sind chronologisch auswertbar. Ich teile das mal auf:

Nummer 1 bis 651 liegen im Zeitraum 1900 bis 1944, einigermaßen gleichmäßig. 652 bis 671 (nur 20 Belege) sind später, also bis 1999. Ab 1960 gibt es nur 9 Belege: 1960, 1972 (je 1 x), 1979 (5 x) und 1999 (2 x). Die 5 Belege aus 1979 stammen alle aus demselben Werk: Hans Jonas, Das Prinzip der Verantwortung. Die 2 Belege aus 1999 stammen ebenfalls aus demselben Werk: Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen.

Aus den vier letzten Jahrzehnten sind es somit gerade vier Verfasser, im Schnitt einer pro Jahrzehnt. In der ersten Hälfte desselben Jahrhunderts gab es vergleichsweise massenhaft Literaten, die garnicht schrieben. Eine klare Tendenz zur Einheitsschreibung gar nicht. Vor 100 oder vor 70 Jahren waren wir eben noch weit von der Einheitsschreibung entfernt, die wir selbst genossen haben. Hier das Schaubild: http://www.dwds.de/?verteilung=1&corpus=1&qu=garnicht

Das Schaubild unterscheidet sich etwas von meinen obigen Angaben. Es wertet alle 717 Treffer aus, während die Listen mit den einzelnen Textstellen aufgrund von Nutzungsvereinbarungen nicht ganz vollständig sind. Das wirkt sich im Bereich Belletristik aus. Aber die Tendenz im Schaubild ist um so eindeutiger: zielstrebiger Rückgang der Nebenvariante bis zum Verschwinden.

Also, diese beiden Recherchen sind leider nicht viel wert für die Nachkriegszeit. Die Datengrundlage von Professor Ickler taugt sicherlich mehr für ein zeitgenössiches Bild. Ich kenne seine Zahlen nicht. Wenn ich als Werbelektor aber nur sporadisch ein garnicht serviert bekommen habe, wird in den Quellen von Professor Ickler noch weniger davon zu finden gewesen sein.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 10.11.2010 um 19.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17104

Schreiber, die meinen, Ickler verbiete ‘garnicht‘ oder Duden verbiete ‚Rad fahren’, können diesen ‚Obrigkeiten‘ folgen oder auch nicht. So einfach ist das.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 10.11.2010 um 18.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17101

Lieber Herr Wrase,

Sie kennen mich offenbar besser als ich selbst. Sie wissen sogar, was ich in einem hypothetischen Fall sagen würde. Da Sie offenbar den Eindruck haben, ich kritisierte immer nur, jetzt mal was Positives: Ich bin beeindruckt, wie Prof. Ickler meine Beiträge genau so einschätzt, wie sie auch gemeint sind.

Aber Schwamm drüber!

Sie vermissen bei meinen Bemerkungen zu garnicht die Recherche. Die liefere ich gerne nach. Zunächst ist diese Schreibung keineswegs nur eine 100 Jahre alte Marotte von Eduard Engel (ich habe ihn auch nur erwähnt, weil ich meine, daß er ein sprachkundiger und sprachmächtiger Mensch war).

Eine simple Google-Suche zeigt, daß diese Schreibung noch ganz lebendig, wenn auch in der Minderheit ist:

gar nicht: ca. 7 Mio Fundstellen = 76 %
garnicht: ca. 2,2 Mio Fundstellen = 24 %

Man findet auch Diskussionen in Blogs und Foren, die zeigen, daß sich auch andere Leute über die Schreibung von gar nicht/garnicht den Kopf zerbrechen.

Im Problemfälle-Duden von 1985 steht: "Das Adverb gar "ganz, sehr, sogar" schreibt man von kein und nicht[s] i m m e r getrennt.

Der Duden hätte diese Regel wohl kaum aufgestellt, wenn er gemeint hätte, daß die Zusammenschreibung in diesen Fällen nur ganz selten vorkomme.

Etwas anders als bei Google sieht es beim DWDS aus:

gar nicht: 23.490 Treffer = 97 %
garnicht: 717 Treffer = 3 %

Immerhin widerlegt auch der DWDS die Vermutung, es handle sich um eine bloße Marotte von Eduard Engel. Es gibt Fundstellen von 1900 bis 1999.

Um das genannte Ergebnis besser einschätzen zu können, habe ich eine Vergleichsrecherche im DWDS zu sodaß angestellt:

so daß: 17.570 Treffer = 95,4 %
sodaß: 850 Treffer = 4,6 %

Nun beruht der DWDS-Korpus zum allergrößten Teil auf Druckerzeugnissen, die jedenfalls zum Teil ordentlich lektoriert sein dürften. Daß dabei die Dudenschreibungen deutlich überwiegen, ist zu erwarten. Trotzdem auftretende Abweichungen von der Duden-Norm, wären also eigentlich stärker zu gewichten.

Ich stimme Ihnen, lieber Herr Wrase, ja durchaus darin zu, daß ein Wörterbuchautor tausendfach Entscheidungen treffen muß, dieses oder jenes seltene Wort, diese oder jene seltene Schreibvariante aufzunehmen oder nicht. Jede dieser Einzelentscheidungen auf die Goldwaage zu legen, wäre deshalb völlig unangemessen. Das gleiche halte ich aber auch dem Duden zugute. Ein Ausdruck wie "Duden-Wahnsinn" käme mir daher nie über die Lippen. Was bliebe denn dann zur Bezeichnung der Rechtschreibreform noch übrig?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.11.2010 um 15.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17097

Das war aber sicher nicht die Quelle, sondern die Dudenredaktion hat ganz mechanisch bei dreieinhalbtausend maskulinen Personenbezeichnungen die Feminina hinzugesetzt.

Der kleine "Wasserzieher" von 1974 – einverstanden! Erstaunlich reichhaltig, besonders interessant der erste Teil mit seinen 58 Rubriken. Wer das Buch noch findet (es wurde lange im modernen Antiquariat vertrieben), sollte es sich anschaffen.
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 10.11.2010 um 15.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17096

Bzgl. der Aussetzerin muß ich korrigieren, das Wort gibt es offenbar schon in der frühen Neuzeit.

Gugel "Aussetzerin"
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 10.11.2010 um 14.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17095

Die genannten Leichen könnten die stille Rache des kleinen Duden-Redakteurs für den Gender-Unfug sein.
 
 

Kommentar von Romantiker 2.1, verfaßt am 10.11.2010 um 14.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17094

Herr Wolfgang Wrase, die Bemerkung war trefflich!

Wörterbücher sind für mich immer Quellen und Fundgruben gewesen, ein Panoptikum der Welt. Ich möchte das nicht missen, auch wenn ich hie und da mal über Leichen stolpern sollte. Neuere Wörterbücher scheinen mir "übergelaufen" zu sein, so viele "tote" Begriffe und Nebensächlichkeiten und so wenig aus dem Leben, dazu noch die aufdringlichen Kästchen etc. (mag sein, es geht hierbei auch um die "Inwortnahme", die Macht über alle verfügbaren Wörter, die so ein "allwissendes" Buch ausströmt – da ist es ja zudem nicht mehr weit, mit der "volkspädagogischen" Einflußnahme).

Natürlich schaue ich nach Wörtern, die mir "fremd" vorkommen, manchmal auch welche, die mir just plötzlich fremd geworden sind, ich möchte sie einordnen können und verstehen. Und oft bin ich erstaunt, was nicht oder nicht mehr verzeichnet ist. Geßlerhut und Hahnrei sind schon Geschichten an sich, unverzichtbar! Nun, ginge ich auf eine Insel, würde ich meinen kleinen Wasserzieher von '74 in den Rucksack stecken, sozusagen als Hauspostille.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 10.11.2010 um 13.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17093

„Daß 'Snobiety' unbedingt entfernt gehöre und 'garnichts' ins Wörterbuch gehöre […]“, hat in meinem Verständnis niemand gefordert. Der Sachverhalt wurde lediglich festgestellt und diskutiert.
Vermutlich ist der Grund in beiden Fällen sehr einfach, im einen Fall kommt der Begriff nennenswert oft im untersuchten Korpus vor, im anderen nicht!
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 10.11.2010 um 13.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17092

Das sind in der Tat merkwürdige Leichen: solche, die niemals gelebt haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.11.2010 um 12.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17090

Es sind natürlich immer die Quellen vor der Reform gemeint. Zeitungen enthielten auch damals schon viel mehr Fehler als früher, aber das mendelt sich weg, wenn man große Textmassen durchsieht.

Das Problem der fehlenden und der überflüssigen Wörter haben wir schon oft besprochen ("Lücken und Leichen"). Fehlendes ist ärgerlicher als Überflüssiges. An einem Duden-Universalwörterbuch hatte ich mal folgendes bemängelt:

Lücken:
Trialog, Diatret, Diatomee, Diptam, disjunkt, Disjunktion, Dronte, effeminiert, Embonpoint, emendieren, Entourage, Ephebe, Ephemeriden, erstaufführen, Laiin, faszinieren, Feldscher, finassieren, Fluke, Fraktal, Fritfliege, Galimathias, Gamelan, Gelichter, Geßlerhut, Gestus, Hahnrei, Haiku

Leichen:
Aussetzerin, Exotikerin, Filzokratin, Agioteurin, Anzettlerin, Flurhüterin, Garnelenfängerin, Jagdfrevlerin (alle nicht bei Google)

Überflüssiges nimmt Platz weg, stört aber sonst nicht weiter. Aber schon immer haben sich Leute aufgeregt, daß irgendein ihnen mißliebiges Wort nun auch schon im Duden stehe, womit es, wie sie meinten, höhere Weihen erhalten habe. Der alte Dudenfetischismus: Was nicht drinsteht, gibt es nicht, und was drinsteht, ist "gut" oder sollte es sein.
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 10.11.2010 um 12.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17089

...nämlich so, wie die meisten (guten) Quellen es tun.

Das ist leider inzwischen ein Problem. Zeitungen sind keine gute Quelle mehr (weder für die Rechtschreibung noch für umfassende Berichterstattung).
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 10.11.2010 um 12.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17088

Ja genau, darüber könnten wir uns einig zeigen. Ich habe ja schon gesagt, was mich gestört hat. Ich kann es noch einmal anders erklären. Worum geht es im Wörterbuch, und was ist das Problem?

Bei der Frage, welche Stichwörter man ins Wörterbuch aufnimmt und welche Schreibweisen man jeweils verzeichnet (Varianten?), bewegt man sich permanent im Bereich von Zweifelsfällen. Es ist Unsinn, dem Wörterbuchmacher einzelne harte oder fragwürdige Entscheidungen vorzuhalten, denn er kann nichts dafür. Ob er sich für oder gegen das Aufführen von Snobiety entscheidet, er trifft in jedem Fall eine harte Entscheidung, eine "falsche" Entscheidung in den Augen dessen, der den Grenzfall auf der anderen Seite der Grenze verortet hätte. Deshalb wäre es angemessen, die Entscheidung des Verfassers in solchen Grenzfällen normalerweise einfach zu akzeptieren.

Daß hin und wieder Einträge mit der grenzwertigen Relevanz von Snobiety zwischen fünfzigtausend (oder wieviel?) Einträgen auftauchen, ist also belanglos und im übrigen unvermeidlich. Es kommt mir schon merkwürdig vor, wenn in einem solchen Diskussionsstrang ein solcher Einzelfall als Fehlentscheidung angeprangert wird. Noch merkwürdiger kommt es mir vor, wenn in demselben Beitrag das angebliche Fehlen einer sehr seltenen Schreibvariante beklagt wird, obwohl es bei der Auswahl der Schreibweisen genau darauf ankommt: Entlegenes unbedingt weglassen. Sich auf das Wichtigste beschränken. Zwischen relevanten Nebenvarianten und vernachlässigbaren Nebenvarianten unterscheiden können. (Auch dazwischen ist die Grenze selbstredend niemals genau zu bestimmen.)

Daß Snobiety unbedingt entfernt gehöre und garnichts ins Wörterbuch gehöre, ist vor allem in der Zusammenschau eine absurde Meldung und macht jedenfalls auf mich den Eindruck, daß die Kritik gar nicht von der Sache her motiviert ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.11.2010 um 09.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17084

Herr Strasser hat es genau getroffen, und so habe ich das Wörterbuch ja auch vorgestellt: als einen Vorschlag, wie man schreiben sollte, wenn man orthographisch unauffällig schreiben will, nämlich so, wie die meisten (guten) Quellen es tun. Natürlich enthält es keine "Verbote".
Ich weiß gar nicht, warum hier immer wieder so ein gereizter Ton aufkommt. Es ist doch alles schon hundertmal gesagt, und wenn man alles zusammennimmt, sind wir uns doch einig: Schreiben wie bisher, den nachweisbaren Tendenzen folgen, keine staatlichen Eingriffe, keine Monopole usw.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 10.11.2010 um 09.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17082

Wenn im Ickler steht:
gar; […] gar nicht, gar nichts, […]
verstehe ich nur, daß deskriptiv ermittelt offenbar die Getrenntschreibung derart überwiegt, daß ein Eintrag mit Bogen nicht der zugrundeliegenden Schreibpraxis entspräche. Ich entnehme dem aber kein „Verbot“ zusammenzuschreiben.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 10.11.2010 um 01.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17080

Ich habe auch nicht behauptet, daß es an dem Wörterbuch nichts zu kritisieren gäbe oder daß es heilig sei. Im Gegenteil, kürzlich habe ich geschrieben, daß es von vornherein unmöglich ist, ein Wörterbuch zu machen, das der Sprache gerecht wird. Nicht zu reden von den persönlichen Präferenzen einzelner Kommentatoren, die unter einen Hut zu bringen undenkbar ist, es sei denn im Sinne von Kompromissen. Die Bemängelungen von Herrn Achenbach kamen mir mutwillig vor, weil es ihnen an Substanz mangelte. "Gefällt mir nicht." Gut, daß wir das erfahren haben.

Bei garnicht(s) wurde Eduard Engel aufgefahren. Wir wäre es mit einem aktuelleren Befund? Ich habe in mehr als zehn Jahren als Korrektor tausend verschiedene typische Verstöße gegen die Duden-Norm kennengelernt, die den Ruf nach einer Reform unterfütterten; die Lösung war freilich nicht die Reform, sondern wäre ein Weg in der Art des hier besprochenen Wörterbuchs gewesen. Immer dieselben "Fehler", zum Beispiel gelegentlich umso oder sehr oft zu viel. Aber garnicht(s) habe ich extrem selten gesehen, garkein(e, en ...) oder garniemand(en ...) meine ich "garnie" gesehen zu haben. Wo ist die Recherche, wie sie Herr Achenbach noch seiner (nicht zu Ende gedachten) Argumentation gegen frisch_gebacken beigefügt hat?

Ich sage es mal so. Nehmen wir an, Professor Ickler hätte in einem Anfall von unkontrollierter Liberalität eingetragen, meinetwegen gestützt durch eine Marotte von Eduard Engel:
gar kein...
gar_nicht
gar_nichts
gar nie
gar niemand

Dann wären Kommentare von Herrn Achenbach fällig gewesen, daß ihm das "nicht gefällt"; alternativ eine logische Argumentation gegen die Verletzung der Systematik. Beispielsweise hätte dann der Kommentar des sorgfältigen Lesers lauten können, daß das Nebeneinander von überhaupt nicht und gar_nicht unbefriedigend sei. Herr Achenbach hätte dann angesichts von gar_nicht beklagen können, daß hier eine abseitige Nebenvariante, kaum je gesehen, mit der eindeutig dominierenden Getrenntschreibung in einen Topf geworfen wird (wie er sich vor kurzem ausgedrückt hat).

Hauptsache, man findet was zum Kritisieren. Eine Argumentation läßt sich bei unserem Thema immer basteln. Oder man sagt einfach mal: "Das paßt mir nicht."
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 10.11.2010 um 00.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17078

Was instandsetzen usw. betrifft, so hat David Konietzko vor längerem auf folgende Duden-Geheimregel aufmerksam gemacht:

»Zusätze, die durch Zusammenrückung von Präposition und Substantiv entstanden sind, schreibt man vom Verb getrennt: beiseite legen, instand setzen, zugrunde liegen, zustande bringen usw.
Für die attributiv gebrauchten Gerundiva war stets auch Zusammenschreibung zugelassen, manchmal auch für die Partizipien: das instandzusetzende Gerät, der zugrundeliegende Gedanke (neben das instand zu setzende Gerät, der zugrunde liegende Gedanke).«

(www.sprachforschung.org/forum/show_comments.php?topic_id=126#2070)
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 09.11.2010 um 23.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17077

Lieber Herr Wrase,

bei der Abfassung Ihres letzten Beitrags war Ihnen offenkundig entfallen, daß ich in einem vorangegangenen Beitrag ausdrücklich begrüßt hatte, daß im Ickler-Wörterbuch Schreibungen wie sodaß, umso und zuhause aufgeführt sind.

Das hat mich dann dazu angeregt, im Ickler nach weiteren vom Duden "verbotenen" Schreibweisen zu suchen. Dabei bin ich noch auf instandsetzen und zugrundelegen gestoßen. Dagegen habe ich mit Bedauern festgestellt, daß Schreibungen wie zuwegebringen u.a. nicht enthalten sind.

Das habe ich dann in meinem weiteren Beitrag niedergeschrieben, wobei ich im ersten Satz glaubte klargestellt zu haben, daß der Beitrag als Fortsetzung des früheren gedacht war.

Wenn Sie es wirkllich für sinnvoll halten, von einer solchen völlig unsystematischen Stichprobe eine Bilanz zu erstellen, so komme ich auf ein Verhältnis von 4:3 oder 5:4 (je nach Zählung) zugunsten des Ickler-Wörterbuchs.

Ganz außerhalb dieses Zusammenhangs stieß ich auch zufällig auf das Wort snobiety, wo ich mich nur gewundert habe, wie ein solch randständiges Wort, das ich selbst in englischen Wörterbüchern vergeblich gesucht habe, es in den Ickler geschafft hat.

Es wäre m.E. schon übertrieben, meine Bemerkungen als "Kritik" zu bezeichnen, ganz abgesehen von dem, was Sie sonst noch hineinzulesen glauben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.11.2010 um 16.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17073

Mir schien damals der kleine Bogen ein ganz geeignetes Mittel, die fakultative Zusammenschreibung zu bezeichnen. Aber eigentlich spart man wenig Platz und könnte auch die beiden Möglichkeiten einfach ausschreiben. Ich bin ja überhaupt gegen zu viele Abkürzungen im Wörterbuch und habe auch nur wenige benutzt. Viele Wörterbücher und Lehrwerke im Bereich Deutsch als Fremdsprache geben z. B.die Artikel verkürzt an (-r, -e, -s) oder gar metasprachlich als Genusbezeichnung (m., f. , n.), was wirklich enorm ungeschickt ist.
 
 

Kommentar von Romantiker 2.1, verfaßt am 09.11.2010 um 14.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17072

Und wieder lerne ich hier, bekomme Antworten auf Fragen, die seit Jahren in meinem Kopf herumspuken!

@ Glasreiniger

Ja, hört, hört, da spricht hier jemand von "ispell". Also ich bin auf alle Fälle bereit!

@ Klaus Achenbach

"Leider hat der alte Duden auch in diesem Fall behauptet, beide Schreibungen unterschieden sich in der Aussprache. Das geht an der Sprachwirklichkeit vorbei und ist in meinen Augen ein wirklich ärgerlicher und leider häufig wiederholter Fehler des alten Duden. / Nicht nur ist die Anfangsbetonung kein sicheres Indiz für die Zusammenschreibung, auch die Getrenntschreibung ist kein sicheres Indiz für die doppelte Betonung. Hier scheint der Duden Opfer einer Übergeneralisierung geworden zu sein."

Koppelt man das an eine vermeintlich verbindliche Aussprache von der See bis zu den Dolomiten, wird es wohl ein uferloses Unterfangen. Beim Durchblättern des neuen Deutschen Aussprachewörterbuches (de Gruyter):

"Erarbeitet von einer Gruppe renommierter [!] Forscher ... das neue maßgebliche [!] Referenzwerk ... Es informiert zuverlässig ... ist normsetzend in allen Zweifelsfällen [!] ... sowie zahlreiche Infokästen !] ... können über die Verlagsplattform Reference Global [!] aufgerufen werden ... Anders als andere Aussprachewörterbücher ... auf empirisch gewonnenem Datenmaterial [!] ... schlossen unter anderem ausgedehnte soziophonetische Studien ein, darunter eine systematische [!] Befragung .. mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund aus allen Sprachlandschaften Deutschlands zur Akzeptanz [!] bestimmter Ausspracheformen ... Die Präsentation bedient sich zeitgenössischer didaktischer Methoden [!] und ermöglicht einen raschen Zugang [!] und gute Verständlichkeit für jeden Benutzer [!] ... ein modernes [!], in allen Fragen der deutschen Standardaussprache ... höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen ..."

Wortverbindungen werden dort - wie gehabt - nicht aufgeführt. So, als gäbe es hierzu keine andere, differenzierende Aussprache. Irre ich mich da? Oder würde es auch hier den "Rahmen" sprengen? "Frischgebacken" und "frisch gebacken" spricht man doch unterschiedlich, obendrein noch wie es gemeint war, als Feststellung oder Frage, und im Zusammenhang im ganzen Satz erst, oh weh ... Irgendwie fallen mir da die geschnittenen digitalen Bahnhofsdurchsagen ein, so eine Schnipseljagd mit Kleber.

*

Die "Icklerbögen" waren für mich lange irritierend. Mit der Zeit brachten diese mich aber dazu, mehr auf meine Intuition zu "hören" und Varianten selbst durchzuprobieren. Mit den (alten) Dudenunterscheidungen war ich oft heillos überfordert, die brachten mir oft nichts - außer einer sich einschleichenden Angst, nochmals nachschauen zu müssen.

"... daß es Getrenntschreibungen an sich immer gibt, dort allerdings, wo sich Zusammenschreibungen für gewisse Bedeutungen eingebürgert haben, werden diese zusätzlich dargestellt. Wenn also "radfahren" verzeichnet ist, bedeutet das m. E. nicht automatisch, daß "Rad fahren" nicht existiert, oder?"

Da sprechen Sie, Herr stefan strasser, etwas aus, was ich so nicht wahrnahm: Ist etwas nicht verzeichnet, heißt das eben nicht gleich, daß es das nicht gibt, oder? Auch ich muß lernen, nicht immer kleinlich zu sein und alles wortwörtlich zu nehmen. - Da wurde dem Duden, glaub ich, zu viel auferlegt, jedenfalls trat der in seine eigene Anspruchshaltung, und man will geradezu das "letzte Wort" von ihm erfahren. Das schraubte sich in den Jahren hoch, von den Machern wie den Ratsuchenden. Auf Übergeneralisierung folgt die Verwirrung und der Pfusch bei Fuß.

Folglich, was mir hier die Diskussion wieder einmal vor Augen führt, ist, daß diese wuchernde Perfektion zwangsläufig auf Teufel komm raus ins Leere führen muß. Gerade die Reformer, die auf Vereinfachungen aus waren, entpuppten sich als die Papiertiger. So, wie eben alles diesem Zeitgeist unterworfen wird. Intuition, Selbstverständnis und Kontinuität scheint es nicht mehr zu geben, da "vertraut" man nicht mehr (schon gar nicht auf sich selbst). Der aktuelle Duden ist doch nicht mehr für souveräne schreibende Bürger geschrieben und für Schüler erst nicht. Und, Herr B Janas, wie recht sie dabei haben - der Stempel des Königs ist die Referenz, so wie beim Bäcker hierzulande das Brot nur aus "Meisterhand" "Gold prämiert" verkäuflich ist und auf dem "Grießtraum" erst die Aufschrift "kontrolliert" den "Genuss" überhaupt genießbar macht. Ein "Ickler" war da zumindest "personalisiert", aber ohne ausgesprochenen "Segen" geht nix.

*

PS: Die kleine nette Anekdote aus dem Leben der Icklers war doch herzlich erfrischend (und erklärend).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.11.2010 um 12.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17071

Wie gesagt, lieber Herr Wrase, Herr Achenbach ist ein sehr sorgfältiger Leser, und wo er eine Lücke oder ein Versäumnis aufgespürt hat, da lege ich es zu den vielen hundert Verbesserungsvorschlägen, die ich nach der Probefassung damals bekommen habe (auch und gerade von Ihnen) und denen ich dann nachgegangen bin. Hätte ich mehr Zeit, könnte ich täglich etwas nachtragen oder korrigieren. Falls irgendwann der Eindruck entstanden sein sollte, mein Wörterbuch sei eine heilige Schrift, dann bin ich bestimmt nicht dafür verantwortlich. Nur zu! Vorschläge werden immer gern entgegengenommen. Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß ich mancher Zusammenschreibung nicht ganz gerecht geworden bin. Manchmal habe ich es vielleicht auch versäumt, die Texte abzusuchen, weil ich mit bestimmten Möglichkeiten gar nicht gerechnet hatte. Solche Fälle hatten wir doch schon, auch unter rechtschreibreform.com.
Verbzusätze werden teils immer zusammengeschrieben, teils manchmal und teils nie oder so gut wie nie. Das muß man alles nachprüfen und dann immer noch eine Entscheidung treffen, wann die Zusammenschreibung auch ins Wörterbuch soll. Im großen und ganzen geht es aber um objektive Sachverhalte, nicht um Geschmacksurteile.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 09.11.2010 um 11.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17070

Lieber Herr Achenbach,

was mir an Ihrem Beitrag gefällt:

– daß Sie etwas Positives am Ickler-Wörterbuch festgetellt haben.

Was mir dagegen nicht gefällt:

– daß Sie ungefähr viermal so viele Punkte aufzählen, die Sie schlecht finden (ich ahme das gerade nach).

– daß Sie damit unterstellen, der Wörterbuchmacher habe schludrig gearbeitet.

– daß dieses Übergewicht der Mäkelei mir vertraut vorkommt und auf die Dauer ermüdet.

– daß Ihre Begründung für den indirekten Vorwurf, daß garnicht und garnichts unterschlagen worden seien, an den Haaren herbeigezogen ist.

Eduard Engels Texte sind im Schnitt etwa hundert Jahre alt. Was soll das mit einem Wörterbuch für unsere Zeitgenossen zu tun haben?
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 09.11.2010 um 11.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17068

@ Th.Ickler: Vielleicht machen wir tatsächlich mal eine Online-Fassung.

Das wäre hervorragend, wenn auch etwas spät. Sollte zusätzliche Arbeitskraft für die Aufarbeitung (oder Anpassung an ispell etc.) notwendig sein, melde ich mich als Freiwilliger.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.11.2010 um 09.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17067

Wie ich sehe, ist mein kurzer Text aus der FAZ hier noch nicht wiedergegeben. Da er meine damalie Absicht gut ausdrückt, erlaube ich mir, ihn hier noch einmal einzurücken:

Duden ohne DUDEN - Ein Weg aus der Rechtschreibkrise

Die deutsche Orthographie ist geregelt. Tägliche werden Hunderttausende von Texten gedruckt und geschrieben, die genau dieselben Schreibweisen befolgen, wie sie in Millio­nen von Büchern bereits vorliegen. Es gibt einen Usus, der in seinem Kernbestand fraglos gilt und bisher vom Duden schlecht und recht beschrieben war. Erfunden hat der Duden die übliche Rechtschreibung natürlich nicht. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer jahrhun­dertelangen Schreibpraxis von unzähligen Menschen, die sich sehr wohl etwas dabei ge­dacht haben, wenn sie groß und klein, getrennt und zusammenschrieben, Kommas und Anführungszeichen setzten. Die Zweite Orthographische Konferenz zu Beginn des Jahr­hunderts hat keinerlei Neuerungen gebracht, sondern lediglich die regionalen Schul­orthographien vereinheitlicht und gegen willkürliche Veränderungen unter Schutz gestellt. Des­halb benötigte sie nur drei Tage und nicht zwanzig Jahre.
Das Ärgerliche am Duden ist, daß er seiner Fehldeutung durch Norm­fetischisten nicht entgegengewirkt, ja sie im Gegenteil noch gefördert hat. Das wollen wir uns an einigen Beispielen klar machen. Klar machen? Nein, sagt der Duden, klarma­chen! Denn getrennt geschrieben wird, „wenn klar im urspr. Sinne gebraucht wird“, zum Beispiel klar werden (auch vom Wetter). Dagegen gilt „Zusammenschreibung, wenn ein neuer Begriff entsteht“, z. B. klarwerden: ihm ist sein Irrtum klargeworden. Der Wein wird klar gemacht, das Schiff und der Irrtum werden klargemacht. Aber wenn ich nun die Klarheit der berühmten Kloßbrühe gar nicht als die ursprüngliche Klarheit betrachte, sondern gerade umgekehrt die Klarheit des Gedankens?
Um diesem Unsinn einen Reiz abzugewinnen, müßte man ein Ionesco sein. Das Recht­schreibwörterbuch aber hat den Usus zu beschreiben. Was es den beobachtbaren Tatsa­chen an Begründungen, Erklärungen, ja auch nur an Regeln, d. h. verallgemeinerten Be­schreibungen hinzufügt, ist Theorie und kann falsch sein. Damit wird es unbeachtlich. Denn falsche Theorien kann nicht einmal eine Kultusministerkonferenz verbindlich ma­chen. (Aus diesen Überlegungen geht nebenbei auch hervor, daß das Wörterverzeichnis und nicht das Regelwerk der Kern der Orthographie ist und daß es eine Zumutung war, der Öffentlichkeit jahrelang nur ein neues Regelwerk ohne Wörterbuch zu präsentieren.)
Ein Gedanke kann ebenso wie die Brühe klar sein und klar werden und selbstverständ­lich auch klar gemacht werden. Das alles ist grammatisch einwandfrei. Es gibt allerdings im Deutschen ein kleines Unterprogramm, wonach Resultativzusätze, wenn sie nicht zu umfangreich sind, mit Verben zusammengeschrieben werden können: kaputtschlagen, blaureiben, gesundrationalisieren. kaltmachen und natürlich auch klarmachen. Mit „urspr. Sinn“ und neuem Begriff hat das überhaupt nichts zu tun.
Wenn man den Duden liest, könnte man tatsächlich meinen, radfahren müsse im Gegen­satz zu Auto fahren zusammengeschrieben werden. Die Theorie steht in R 207: „Man schreibt ein Substantiv mit einem Verb zusammen, wenn das Substantiv verblaßt ist und die Vorstellung der Tätigkeit überwiegt.“ Unsere modernen Linguisten haben sich über das „Verblassen“ der Substantive mokiert, wohl kaum mit Recht. (Als kürzlich der schöne Begriff „bleaching“ über den großen Teich zu uns kam, wurde er von denselben Linguisten freudig begrüßt ...) Bei radfahren also herrscht tatsächlich die Vorstellung der Tätigkeit vor, weshalb auch schon zu Beginn des Jahrhunderts das Verb radeln im Duden stand, während die Autofahrer es bis heute nicht zu einer ähnlich gemütvollen Be­zeichnung ihrer Fortbewegungsart gebracht haben. Wie dem auch sei - ganz falsch wäre jedenfalls die Folgerung, man dürfe radfahren gar nicht getrennt schreiben. Man kann Auto fahren, Traktor fahren, Roller, Dreirad und Fahrrad fahren und selbstverständlich auch Rad fahren. Die Bezeichnung eines geeigneten Fahrzeugs zusammen mit fahren er­gibt immer eine grammatisch zulässige Verbindung. Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten. Das ist der Kernsatz einer richtigen Dudenexegese. Nur als besondere Lizenz gibt es auch radfahren. Damit ist den Reformern, wie man sieht, schon ziemlich viel Wind aus den Segeln genommen.
Einmal aufmerksam geworden, entdeckt man, daß fast alle Dudenregeln Kann-Bestim­mungen sind, Spielräume eröffnen. Sogar unsere Regel 207 läßt Rad fahren zu. Möge immerhin das „verblaßte“ Substantiv mit dem Verb zusammengeschrieben werden - das unverblaßte bleibt davon unberührt. Es braucht auch nicht eigens im Wörterbuch zu ste­hen. Traktor fahren steht ja auch nicht drin.
Die Reformer bilden sich ein, dem Bindestrich eine größere Anwendungsbreite verschafft zu haben. Joghurt-Becher, so sagen sie, sei bisher falsch gewesen und werde infolge der Neuregelung richtig sein. Weit gefehlt! R 33 sagt, daß zusammengesetzte Wör­ter „gewöhnlich“ ohne Bindestrich geschrieben werden. In den folgenden Regeln wird vorgeführt, wie der Bindestrich zur Erhöhung der Übersichtlichkeit oder zur Herausar­beitung eines eigentlichen Sinnes gesetzt werden kann: Druck-Erzeugnis, Hoch-Zeit, be-greifen sind die Originalbeispiele. Folglich ist auch Joghurt-Becher völlig in Ordnung.
Fast alle Bedenken, die man gegen Widersprüche und Haarspaltereien des Duden vorge­bracht hat, lassen sich nach dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation beseitigen.
Daraus ergibt sich von selbst, wie zu verfahren ist, wenn man die von den Kultusministern leichtfertig zerstörte Einheit der deutschen Orthographie wiederherstel­len will: Die gewohnten Schreibweisen bleiben gültig, ihre Kodifikation wird - nach dem unwiderruflichen Ende des Dudenprivilegs - auf eine andere, weder kommerziell interes­sierte noch politisch gebundene Instanz übertra­gen, damit die Schulen und Verlage etwas haben, woran sie sch halten können. (Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hätte hier eine verdienstvolle Aufgabe, und ihr tatkräftiger Präsident ist offenbar gewillt, sie anzupacken.) Da es nur um eine Rekonstruktion, das heißt um die Erfassung und Be­schreibung des Usus geht und nicht um eine Neukonstruktion, hält die Arbeit sich sehr in Grenzen. Bei der Neufassung der Regeln sollten folgende Grundsätze gelten:
1. Alle Schreibweisen, die im Wörterverzeichnis des Rechtschreibdudens bis zur zwanzigsten Auflage (1991) verbucht sind, bleiben richtig.
2. Darüber hinaus sind alle Schreibweisen richtig, die sich bei sinngemäßer und grund­sätzlich liberaler Auslegung aus den Regeln des genannten Werkes ableiten lassen.
3. Keine Schreibweise, die der deutschen Grammatik gerecht wird, kann orthographisch als falsch gelten.
Aus diesen Grundsätzen folgt, daß niemand, der korrekt schreiben will, ein anderes Werk als die bis zum Sommer 1996 vorliegenden dudenkonformen Regelwerke, Wörterbücher und didaktischen Materialien heranzuziehen braucht. Niemand wäre also gezwungen, neue Bücher zu kaufen.
Was bisher für die sogenannte Rechtschreibreform ausgegeben wurde, ist so oder so ver­lorenes Geld. Die Wiederherstellung normaler Zustände jedenfalls ist kostenlos zu haben. Man muß sie nur wollen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.11.2010 um 09.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17066

Ich habe damals nach bestem Wissen in mein Wörterbuch aufgenommen, was ich in meinem Korpus gefunden habe. Das betrifft die Stichwortauswahl und die Schreibweisen gleichermaßen. Wenn mir dabei Fehler unterlaufen sind (eher Übersehenes als Überflüssiges), kann es leicht korrigiert werden, s. Vorwort, das dazu ausdrücklich ermuntert. Vielleicht machen wir tatsächlich mal eine Online-Fassung.
Das Rechtschreibwörterbuch lehrt nur, wie die Wörter geschrieben werden, nichts weiter. Das hat schon die von mir gern zitierte Frau Gottsched erkannt.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 08.11.2010 um 22.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17065

Was mir am Ickler-Wörterbuch (4. Auflage, 2004) noch gefällt:

– daß die Schreibungen instandsetzen und zugrundelegen erlaubt sind.

Was mir am Ickler-Wörterbuch dagegen nicht gefällt:

– daß die Schreibung infragestellen nicht zugelassen ist, obwohl infrage in § 12 ausdrücklich als Verbzusatz aufgeführt wird

– daß die Schreibung zuwegebringen nicht erlaubt und zuwege nicht als Verbzusatz aufgeführt ist, auch daß die Schreibvariante gut zu Wege nicht aufgeführt ist

– daß die Schreibungen garnicht und garnichts nicht zugelassen sind (so schrieb z.B. Eduard Engel).

Der alte Duden hat keine dieser Schreibungen zugelassen, obwohl er genau wußte, daß sie so selten garnicht vorkamen. Sonst hätte er es ja z.B. nicht für nötig befunden, ausdrücklich die emphatische Regel zu formulieren: "Die Verbindung instand + Verb wird immer g e t r e n n t geschrieben" (Problemfälle-Duden, 1985).

Überhaupt ist das Wörtchen immer (manchmal sogar gesperrt gedruckt) ein fast untrügliches Zeichen dafür, daß der Duden eine bestimmte Schreibvariante bewußt unterdrücken wollte. Was ihn in den verschiedenen Fällen dazu veranlaßt hat, bleibt unklar. Leider war der Duden ja keine Rechenschaft schuldig.

Und noch eines, was mir nicht gefällt, ist, daß das höchst entlegene Wort snobiety im Ickler aufgeführt ist. Das steht zwar auch im Duden, ist aber eine scherzhafte Ad-hoc-Bildung, die weder zum deutschen noch zum englischen allgemeinen Wortschatz zählt.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 08.11.2010 um 21.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17063

Lieber Prof. Ickler,

Sie schreiben völlig richtig:
"Es kommt natürlich noch hinzu, daß das übertragene frisch gebacken
kaum prädikativ gebraucht werden kann: *Das Ehepaar ist frisch gebacken."

Aber wofür spricht das? Ich meine, daß es dafür spricht, daß der Unterschied zwischen "wörtlicher" und "übertragener" Bedeutung von frisch gebacken/frischgebacken sich nicht nur in einer unterschiedlichen Neigung zu Zusammen- oder Getrenntschreibung, sondern auch in anderer Weise sprachlich niederschlägt. Das deutet wiederum darauf hin, daß die Unterscheidung beider Fälle in der Sprachintuition noch weiter geht, als man zunächst meinen sollte.

Sie haben auch recht, daß frisch gebacken im übertragenen Sinn gelegentlich auch getrennt geschrieben wird. Im DWDS-Korpus finde ich dafür (in den dort angezeigten Fundstellen) sieben Belege. Für die Zusammenschreibung bei übertragener Bedeutung finde ich 30 Belege. Das ist nicht überwältigend eindeutig, aber es zeigt eine klareTendenz.

Zufälligerweise finde ich bei der wörtlichen Bedeutung jeweils sechs Belege für Getrennt- und Zusammenschreibung.

Diese Befunde sollten angesichts der beschränkten Zahl der Fundstellen sicherlich nicht überberwertet werden. Auch die Textgrundlage des Korpus mag eine Rolle spielen.

Der Icklerbogen bei frisch_gebacken ist in der wörtlichen Bedeutung durchaus gerechtfertigt. Der alte Duden ließ schon immer und der neue Duden läßt seit 2006 in diesem Fall beide Schreibungen zu. Leider hat der alte Duden auch in diesem Fall behauptet, beide Schreibungen unterschieden sich in der Aussprache. Das geht an der Sprachwirklichkeit vorbei und ist in meinen Augen ein wirklich ärgerlicher und leider häufig wiederholter Fehler des alten Duden.

Nicht nur ist die Anfangsbetonung kein sicheres Indiz für die Zusammenschreibung, auch die Getrenntschreibung ist kein sicheres Indiz für die doppelte Betonung. Hier scheint der Duden Opfer einer Übergeneralisierung geworden zu sein.
 
 

Kommentar von Peter Küsel, verfaßt am 08.11.2010 um 17.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17062

Im Englischen gibt es nebeneinander zum Beispiel die Schreibweisen
- makeup und make-up
- warpath und war path und (wohl veraltend) war-path
- freelance und free-lance und free lance.
Wie stellen das eigentlich die englischen Wörterbücher dar?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.11.2010 um 14.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17061

Es kommt natürlich noch hinzu, daß das übertragene frisch gebacken kaum prädikativ gebraucht werden kann: *Das Ehepaar ist frisch gebacken. Dagegen ist die übliche Anfangsbetonung kein sicheres Indiz für Zusammenschreibung (auch darüber haben wir jahrelang diskutiert).
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 08.11.2010 um 13.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17060

Daß es keine Regelung der GZS im Englischen gebe, ist nicht ganz zutreffend. Man kann nicht run way schreiben oder beatgeneration. Darin stimmen alle Wörterbücher überein, auch wenn sie sich dafür nicht auf eine von irgendeiner Instanz erlassene Regel berufen können.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 08.11.2010 um 13.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17059

Beim Verfolgen dieser Diskussion stelle ich mir folgende Frage: Was bedeutet es eigentlich, wenn eine Zusammenschreibung, also etwa das häufige Beispiel "fertigstellen", in einem Wörterbuch verzeichnet ist?
Es kann entweder bedeuten, daß die Zusammenschreibung vorkommt, daß es sie also gibt; es könnte aber auch bedeuten, daß es eine Getrenntschreibung nicht gibt?

Was dokumentiert also der Lexikograph?

Den Icklerbogen interpretiere ich so, daß beide Schreibungen in der Praxis vorkommen, jedoch wird damit nicht gesagt, daß beide Schreibungen auch für die selbe Bedeutung stehen; es ist jedoch auch nicht ausgeschlossen, daß es so sein kann.

Das klassische Dudenverzeichnis (vor der Reform) interpretierte ich dagegen bisher überwiegend so, daß es Getrenntschreibungen an sich immer gibt, dort allerdings, wo sich Zusammenschreibungen für gewisse Bedeutungen eingebürgert haben, werden diese zusätzlich dargestellt. Wenn also "radfahren" verzeichnet ist, bedeutet das m. E. nicht automatisch, daß "Rad fahren" nicht existiert, oder?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 08.11.2010 um 12.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17058

Mir ist genau dasselbe Hin und Her bei der Argumentation zu frisch gebacken aufgefallen wie Herrn Achenbach, auch mir hat es nicht behagt, und jetzt dachte ich: "Herr Achenbach merkt aber auch alles."

Nur meine ich, daß das mit einem Fehler des Wörterbuchmachers oder Irrtümern in anderweitigen Kommentaren nichts zu tun hat, sondern mit den grundsätzlichen Problemen der Rechtschreibung bzw. ihrer Erfassung, die Herr Achenbach ebenfalls präzise benennt.

Ich ordne es so ein: Das grundsätzlichste Problem des Wörterbuchmachers ist, daß die Sprache ein ungemein vielfältiges Material mit feinen Unterschieden und Übergängen liefert, und beim Schreiben stehen nur Entweder-oder-Kategorien zur Verfügung: Getrennt oder zusammen, groß oder klein? Da paßt das vielgestaltige Material mit seinen Nuancen und Abstufungen oft nicht schön hinein. Deshalb vor allem entstehen Varianten und halten sich: Der eine Schreiber tendiert zu groß, der andere zu klein, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Und dann noch einmal bei der Frage: Was kommt wie ins Wörterbuch? Was soll überhaupt hinein? Mit Varianten oder ohne? Mit Empfehlung oder nicht? Liberal oder eindeutig? Alles das sind Ja-Nein-Entscheidungen, die dem Material zwangsläufig nicht gerecht werden, vielleicht nicht bei einem Wort wie Hund, aber bei den ganzen Zweifelsfällen.

Herr Achenbach spießt das immer wieder auf, und manchmal finde ich es unfair. Denn diese Konflikte zwischen der Wirklichkeit mit ihren fließenden Grenzen und den harten Entscheidungen beim Schreiben oder bei der Wörterbucharbeit lassen sich eben nicht auflösen. Theoretisch wäre es gerecht, zwischen Klein- und Großschreibung stufenlos skalieren zu können. Oder zwischen getrennt und zusammen. Aber das wäre viel zu kompliziert und schlecht lesbar. Das gibt es genauso wenig wie die Möglichkeit, eine Variante nur zu einem Drittel ins Wörterbuch aufzunehmen. Klar, man könnte sich die Mühe machen und Prozentangaben zur Häufigkeit liefern und so weiter, aber das wäre alles fürchterlich schwierig und für alle belastend. Auch zwischen falsch und richtig sollte man im Wörterbuch stufenlos skalieren können ...

Sehen wir uns frischgebackener Vater an. Ja, die Zusammenschreibung ist zunächst mal etwas besser. Erstens, weil der Leser schon genug backen sieht, und das backen tritt nicht so aufdringlich in den Vordergrund, wenn man es in der Zusammenschreibung unterbringt. Hier wird schließlich kein Kuchen gebacken, also sollte man die Zurückstufung normalerweise bevorzugen. Zweitens, weil man bei der attributiven Position vor dem Substantiv Vater den Leser ohne Hürde dorthin leiten möchte, wo auch die Betonung liegt; ein Wort zwischen Artikel und Hautpwort ist eine Spur angenehmer als zwei. Das entspricht dem normalen, flüssigen Sprechrhythmus besser.

Aber selbst diese Anerkennung eines feinen Unterschiedes reicht noch nicht aus, um der Sache gerecht zu werden. Zwar werde ich vermutlich in aller Regel bei dieser "übertragenen Bedeutung" frischgebacken zusammenschreiben, aber vielleicht sitzt mir doch mal der Schalk im Nacken: Ich möchte, wenn schon denn schon, das Bild auch einmal so richtig zur Geltung bringen und schreibe dann frisch gebacken absichtlich getrennt. Soll das etwa falsch sein? Das meinte Professor Ickler kürzlich: Es ist ein Irrtum, daß die Schreibung bei metaphorischem Gebrauch verändert werden müsse, denn damit wird ja gerade das Bild verfremdet, das ich (unter Umständen möglichst im Originalzustand) für etwas anderes verwenden möchte.

Das empirische Ergebnis, daß sowohl getrennt als auch zusammen vorkommt, geht sicherlich vor allem darauf zurück, daß die Unterschiede so gering sind, daß sie den meisten Schreibern gar nicht bewußt werden. Dennoch paßt ein liberales frisch_gebacken perfekt zur Materie. Es geht nicht an zu behaupten, nur eine Form sei in Ordnung. Man sollte selbst dann keine so harte Festlegung im Wörterbuch treffen, wenn wir ausschließlich hochsensible und gebildete Schreiber hätten, die nur in einem Prozent der Fälle albern sein wollen und deshalb nur ein Prozent Getrenntschreibung produzieren.

Immerhin war früher im Duden die (geringfügig) bessere Zusammenschreibung bei "übertragenem Gebrauch" als Norm vorgesehen. Das war eigentlich nur deshalb vertretbar, weil man sich eben möglichst immer eine eindeutige Auskunft vom Duden erwartete. Gemessen an der Schhreibwirklichkeit und an der linguistischen Theorie, war diese Festlegung jedoch abwegig – somit stimmt auch die Behauptung, es habe sich um eine Duden-Spitzfindigkeit gehandelt.

Nach der Reform sollte plötzlich die (in der Regel) geringfügig ungünstigere Schreibung die Norm sein! Der Spott von Professor Ickler im "Schildbürgerstreich" war vollkommen berechtigt. Und wir hatten unsere Freude daran, selbstverständlich durften wir über diese Verschlechterung wenigstens noch unsere Späße machen. Und ein pfeffriges Argument spitzt man eben ordentlich zu, wenn man sonst keine starken Waffen hat.

Und jetzt? Einfach ein liberaler Bogen enttäuscht diejenigen, die auf Qualität und Differenzierung Wert legen. Sollte man also doch eine Empfehlung geben? Ich meine: Es wäre an dieser Stelle eine schöne Lösung. Aber es geht ja um das ganze Wörterbuch. Wenn Sie mit solchen Feinheiten anfangen, müssen Sie zehntausend Feinheiten einarbeiten, und dann haben Sie wieder einen Duden. Mit allen Nachteilen.

Das Ickler-Wörterbuch konzentriert sich zwecks Entlastung vom Duden-Wahnsinn auf das Wesentliche. Falsch oder richtig, das wollen doch auch die Nutzer wissen. Und was bekommen sie bei frisch_gebacken? Die korrekte Antwort: Beides ist richtig.

Fazit: Der Eintrag ist in Ordnung, und alle Kommentare waren in Ordnung.
 
 

Kommentar von B Janas, verfaßt am 08.11.2010 um 12.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17057

Man könnte denken, daß ein kostenloses Internet-Wörterbuch, einfacher und schneller in der Nutzung, frei von überflüssigen und fehlleitenden Alternativen (das reduziert ja auch lästiges Mitdenken) dem Duden das Wasser sicherlich abgrübe.
Andererseits ist der Duden in der Hinsicht eine Art Bibel: Eine Internet-Bibel mit einfacherer Konzeption, zeitgemäßer Sprache, frei von historisch fragwürdigen Komplikationen, nur ein (konsolidiertes) Evangelium statt deren vier, etc., könnte niemals den "amtlichen" Ausgaben den Rang ablaufen.
Das ist es eben: ob Duden sich in der Werbung als "verbindlich" oder "amtlich" bezeichnet oder nicht, spielt keine Rolle, er wird nach wie vor unbewußt so empfunden, ganz wie eine Heilige Schrift.
Daß Mannheim diesen Reflex genau kennt, zeigt der jetzt geradezu unverschämte Slogan "Nur der Duden ist der Duden", und da mag der Namensträger im Grabe rotieren so schnell er will.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.11.2010 um 10.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17055

Schon wahr, Herr Achenbach, und ich gebe gern zu, daß ich am Anfang etwas über das hinausgeschossen sein mag, was ich später für richtig halten sollte. Das Schildbürgerbüchlein war eine Kampfschrift, und meine kleinen Übertreibungen waren durch die großen Übertreibungen der Reformer provoziert.
Wenig später stand ich vor derselben Aufforderung wie jetzt Herr Achenbach: Wie macht man es besser? Diese Aufforderung kam, wie berichtet, von Herrn Munske, meinem hiesigen Kollegen. Inzwischen hatte ich mit dem Kritischen Kommentar zur Neuregelung begonnen, und dann habe ich auch den alten Duden durchkommentiert und mir eine Konzeption für die deutsche Rechtschreibung überlegt. Der seither verstorbene Vorsitzende des FAZ-Vorstandes, Pfeiffer, überließ mir für den Anfang gratis eine Jahrgangs-CD der FAZ, ich erwarb noch zahlreiche weitere Zeitungen auf CD (darunter sechs Jahre SZ) und manches andere hinzu, und das war meine Textgrundlage.
So bin ich dazu gekommen, "frisch gebacken" großzügiger zu sehen, obwohl ich die damals verordnete Getrenntschreibung weiterhin für übertrieben halte. Was ich hier lang und breit und nicht zum erstenmal als den Preis dargestellt habe, den wir für eine konsequent empirische und liberale Rechtschreibung zahlen sollten, war für mich persönlich eine Kröte, die ich zu schlucken hatte. Aber besonders eklig war sie nicht. Daß Herr Achenbach sie zielsicher aufgespießt hat, spricht für seine umfassende Textkenntnis. Immerhin, er hat recht, und ich gebe den Fehler zu.

Heute morgen ist mir noch einmal die Übersicht in die Hände gefallen, die der FOCUS 2006 zusammen mit dem Duden (Werbung!) über die neueste Revision gegeben und zum Herausnehmen beigelegt hat. Die Verben kleinschreiben und großschreiben werden zusammengeschrieben, aber aus den angeführten Regeln geht nicht hervor, warum das so sein soll. Die Reformer haben 1996 die Unterscheidungsschreibung aufheben wollen, aber seither nie wieder darüber nachgedacht, ob die Bedingungen noch stimmen. Schließlich sind es keine Verben mit Resultativzusatz. Das Kriterium von 2006 entfällt also.
Außerdem fehlt jede Auskunft über Recht haben und leidtun, zwei Glanznummern von 1996.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 08.11.2010 um 01.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17054

Ich möchte vorausschicken, daß ich diese Diskussion für sehr wichtig halte und ich mich freuen würde, wenn sie nicht - wie soviele andere - wieder im Sande verliefe.

Ich möchte auch betonen, daß ich das Wörterbuch von Prof. Ickler für sehr wertvoll halte. Ich weiß auch sehr zu schätzen, daß darin Schreibungen wie umso, sodaß und zuhause "erlaubt" werden. Das sind Schreibungen zu denen ich seit meiner Kindheit geneigt habe. Ich vermute sogar, daß ich lange Zeit auch umso geschrieben habe, ohne zu ahnen, daß das "falsch" sein könnte, oder auf die Idee zu kommen, im Duden nachzuschlagen. Bis zur Rechtschreibreform habe ich mich eigentlich kaum um Rechtschreibung gekümmert und darauf gebaut, daß die (damals immer weiblichen) Sekretärinnen das schon besser könnten.

Herr Wrase hat mich vor die Herausforderung gestellt zu sagen, wie ich es denn besser machen würde. Das ist sicherlich nicht in dem einfachen Sinne zu verstehen, daß man etwas erstmal besser machen müsse, bevor man andere kritisiert. Die Frage, wie man mit Schwankungen der Schreibungen umgehen solle, ist aber eine sehr schwierige Frage - zugleich aber auch eine Kernfrage der ganzen Rechtschreibdebatte. Ich muß darüber erst einmal nachdenken, bezweifle aber, daß ich darauf eine befriedigende Antwort habe - nicht einmal eine mich selbst befriedigende.

Bevor ich mich dieser Herausforderung stelle (wenn ich es überhaupt kann), noch einige punktuelle Betrachtungen.

Sollte man nicht vielleicht überhaupt darauf verzichten, so verwickelte Dinge wie GZS und GKS "regeln" zu wollen? Das Fiasko der RSR und die Verrenkungen des Duden sollten ja warnende Beispiele sein. Vielleicht wäre es ja besser, zum Duden des 19. Jahrhunderts, zu den damaligen Schulorthographien, besser noch zu den Ergebnissen der Zweiten Orthographischen Konferenz zurückzukehren. Darin waren ja GZS und GKS so gut wie nicht behandelt. Auch im Englischen ist die GZS ja nicht geregelt. Die Engländer scheinen eine solche Regelung auch nicht zu vermissen.

Der Kernbereich der Rechtschreibung ist die Lautschreibung. Eine einheitliche Lautschreibung ist das Wichtigste für das flüssige Lesen und Schreiben. Einheitlichkeit von GZS und GKS ist im Vergleich dazu einigermaßen (aber nicht ganz) unwichtig. Die Einheitlichkeit der Lautschreibung war durch die Zweite Orthographische Konferenz im wesentlichen erreicht (Hauptausnahme: Fremdwörter) - aber auch nicht mehr. Deshalb geht mir die Feststellung von Prof. Ickler "Die deutsche Rechtschreibung war seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts einheitlich geregelt" etwas zu weit.

Ich bin grundsätzlich ein großer Anhänger von Liberalität bei der Rechtschreibung (außer der Lautschreibung) und auch sonst. Kann solche Liberalität aber selektiv sein.?. Warum völlige Freiheit bei den Verbzusätzen, bei anderen Fragen - wie der Unterscheidung zwischen im allgemeinen und im Allgemeinen - aber nicht? Was sind denn die Kriterien?

In seinem "Schildbürgerstreich" schreibt Prof. Ickler:
"Ein frisch gebackenes Ehepaar ist allenfalls als Hauptgericht bei einer Kannibalenmahlzeit denkbar. Ebenso ein sehr hart gesottener Geschäftsmann."

Das hat mich damals als eines von vielen Argumenten gegen die RSR durchaus überzeugt. Etwas erstaunt war ich deshalb, im Ickler-Wörterbuch bei frisch_gebacken und hart_gesotten den Icklerbogen wiederzufinden. Noch erstaunter war ich, in diesem Gesprächsfaden festzustellen, daß Prof. Ickler die Unterscheidung zwischen frisch gebacken und frischgebacken nun offenbar zu den "Duden-Spitzfindigkeiten" zählt. Am erstauntesten bin ich aber darüber, daß das alles wohl nur "Gelegenheit zu manchen Späßen" war.

Um die Geduld des geneigten Lesers nicht überzustrapazieren, ende ich vorläufig erst einmal.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 08.11.2010 um 00.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17053

Herr Mahlmann hat vollkommen klar dargelegt, welche Nachteile das Ickler-Wörterbuch im Blick auf viele typische Wörterbuchnutzer hat, jedenfalls man keine Anleitung zum Umgang mit dem Bogen erhält. Ich kann die Argumente gut nachvollziehen.

Das Dilemma läßt sich aber auflösen. Zum einen gehört die Aufklärung mit dazu. Die Sprachgemeinschaft oder auch der einzelne Nutzer muß vom Duden entwöhnt werden und einfach lernen, was wir hier besprechen. Es ist ungewohnt, aber auch nicht schwierig zu verstehen: Oft gibt es nicht nur eine geeignete Schreibung, sondern zwei. So wie es oft nicht nur eine Ausdrucksmöglichkeit gibt, sondern mehrere. Morgens oder am Morgen, schnell oder rasch oder flott, fertigkochen oder fertig kochen, die Wahl macht in vielen Fällen keinen oder nur einen so winzigen Unterschied, daß es nicht darauf ankommt. Der Leser wird in jedem Fall dasselbe verstehen. Oder es gibt einen gewissen Unterschied, aber der hängt von so vielen Kleinigkeiten ab, daß es nicht möglich ist, in einem Wörterbuch die perfekte Anleitung für jeden denkbaren Fall zu geben. Mit dieser Didaktik ist ja auch die Erläuterung verbunden, welche (sehr großen) Vorteile diese Freiheit des Schreibers oder des Schülers hat.

Wer sich partout mit dieser Freiheit trotz ihrer großen Vorzüge nicht anfreunden möchte, soll dann zunächst ein anderes Wörterbuch nutzen. Ein dickes, kompliziertes, schwieriges Wörterbuch mit massenhaft Einzelfallregelungen, Empfehlungen und Erläuterungen im Wörterverzeichnis, die bei genauem Hinsehen inkonsistent, willkürlich und immer noch mangelhaft sind.

Stellen wir uns vor, die Sprachgemeinschaft hätte rechtzeitig den Ickler bekommen. Viele nutzen dieses Wörterbuch, andere fühlen sich zunächst mit dem dicken Wälzer wohler. Die beiden Wörterbücher stehen in Konkurrenz. Es würde sich herumsprechen: "Warum tust du dir eigentlich den Duden an? Mit dem Ickler geht es schneller. Ich habe damit keine Probleme. Man muß oft gar nicht mehr nachschlagen."

Schade, daß es dieses Experiment nicht gibt. So dumm oder ängstlich sind die Leute dann auch wieder nicht. Wenn es immer wieder heißt: "Der Ickler genügt und wiegt gerade mal die Hälfte", bleibt der Duden allmählich im Regal. Und irgendwann fliegt er in die Tonne.
 
 

Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 07.11.2010 um 19.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17050

Hier wird sehr schlüssig vorgebracht, weshalb bei etlichen Fällen die Schreibung freigegeben bzw. der Bewertung des Schreibers anheim gestellt werden sollte.
Diejenigen aber, die ein Wörterbuch verwenden, sind im allgemeinen nicht so belesen und sprachlich so versiert, daß sie diese Wahlmöglichkeit als Freiheit empfinden und leichterhand die Variante wählen, die ihnen adäquat erscheint; die schlagen in einem Wörterbuch ein bestimmtes Wort nach und schreiben es ab – ohne darüber nachzudenken. Diese Leute würden auch »väatich stählen« schreiben, wenn es so angegeben würde.
Vor dem Hintergrund ist es schon verständlich, daß der Duden sein Heil in zwar zahllosen, aber für den bestimmten Begriff eindeutigen Einzelfestlegungen gesucht hat. Daß er es dort nicht gefunden hat, steht auf einem anderen Blatt.
Sich Gedanken zu machen, Varianten zu prüfen, verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen, sehen einfach viele Schreiber als Zumutung, als Belästigung an. Ihnen erscheint es auch als unverständlich, ja absurd, daß es zwei verschiedene Schreibweisen für – in ihren Augen – ein und dasselbe Wort geben soll. Daß dieses Wort dann auch noch unterschiedliche Bedeutungen haben kann, können sie sich nicht abstrakt und bewußt vorstellen – auch wenn sie es intuitiv und unbewußt so verwenden.
Jenen ist dann auch ein Wörterbuch keine Hilfe, für das man erst einmal ein Prinzip kennenlernen und verstehen muß. So sprachrichtig und sprachwissenschaftlich korrekt ein solches Wörterbuch auch sein mag, es setzt beim Nutzer Vorwissen und Sprachinteresse voraus, das die breite Masse nicht aufbringt.
Für Sprach- und Schreiblerner (auch Kinder) kann es hingegen sehr hilfreich sein, wenn im Unterricht besagtes Prinzip vermittelt wird; dann ist der Lernaufwand erheblich geringer als beim Auswendiglernen einzelner wortgenauer Bestimmungen.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 07.11.2010 um 14.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17045

Die Darstellung einer von Zweifelsfällen freien Rechtschreibung wäre nicht nur eine titanische Anstrengung mit unbrauchbarem Ergebnis. Sie ist konzeptuell unmöglich. Bedingung ihrer Möglichkeit ist, die ganze Welt in einen Sack stecken zu können. Dafür muß die Welt einheitlich, einfach und unwandelbar sein, sie muß evident sein und sich 1:1 abbilden lassen. Kurzum: Sie muß so beschaffen sein, daß es nichts mehr zu sagen gibt. Nichts zu sagen gibt es, wenn Bedeutungen trivial sind. Die meisten Leute beschäftigen sich jedoch nur deshalb mit Sprache, weil sie meinen, das, was sie sagen und hören, schreiben und lesen, sei nicht trivial (auch wenn sie sich darin häufig täuschen).

An dieser Stelle beginnt das Problem des Sprachwissenschaftlers, der von genau dem absehen muß, was die Leute beim Sprechen usw. normalerweise umtreibt, um für seine Disziplin einen eigenständigen Gegenstandsbereich herzustellen und zu bewahren. Wenn er ganz davon absieht, entschwindet ihm sein Gegenstand jedoch ebenfalls. Sein Ausweg: Er setzt die Welt als evident und die Bedeutung als trivial. Damit bekommt er jedoch nicht die Welt in den Sack, sondern nur einen Sack voll neuer Probleme. Es sind dieselben Probleme, an denen sich die Philosophie seit über 2000 Jahren abarbeitet und die systematisch lösen zu wollen sie nach Hegel weitgehend aufgegeben hat.

So setzt die Unterscheidung zwischen „wörtlicher“ und „übertragener“ Bedeutung einen ontologischen Vorrang der Dinglichkeit oder des zunächst und zumeist Gebräuchlichen voraus. Dieser Vorrang entspricht durchaus der naiven Metaphysik des Alltags, aber er läßt sich nicht beweisen. Deshalb ist es durchaus angemessen festzustellen, daß sich in der Getrenntschreibung die Vermutung einer ontologischen Vorrangigkeit ausdrückt. Es ist aber absurd, mit wissenschaftlichem Anspruch nach diesem Muster selbst Art oder Intensität von Seinsweisen zu unterscheiden und entsprechend festzulegen, wann es stecken bleiben und wann steckenbleiben, wann kaputt machen und wann kaputtmachen zu heißen hat.

Genauer: Es ist nur dann nicht absurd, wenn man für sich selbst den Standpunkt eines Beobachters begründet, der über ein absolutes Wissen verfügt. Solche Klötze stemmen zu wollen hat die Philosophie, wie gesagt, nach Hegel aufgegeben. Sprachwissenschaftler werden es schon deshalb nicht besser machen, weil sie nicht einmal wissen, worauf sie sich einlassen.

 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 07.11.2010 um 13.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17044

Lieber Herr Wrase,

vor vielen Monden habe ich mich einmal, im stillen Kämmerlein, anhand einer Reihe einschlägiger Beispiele intensiv mit den von Ihnen beschriebenen Abgrenzungsschwierigkeiten beschäftigt. Nicht, weil ich die Darstellung im Duden für falsch gehalten hätte, sondern weil ich sie in einem bestimmten Punkt nicht verstanden zu haben meinte. Das Ergebnis dieser Übung war in jeder Hinsicht ernüchternd: weder verstand ich den Duden danach besser, noch wäre ich zu irgendeiner eigenen schlüssigen Erklärung gelangt. Ich schrieb das damals meinem Unvermögen zu. Als dann Jahre später die Rechtschreibreform über uns hereinbrach, habe ich mich noch einmal intensiv mit dem Thema befaßt. Diesmal kam ich allerdings zu dem Schluß, daß letztlich jeder Versuch, die Getrennt- und Zusammenschreibung zu »regeln«, scheitern muß. Deshalb werden Sie mich nicht dazu verleiten können, an der Füllung irgendwelcher Infokästen mitzuwirken, jedenfalls wenn damit komplizierte Darlegungen gemeint sind, die letztlich mehr Fragen aufwerfen als beantworten.

Bleibt dennoch die Frage, wie man die komplizierte Schreibwirklichkeit in einem Wörterbuch befriedigend abbilden kann, ohne die meist recht profanen Bedürfnisse der Benutzer aus dem Auge zu verlieren.

(Leider muß ich hier abbrechen. Mir fehlt im Moment die Zeit, diesen Beitrag fertig_zu_schreiben bzw. fertig_zu_stellen, ich würde aber gern bei Gelegenheit noch ein paar Gedanken nachreichen.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.11.2010 um 09.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17041

Herr Wrase hat sehr schön dargestellt, worum es auch in meinen Augen geht. Ich bin weit entfernt von Prinzipienreiterei, das verträgt sich nicht mit meinem Bild von der Sprache und ihrer allmählichen Entwicklung.
Selbst bei fertigstellen liegen die Verhältnisse nicht so klar. Es gibt tatsächlich nur sehr wenige Verbzusätze, die in guten Texten vor der Reform (fast) ausnahmlos zusammengeschrieben wurden. Kein Wunder, denn die Zusammenschreibung ist überhaupt noch nicht so alt, bei Texten aus dem 19. Jahrhundert und sogar noch aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wundert man sich oft, was da alles noch getrennt geschrieben wurde.
Ich selbst habe ja immer gesagt: Wer die Grundgedanken meines Wörterbuchs verstanden hat, braucht es eigentlich nicht mehr. Das war etwas übertrieben, denn es steht noch manches andere drin, aber vor allem: Um den Grundgedanken zu verstehen und dann auch anzuwenden, braucht man eine gewisse Reife und vor allem Texterfahrung. Schüler und Wenigschreiber brauchen deshalb ein Wörterbuch., gleichsam als Surrogat für mangelnde Sprachroutine.

Gerade stolpere ich wieder über umso. Gute Gelegenheit, mal aus einem anderen Bereich zu illustrieren, was ich meinte. Der alte Duden bestand auf Getrenntschreibung - gegen die Schreibwirklichkeit, die Reform erzwingt Zusammenschreibung - genau so unrealistisch. Mein Wörterbuch verzeichnet wahrheitsgemäß, daß teils getrennt, teils zusammengeschrieben wird. Sollen wir tatsächlich dieses Wort auf den ständig wachsenden Stapel der Wörter legen, die in unvorhersehbarer Weise genormt sind? Man könnte einwenden: Mit meinem Rundbogen habe ich es doch auch genormt, nur eben im Sinne der Fakultativität. Stimmt, aber die Menge macht's: Die revidierte Neuregelung kennt einen Unmasse von Einzelfestlegungen, bei denen die Intuition auch des geübtesten Lesers und Schreibers beim besten Willen nicht vorhersagen kann, ob es nun so oder so oder sowohl so als auch so geschrieben wird. Von solchen Quisquilien ist mein Wörterbuch nahezu frei, es bildet die Intuition einigermaßen getreu ab und vermindert daher den Nachschlagebedarf. Wer sich länger hineindenkt und -übt, weiß im voraus: Hier lohnt es nicht nachzuschlagen.
Mein Wörterbuch hat noch einen Zweck: Es zeigt beispielhaft und behauptet nicht nur, wie man die Orthographie handhaben sollte.

Wenn ich Herrn Achenbach recht verstehe, meint er: Mit dem alten Duden konnte man gut leben, wenn man sich nicht groß darum kümmerte, was wirklich drinstand. Das ist freilich wahr und beschreibt den damaligen Zustand recht gut. Bei mir ist es ein bißchen anders: Mit meinem Wörterbuch kann man auch dann gut leben, wenn man weiß, was drinsteht.

Da nicht jeder Leser mein Wörterbuch haben dürfte, setze ich noch einmal das Vorwort der letzten Auflage hierher (ohne Kursive):

Vorwort
Die deutsche Rechtschreibung war seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts einheitlich geregelt. In Zweifelsfällen galt der „Duden“ – so hatten es die Kultusminister für den Schulbereich angeordnet, und die Schulorthographie wurde nicht nur von den Behörden, sondern weit darüber hinaus als maßgebend anerkannt. Die sogenannte Rechtschreibreform, die 1998 in Kraft trat, aber schon zwei Jahre vorher an den meisten Schulen eingeführt wurde, zerstörte diese Einheitlichkeit, ohne eine neue stiften zu können. Der Hauptgrund war die außergewöhnliche Fehlerhaftigkeit des neuen Regelwerks. Schon 1997 schlugen seine Verfasser „unumgänglich notwendige“ Korrekturen vor, die von den Kultusministern zunächst begrüßt, dann jedoch überraschenderweise untersagt wurden. Um die Unzuträglichkeiten der neuen Schreibweisen zu vermeiden, erarbeiteten die Nachrichtenagenturen und einige Zeitungsverlage unterschiedliche Kompromiß- und Alternativentwürfe, also „Hausorthographien“, wie man sie im 19. Jahrhundert gekannt hatte und durch die Einheitsorthographie von 1902 überwunden glaubte. Es erschien eine zweite Generation reformierter Wörterbücher, die trotz erheblicher Abweichungen von der amtlichen Neuregelung den Anspruch erhoben, deren korrekte Auslegung zu sein. Sie konnten sich auf exklusive Beratung durch eine „Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung“ berufen. Unterdessen verweigerten sich fast alle Schriftsteller der Neuregelung, und den Schulbuchverlagen wurde auferlegt, geschützte Autoren nur in der Originalschreibung abzudrucken. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kehrte angesichts dieser Entwicklung zur klassischen Rechtschreibung zurück. Der Zwischenstaatlichen Kommission, in der sich fast nur die Reformurheber zusammengefunden hatten, wurde ein „Beirat für deutsche Rechtschreibung“ zur Seite gestellt, den allerdings die Schweiz und Österreich nicht anerkannten.
Im Juni 2004 beschlossen die Kultusminister eine zwar tiefgreifende, aber keineswegs ausreichende Korrektur des verunglückten Regelwerks. Wieder wurden neue Wörterbücher gedruckt. Wenig später kamen Zweifel auf, ob das ganze Unternehmen überhaupt noch zu retten sei. Der Axel-Springer-Verlag stellte alle seine Publikationen wieder auf die frühere Rechtschreibung um, andere Unternehmen kündigten ähnliche Maßnahmen an. Als die Zwischenstaatliche Kommission die Erwartungen der Politiker dauerhaft enttäuschte, wurde sie samt Beirat aufgelöst und durch einen „Rat für deutsche Rechtschreibung“ ersetzt, in dem allerdings wiederum fast ausschließlich Reformbefürworter saßen – mehrheitlich dieselben wie in den gerade aufgelösten Gremien. Im Sommer 2005 trugen die Kultusminister selbst zur wachsenden Verunsicherung bei, indem sie einige Teile des Regelwerks für verbindlich erklärten, andere zur weiteren Bearbeitung freigaben. Der Rat schlug unter künstlich erzeugtem Zeitdruck schon Anfang 2006 eine weitere durchgreifende Änderung vor, die ungeachtet ihrer schweren Mängel von den Politikern gebilligt wurde und ihren Niederschlag in einer vierten Generation reformierter Wörterbücher (innerhalb von zehn Jahren!) fand.
So scheint ein Augenblick der Besinnung geboten. Wir hatten – und haben in weiten Teilen der seriösen Literatur immer noch – eine seit über hundert Jahren bewährte, außerordentlich leserfreundliche und bei allem Wandel recht einheitliche Orthographie. Änderungswünsche wurden denn auch nicht etwa mit funktionalen Mängeln der üblichen Rechtschreibung begründet, sondern mit ihrer angeblich unzumutbaren Schwierigkeit für Lernende und „Wenigschreiber“. Dem konnte die Neuregelung aber nicht abhelfen; sie ist sogar in vieler Hinsicht schwieriger als die alte und richtet sich außerdem in zentralen Bereichen ausdrücklich gegen die eigengesetzliche Entwicklung der Schriftsprache. Reformierte Texte – seien es Kinderbücher, Schulbücher oder selbst amtliche Schriftstücke – zeigen denn auch eine bisher nicht für möglich gehaltene Menge orthographischer Fehler. Noch schlimmer ist allerdings, daß gerade die „korrekte“ Befolgung der neuen Regeln zu grammatisch falschen Schreibweisen führte: so Leid es mir tut, wie Recht du doch hattest, am Schwindel erregendsten usw. Auch nach den bisherigen Reparaturen bleiben heute Abend, Diät leben und viele andere unannehmbare Schreibweisen verbindlich, darunter die vielbelächelten „volksetymologischen“ wie schnäuzen, nummerieren, einbläuen, platzieren usw.
Die Diskussion drehte sich seit 1996 immer nur um die Frage, wie ein Kompromiß zwischen altem Duden und Neuregelung aussehen könnte. Auf diesem Wege bot auch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihre „zweitbeste Lösung“ an. Dabei wurde geflissentlich übersehen, daß auch die beste jederzeit erreichbar blieb. Sie besteht darin, die tatsächlich übliche, in Jahrhunderten gewachsene Schreibweise zunächst einmal zu erfassen und dann in Wörterbüchern so darzustellen, wie sie wirklich ist. Das hat grundsätzlich auch der Duden versucht, allerdings blieb er in bestimmten Bereichen hinter den Anforderungen zurück. Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung und bei der Groß- und Kleinschreibung ließ er sich zu Einzelwortfestlegungen verleiten, die schließlich die gesamte deutsche Rechtschreibung als Ansammlung von Spitzfindigkeiten erscheinen ließen und in den unverdienten Ruf der Unbeherrschbarkeit brachten. Es wäre daher das Gebot der Stunde gewesen, diese Haarspaltereien auszukämmen, ohne die üblichen Schreibweisen durch gänzlich neue zu verdrängen.
Einige Beispiele sollen verdeutlichen, was gemeint ist. Der alte Duden legte z. B. strikt fest, daß ernst nehmen nur getrennt, ernstzunehmend aber zusammenzuschreiben sei; hinzu kam noch Getrenntschreibung bei einer ziemlich abwegigen Betonung auf dem zweiten Bestandteil: ernst zu nehmender Einwand. Auch beiseite legen und ähnliche Verbindungen durften nur getrennt geschrieben werden. Für den schnellen Brüter und die Wendung um ein vielfaches war Kleinschreibung verordnet. In Wirklichkeit kümmerten sich die wenigsten Schreiber um solche Bestimmungen. Der Reaktortyp wurde oft und das Vielfache in dieser Verbindung fast immer groß geschrieben. Es gibt Hunderte von ähnlichen Beispielen.
In dieser Situation liegt folgende Lösung nahe: Solange niemand eine stimmige und allgemein akzeptierte Rechtschreibreform vorzuschlagen vermag, sollte man bei der herkömmlichen Orthographie bleiben. Sie funktioniert ausgezeichnet, findet breiteste Anerkennung und ist anpassungsfähig genug, um sprachliche Neuentwicklungen aufzunehmen. Voraussetzung ist allerdings eine vom Duden unabhängige, auf gute Texte gestützte Erfassung der wirklich üblichen Schreibweisen.
Zusammen mit dem Wörterverzeichnis wird hier eine neue Fassung der Regeln zur Diskussion gestellt, und zwar zunächst in einer vereinfachten, allgemeinverständlichen Form, die ungefähr das enthält, was ein gebildeter Erwachsener über die deutsche Rechtschreibung weiß. Sie ist auch für Schüler gedacht. Eine anspruchsvollere, mehr in die Einzelheiten gehende Darstellung schließt sich an.
In den beiden genannten Übergangsbereichen war es unumgänglich, die im Schreibbrauch herrschende Wahlfreiheit getreulich wiederzugeben. rückwärtsfahren oder beiseiteschieben werden nun einmal teils getrennt und teils zusammengeschrieben. Aus dem Kreise wohlwollender Kritiker ist vorgeschlagen worden, die Getrennt- und Zusammenschreibung „eindeutiger“ zu regeln. Dagegen sprechen zwei Gründe. Erstens berechtigt das Material nicht zu Festlegungen, wie sie der Duden in zahllosen Einzeleinträgen getroffen hatte. Noch wichtiger ist aber der zweite Grund: Entschiede der Lexikograph im Sinne der „Eindeutigkeit“ bei jedem Wort, ob es getrennt oder zusammen-, groß oder klein zu schreiben sei, dann wüßte der Benutzer zwar, daß eine Festlegung existiert, er müßte aber jedesmal nachschlagen, um herauszubekommen, wie sie aussieht. Diese geradezu monströse Erschwerung würde zum vielbeklagten früheren Zustand zurückführen, der allmählich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Dudennorm erzeugt hatte.
Bei der Silbentrennung sind fast keine Varianten vorgesehen. Dieser Teil der Orthographie ist heute nicht ohne Rücksicht auf die automatische Textverarbeitung zu behandeln. Die Trennprogramme brauchen eindeutige Vorgaben und kommen mit dem, was Schülern schwierig erscheinen mag, im großen und ganzen sehr gut zurecht. Übrigens entfällt die etwas vage Empfehlung des alten Duden, wonach zwei ungleiche Vokale selbst dann nicht getrennt werden, wenn sie zu verschiedenen Silben gehören. Es scheint wenig sinnvoll, zwar ide-al, Isra-el usw. zu trennen, ide-ale, Isra-eli usw. aber nicht zuzulassen. Zu unschönen einzeln stehenden Vokalbuchstaben kann es hier offenbar gar nicht kommen. Diese „Neuerung“ (wenn es denn eine ist, denn der Duden von 1991 läßt durchaus einen Spielraum) ist die einzige nennenswerte Abweichung von der bisherigen Norm. Es sollte aber dabei bleiben, daß Fremdwörter wie Dia-gnose, Sub-strat nach ihren Bestandteilen und nicht nach Metzgerart (Diag-nose, Subst-rat laut Neuregelung) getrennt werden. Diese Bestandteile (dia, sub usw.) sind vielfältig verwendbare Bausteine des heutigen Deutsch; mit ihrer Verundeutlichung ist niemandem gedient.
In der vorliegenden Neubearbeitung sind seit der vierten Auflage auf Wunsch vieler Benutzer knappe Bedeutungsangaben hinzugefügt, wo es sinnvoll erschien – etwa im Umfang der gewohnten Rechtschreibwörterbücher. Das grammatische Geschlecht ist, wenn es sich nicht von selbst versteht, durch den Artikel gekennzeichnet. Neu ist auch die reichhaltigere Auswahl von Namen bekannter Persönlichkeiten, mit den Lebensdaten als Zugabe. Dennoch bleibt das Wörterbuch ein orthographisches und kann ein Bedeutungswörterbuch oder gar ein Konversationslexikon nicht ersetzen.
Das Buch hat seinen Zweck erfüllt, wenn es dem Ratsuchenden ermöglicht, orthographisch unauffällige Texte zu schreiben.

Erlangen, im April 2006 Th. I.

 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 07.11.2010 um 06.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17040

Herr Metz, das ist wirklich eine gute Frage. Sie drängt sich an dieser Stelle auf.

Ich könnte, kongenial mit dem Ickler-Bogen, radikal vereinfachend sagen: "Man braucht ihn gar nicht, das ist das Schöne an diesem Werk."

Aber Sie wollen es genauer wissen. Zunächst mal steht da ja noch mehr drin als die Einträge mit dem Bogen. Sie werden in Ihrem Leben gelegentlich ein Wörterbuch konsultiert haben, vorrangig den Duden, weil Sie plötzlich nicht mehr wußten, wie man ein bestimmtes Wort oder einen bestimmten Ausdruck schreibt. Das können Sie auch im Ickler nachschlagen und werden dort in vielen Fällen eine bessere Auskunft bekommen als damals im Duden, der eine große Menge von unrealistischen Behauptungen über angeblich zu befolgende Schreibungen von Ausgabe zu Ausgabe mit sich herumschleppte.

Beim der GZS finden Sie nun sehr oft diesen Bogen. Eine Antwort auf Ihre Frage ist: Sie brauchen den Ickler, um im allgemeinen Teil zu lernen, daß es sich bei den betreffenden Konstruktionen eigentlich (anders gesagt: ursprünglich) um zwei Wörter handelt, bei denen die Zusammenschreibung nur "mehr oder weniger üblich" geworden ist. Sie ist "fakultativ", das heißt, sie hängt im Einzelfall vom Geschmack und Bedürfnis des Schreibers ab. Oder von ganz bestimmten, höchst spezifischen Bedingungen (Bedeutungsaspekte, Betonungsmuster, Umfänglichkeit der Bestandteile, Zusammen- und Getrenntschreibung bei ähnlichen und bei konkurrierenden Konstruktionen), die in Vorschriften zu packen viel zu kompliziert und jedenfalls insgesamt unmöglich ist. Sie lernen, daß Sie aus diesen Gründen schlicht keine Einzelfallregelungen im Wörterverzeichnis bekommen werden. Dieselbe Information, sozusagen nur noch einmal zur Bestätigung, finden Sie dann tatsächlich jeweils im Wörterverzeichnis, wenn Sie den Bogen sehen – und zugleich einen Verweis zurück zum allgemeinen Teil. Denn dort vor allem steht, was der Schreiber über die GZS wissen sollte.

Sie werden vielleicht wie Herr Achenbach sagen: Aber wenigstens fertigstellen hätte man doch mit eindeutiger Zusammenschreibung im Wörterverzeichnis aufführen können, anstatt es lieblos mit den anderen fertig... in einen Topf zu werfen. Ich frage zurück: Was soll denn das bringen? Der Nutzer hätte fertigstellen doch sowieso zusammengeschrieben, deswegen wird er nicht das Wörterbuch aufschlagen. Er schließt sich der üblichen Zusammenschreibung sehr wahrscheinlich an, aber nicht, nachdem er ein Wörterbuch aufschlägt, sondern deshalb, weil er das Wort immer wieder und immer wieder so gelesen hat. Es ist wichtiger, auch an dieser Stelle die Information zu bekräftigen: "Auch bei fertig_stellen handelt es sich eigentlich (anders gesagt: ursprünglich) um zwei Wörter." Wenn der Wörterbuchmacher plötzlich suggeriert, fertigstellen sei anders konstruiert als fertig_bekommen, tut er der Wahrheit Gewalt an. Und vor allem landen Sie mit dieser Herangehensweise mitten im Dschungel der Duden-Spitzfindigkeiten.

Interessant ist nicht ein isoliertes fertig_stellen, sondern die Zusammenschau mit fertig_bekommen usw., wegen dieser fraglichen Fälle wird eventuell ein Wörterbuch aufgeschlagen. Dort werden Sie nun im Duden sehr ausführliche Erläuterungen finden, die neuerdings darauf hinauslaufen, daß man außer bei fertig sein und im Unterschied zum selbständigen Adverb fertig eigentlich immer zusammen- oder auch getrennt schreiben kann. Allerdings mit einigen Ausnahmen, exemplifiziert bei den einzelnen Stichwörtern, auf die unten im Infokasten verwiesen wird. So erfahren Sie, wenn Sie zwischen Infokasten und Wörterverzeichnis pendeln, daß Sie zwar eine Arbeit fertig bekommen oder auch eine Arbeit fertigbekommen schreiben können, aber nur zusammengeschrieben sie hat es fertigbekommen, sich mit allen zu überwerfen.

Was zunächst sehr sorgfältig aussieht, ist in Wirklichkeit Murks auf hohem Niveau. Denn Sie können sehr wohl, ohne jeden Nachteil für den Leser, schreiben sie hat es fertig bekommen, sich mit allen zu überwerfen, ähnlich wie Sie eben auch eine Arbeit fertig bekommen können – obwohl es in seltenen Fällen möglicherweise eine Spur besser wäre, die Arbeit fertigzubekommen, damit von der Schreibung her klargestellt ist, daß es sich nicht um den Fall handelt, daß Sie von einer anderen Person eine fertige Arbeit erhalten. Also: Wieso soll bei "Arbeit" das manchmal leicht suboptimale fertig bekommen in Ordnung sein, nicht jedoch im Fall es fertig bekommen = "zu einer Dummheit oder Unverschämtheit fähig sein", obwohl gerade bei letzterem ein Mißverständnis gar nicht möglich ist? Außerdem müssen wir enttäuscht zur Kenntnis nehmen, daß laut Duden fertigwurde genauso erlaubt sein soll wie fertig wurde.

Wenn Sie den Duden um die zuletzt angedeuteten psychotischen Ausführungen bereinigen, erhalten Sie, wie schon gesagt: "Außer bei fertig sein können Sie den Verbzusatz fertig... im Prinzip mit dem zugehörigen Verb zusammen- oder von diesem getrennt schreiben." Im Ickler haben Sie diese Information auf einen Blick.

Und wenn Sie es einmal verstanden haben, werden Sie in der Tat schon vor dem Nachschlagen wissen, daß da wieder dieser Bogen kommt und sich das Nachschlagen erübrigt.

Ich frage Sie deshalb umgekehrt: Halten Sie die komplizierte Darstellung im Duden tatsächlich für überlegen? Ist sie realistisch? Bringt sie dem Anwender mehr?

Kann ja sein, daß es Herr Achenbach besser macht. Ich warte auf sein Arbeitsergebnis.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 07.11.2010 um 01.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17039

W. Wrase: »Beim Ickler-Bogen ist es so: Man weiß sowieso, daß da dieser Bogen zu erwarten ist, nicht nur bei fertig.... Also wird man, ohne überhaupt nachsehen zu müssen, fertigstellen höchstwahrscheinlich zusammenschreiben (deshalb war es ja vor der Reform auch so ein eindeutiger Fall), und bei den anderen Fügungen wird man eine angemessene Schreibung finden, beispielweise die Getrenntschreibung fertig wurde. Was in Ihrem Infokasten steht, braucht man dazu nicht.«

Herr Wrase, eine einfache Frage: Wozu braucht man dann den Ickler?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 06.11.2010 um 23.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17038

Die Duden-Spitzfindigkeiten haben in der allgemeinen Debatte nur gelegentlich eine Rolle gespielt, wenn von Journalisten Beispiele aufgegriffen wurden, die von den Reformern gestreut wurden. Christian Meier hat wiederholt davon gesprochen, der Duden müsse »ausgekämmt« werden. Damit waren die exotischeren Festlegungen à la im trüben fischen gemeint.

Bei allen grundsätzlichen Erwägungen sollte man nicht vergessen, daß es in der Praxis eine wichtige Rolle spielt, wie häufig ein Wort geschrieben wird. Zum Rande des Wortschatzes hin erweitert sich der Variantenspielraum, weshalb es auch einen pragmatischen Unterschied macht, ob man die Schreibung von kennenlernen freigibt oder die von beiseite legen.

Der Variantensalat der Reformer hat schon deshalb keine Zukunft, weil viele häufig gebrauchte Wörter betroffen sind (und dies seit 2006 erst recht).
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.11.2010 um 22.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17037

Lieber Herr Achenbach, ich glaube, da gibt es nicht viel zu streiten.

Auch Sie hätten ein Einsehen, wenn Sie wenigstens an ein paar Verbzusätzen mal Ihre Vorstellungen im Detail ausarbeiten würden. Mit der Gegenüberstellung von wenigen Einzelfällen wie die von Ihnen genannten (abwärts... paßt schön in die fakultative Schublade, fertigstellen sieht schön eindeutig aus) machen Sie sich und den anderen etwas vor, wenn Sie damit unterstellen wollen, der gesamte Wortschatz ließe sich ebenso säuberlich einordnen. Selbst wenn es Ihnen gelänge: Der Aufwand wäre titanisch und würde dem Nutzer am Ende nichts bringen. Mit dem Ickler-Bogen schreibt er genauso gut, wie wenn er alles mögliche in Ihrem Kompendium der angemessenen Schreibungen nachschlüge.

Wagen Sie sich doch mal, ermutigt von der befriedigenden Festlegung bei fertigstellen, an die Gruppe fertig.... Wie sieht es aus mit fertig_bringen, fertig_bekommen, fertig_machen, fertig_werden, fertig_kochen? Wenn Sie diese noch überaus übersichtliche Sippe bewältigt haben, dürfte das Ergebnis so ähnlich aussehen wie die Anleitungen in den blauen Kästen des Duden, die sich so gut wie niemand antut. Oder vielleicht wollen Sie es ein bißchen anders regeln?

Zeigen Sie uns doch, wie Ihre Getrennt- und Zusammenschreibung hier aussähe. Gerade dann, wenn Ihr Infokasten die Realität sehr präzise abbildet: Der Anblick wird abschreckend unregelmäßig sein und willkürlich anmuten – oder aber nach Ihren eigenen Maßstäben zu liberal ausfallen. Sie sollten beispielweise schon darauf hinweisen, daß bei fertigwerden die Zusammenschreibung im Infinitiv und beim Partizip Perfekt sehr viel besser möglich ist als bei finiten Formen wie fertig wird, wenn Sie denn alle Fälle explizieren möchten. Sie wollen doch nicht, daß der Nutzer aus Ihren Vorgaben ableitet, daß man fertigwurde ohne weiteres zusammenschreiben könne? Oder wäre Ihnen das nun doch wieder egal, "weil der Nutzer sowieso nicht diese Schreibung wählen wird"??

Beim Ickler-Bogen ist es so: Man weiß sowieso, daß da dieser Bogen zu erwarten ist, nicht nur bei fertig.... Also wird man, ohne überhaupt nachsehen zu müssen, fertigstellen höchstwahrscheinlich zusammenschreiben (deshalb war es ja vor der Reform auch so ein eindeutiger Fall), und bei den anderen Fügungen wird man eine angemessene Schreibung finden, beispielweise die Getrenntschreibung fertig wurde. Was in Ihrem Infokasten steht, braucht man dazu nicht.

Ja, bei fertig... wird im Ickler-Wörterbuch ein ziemlich eindeutiger Fall von Zusammenschreibung (fertigstellen) in einen Topf mit anderen Fügungen geworfen, bei denen auch die Getrenntschreibung mehr oder weniger verbreitet ist. Na und? Dieser Bogen bedeutet ja nicht, daß in jedem Fall von fertig... die Getrenntschreibung ebenso gut geeignet ist wie die Zusammenschreibung, sondern er bedeutet, daß der Schreiber es sich aussuchen darf, wie er jeweils schreiben möchte. Das funktioniert!

Es überzeugt Sie nicht? Lassen Sie uns Ihren Infokasten zu fertig... begutachten. Dann wird sich zeigen, ob Sie diese einfache Aufgabe überzeugender gelöst haben als die vereinfachte Darstellung bei Ickler, die es nach Ihrem Geschmack an Differenzierung fehlen läßt.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 06.11.2010 um 19.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17036

Ich möchte an den Ausgangspunkt der Diskussion erinnern. Es ging doch um die Frage, wie man "strategisch" besser dem Einwand hätte entgegnen können, ein Verzicht auf die Rechtschreibung bedeute ein Zurück zu den "Duden-Spitzfindigkeiten".

Ich meine allerdings, daß die Reformer die Bedeutung dieser "Spitzfindigkeiten" maßlos übertrieben haben, als ob das Wohl und Wehe der Menschen, das Fortkommen in Schule und Beruf davon abhingen. Dies ging schon immer an der Lebenswirklichkeit vorbei. Ich habe in meiner Schulzeit keinen Lehrer erlebt, der uns mit diesen Spitzfindigkeiten über Gebühr traktiert hätte. Ich glaube nicht, daß der Meister, der über die schlechte Rechtschreibung seiner Lehrlinge klagt, solche Spitzfindigkeiten meint – schon deshalb, weil er sie wahrscheinlich selbst nicht beherrscht. Das war eben nur ein Popanz, der aufgebaut wurde, um die Rechtschreibreform zu begründen. Mit diesen Spitzfindigkeiten konnte man gut leben, wenn man sie nicht allzu ernst nahm – noch besser vielleicht, wenn man sie gar nicht kannte.

Deshalb glaube ich, daß das Argument "wir wollen ja auch nicht zurück zu diesen Spitzfindigkeiten, sondern nur zur 'Substanz der traditionellen Rechtschreibung'" eher geschadet als genützt hätte. Damit hätte man selbst diesen Popanz nur noch verstärkt und letztlich eingeräumt, daß irgend eine Art von Reform dringend notwendig sei, und sei es nur eine Vereinfachung des alten Duden. Damit hätte man sich aber auf eine endlose Debatte eingelassen über Vor- und Nachteile dieses oder jenes Änderungsvorschlags.

Ich glaube auch nicht, daß man damit breitere Bevölkerungsschichten hätte erreichen können. Denen war die (vermeintlich) vertraute Dudenschreibung einfach lieber als eine Reform, die sie zum Umlernen zwang, aber keinen erkennbaren Nutzen, nämlich keine wirkliche Vereinfachung brachte.

Eine ganz andere Frage ist, wie man zum Ickler-Bogen steht. Ich gestehe, daß er mich nicht recht überzeugt, denn damit werden höchst unterschiedliche Fälle in einen Topf geworfen, etwa klare Schwankungsfälle wie abwärts gehen/abwärtsgehen und – bis 1996 – völlig eindeutige Fälle wie fertigstellen. Ich bin gerne bereit, darüber – sachlich – weiter zu streiten, wenn daran Interesse bestehen sollte.

Lieber Prof. Ickler,

ich habe zu Ihrem Tagebucheintrag eine Frage: Sie sprechen davon, daß Sie das "Hauptgewicht auf etwas anderes" gelegt hätten. Welches andere meinen Sie damit?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.11.2010 um 17.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17035

Hier noch mal ein Beispiel: Der alte Duden glaubte zwischen frisch gebackenem Brot und frischgebackenen Eheleuten unterscheiden zu müsse – der alte Irrtum, die Metapher durch andere Schreibung ihres metaphorischen Charakters zu berauben. Außerdem ist der Übergang zur Metapher oft nicht eindeutig.
Die Neuregelung von 1996 hat überall Getrenntschreibung eingeführt, den besagten Unterschied also unkenntlich gemacht. Das hat uns zwar Gelegenheit zu manchen Späßen verschafft, aber der Grundgedanke war in diesem Punkt nicht verkehrt. Die Revision führt die semantische Unterscheidungsschreibung wieder ein – aber nur zur Hälfte: bei übertragener Bedeutung nur Zusammenschreibung, bei wörtlicher Bedeutung nach Belieben getrennt oder zusammen. Und so in unzähligen Fällen. Sogar bei "sich frischmachen" darf man jetzt zusammenschreiben, nicht aber bei "frisch halten". Dagegen wird "frischmelkend" laut Duden nur zusammengeschrieben, Wahrig hat das Wort gar nicht erst. Das alles ist der helle Wahnsinn, aber die Reformbetreiber und ihre Lakaien hören nicht auf, von "Vereinfachung" zu sprechen.
Früher habe ich es an Verbindungen mit "schwarz" und "hoch" durchexerziert, aber nun sollte es wirklich genug sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.11.2010 um 17.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17034

Herr Wrase ist vielleicht etwas heftig, was mit seinem starken Engagement für die gute Sache zusammenhängt und auch damit, daß er gerade in diesem Punkt die Nützlichkeit der "empirischen" und liberalen Lösung so eingehend erforscht hat. Nun denn: die angeblich so ungewöhnlichen Schreibweisen waren durchaus häufig zu finden, wobei zwischen einzelnen Beispielen natürlich große Unterschiede festzustellen waren. In meinem Regelwerk, auf das im Wörterverzeicnis stets verwiesen wird, ist das auch klar ausgesprochen, besonders in der kurzen Anleitung für Schüler usw.
Da steht nämlich die Gruppe der immer zusammengeschriebenen Wörter, die absichtlich klein gehalten ist, und dann folgt: "In anderen Fällen ist Zusammenschreibung nur mehr oder weniger üblich. Getrenntschreibung ist dann nicht falsch, Zusammenschreibung aber oft besser." Dieser Spruch ist ein wahrer Segen. Er spricht die Tendenz aus, zurrt sie aber noch nicht fest.

In Wirklichkeit sind die von Hern Achenbach genannten Beispiele in der Praxis nämlich ziemlich unschädlich, sie werden oft gar nicht bemerkt. Der Preis, wenn man hier "Sicherheit" schafft, wäre ungeheuer hoch und der Ruf nach einer Reform unvermeidlich (wie es ja denn auch gekommen ist). Ich erzähle noch einmal die Anekdote, die mir sehr erhellend vorkommt: Eine mir wirklich sehr liebe Mitstreiterin wollte ebenfalls eindeutige Festlegung und nicht den Rundbogen der "Beliebigkeit". Sie glaubte die bisherigen Dudenfestlegungen zu beherrschen und war auf meine Testfrage hin ganz sicher, daß "beiseitelegen" zusammengeschrieben werde. Fast konnte sie es nicht glauben, daß der Duden Getrenntschreibung vorschrieb. Und es gab tausend ähnliche Beispiele. Mit meinem Wörterbuch kann das nicht passieren, daß hier jeder Fehler macht und keiner was merkt.
Ich brauche wirklich nicht nachzuschlagen, um sagen zu können, was ich in meinem Wörterbuch zu solchen Fällen geschrieben habe. Hat man das Prinzip einmal verstanden, braucht man praktisch nie wieder nachzuschlagen. Die Texte leiden darunter nicht, das steht vollkommen fest, nicht zuletzt durch Herrn Wrases Untersuchungen. Um dieses ungeheuren Gewinnes willen, der die deutsche Rechtschreibung wieder lehr- und lernbar macht und eine Wohltat für die Schüler wäre, habe ich den kleinen Preis bezahlt, die oft "bessere" Schreibweise nur als fakultativ darzustellen, wie gesagt: stets in Übereinstimmung mit der Schreibwirklichkeit in unverächtlichen Quellen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.11.2010 um 16.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17033

Lieber Herr Achenbach, haben Sie es tatsächlich immer noch nicht verstanden?

Machen Sie es ohne Ickler-Bogen. Machen Sie es wie der Duden, gerne besser als der Duden: Definieren Sie für jede einzelne von vielen tausend Kombinationen Verbzusatz_Verb, wo Sie Zusammenschreibung vorsehen, wo Getrenntschreibung und wo Sie beides zulassen. Machen Sie es am besten, damit der Nutzer Ihres Duden auch wirklich Bescheid weiß, mit Hinweisen auf Haupt- und Nebenvarianten, mit Empfehlungen, mit Anweisungen jeweils zu Ausnahmen und Sonderfällen.

Was dabei herauskommt, wird zehntausendmal komplizierter sein als der Ickler-Bogen und dem Nutzer in allererster Linie Unsicherheit, Zwang und Mühe bescheren. Ihr Wörterbuch wird von Willkür strotzen: Warum hier Getrenntschreibung und dort, einen Wimpernschlag von Bedeutung entfernt, Zusammenschreibung? Warum soll hier nur Zusammenschreibung möglich sein, dort jedoch auch Getrenntschreibung? Warum ist hier Zusammenschreibung kommentarlos zu akzeptieren, dort als Hauptvariante, nur wenig entfernt als Nebenvariante und wieder ein Stückchen weiter gar nicht?

Der Ickler-Bogen entlastet sämtliche Nutzer. Sie wissen: Eigentlich sind es zwei Wörter. Vergleiche: come back = zurück + kommen. Zurück kam er erst nach drei Tagen (einzig übliche Schreibung). Wenn wir nicht mehr zurück können (übliche Schreibung). Weil hier nichts mehr vor oder zurück geht (allein übliche Schreibung). Zusammenschreibung ist, ganz allgemein gesagt, mehr oder weniger üblich, insgesamt überwiegt sie. Wenn die Getrenntschreibung ganz unüblich ist, sträubt sich im Schreiber offenbar (aus irgendwelchen sehr feinsinnigen, im Einzelfall oft nicht genau bestimmbaren Motiven) etwas gegen sie. Er wird deshalb, ja: meistens, höchstwahrscheinlich die Zusammenschreibung wählen. Die Getrenntschreibung bleibt zwar laut Ickler-Bogen formal zulässig, in vielen Fällen werden die Schreiber diese Option aber gar nicht brauchen und sie auch nicht nutzen. Ist das schlimm? Was soll daran ein Nachteil sein?

Die Vorteile des Ickler-Bogens sind im Vergleich zu Ihrem verbesserten Duden gigantisch. Ebendies hat Professor Ickler seinen Mitstreitern bis zum Gehtnichtmehr und mit größter Geduld erklärt. Allein im Internet mit weit mehr als hundert Beiträgen, schätze ich.

Aber einige wollen es einfach nicht verstehen. Davon war im aktuellen Tagebucheintrag die Rede. Man hätte die Energie in andere Argumente mit mehr Erfolg investieren können.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 06.11.2010 um 14.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17032

Hier sind einige Getrenntschreibungen bei Verbzusätzen, die im Diskussionsforum in den letzten Monaten aufgespießt worden sind:

zusammen gekommen; dicht gemacht; weg gießen; tot gebissen; davon getragen; weiter machen; entgegen wehen; zurück zu erkämpfen; zurück gezogen; davon zu tragen; sicher zu gehen; ruhig gestellt; zusammen zu werfen; zurück gestellt; hinzu zu gewinnen.

Das wären jedenfalls früher und auch ohne "Duden-Spitzfindigkeiten" höchst seltsame, ja "falsche" Getrenntschreibungen gewesen.

All diese Bildungen sind allerdings im Ickler explizit oder implizit mit dem Ickler-Bogen aufgeführt. Was ist dann an der Getrenntschreibung auszusetzen? Oder habe ich das mit dem Ickler-Bogen ganz falsch verstanden?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.11.2010 um 09.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17030

Nun, Herr Achenbach kann sich vielleicht an die Ereignisse der ersten Jahre nicht mehr erinnern. Ohne mich selbst rühmen oder gar für unfehlbar erklären zu wollen, darf ich – wie schon Herr Wrase – doch noch einmal in Erinnerung rufen, wie damals ein gangbarer Weg gewiesen wurde. Die Alternative "Rechtschreibreform oder alter Duden" hat mir nie eingeleuchtet, sie erschien mir als taktischer Trick gewisser Leute (Mentrup, Dieter E. Zimmer). Ich hatte mich schon früher überzeugt, daß der Duden den wirklichen Schreibbrauch nicht korrekt wiedergab und stattdessen die verrufene Haarspalterei betrieb, was letztlich dazu führte, daß tatsächlich "jeder" den Duden brauchte.

Die Reform gab mir den Anstoß, den Gegenentwurf vorzulegen: "Duden ohne DUDEN" – so der Titel eines Beitrags in der FAZ, auch "Gibt es ein Leben nach dem Duden?". Ich hatte schon den alten Duden kritisch durchkommentiert und schlug vor, die tatsächlich übliche Rechtschreibung empirisch neu zu erfassen und in einem Wörterbuch mit Regeln darzustellen. Wie ich vor allem in "Rechtschreibreform in der Sackgasse" (PDF-Datei siehe www.vernuenftig-schreiben.de)ausführlich dokumentiert habe, machte sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nach der Passauer Tagung meinen Entwurf fast wörtlich zu eigen. Nachdem sie diesen Plan (der von einer Arbeitsgruppe leicht zu bewältigen gewesen wäre) aufgegeben hatte ("Angesichts der Machtverhältnisse ..."), habe ich die Arbeit selbst unternommen und das Wörterbuch nach einer Probeversion und hilfreicher Kritik veröffentlicht, später noch mit knappen Bedeutungsangaben, die aber nichts zur Sache beitrugen (obwohl sie mich sehr viel Arbeitskraft kosteten!).
Damit war das von Herrn Achenbach angesprochene Problem im Prinzip gelöst, wenn auch sicher offen für Verbesserungen – wozu ich ja oft genug eingeladen habe.

Aus meiner heutigen Sicht war es nicht nur die geringe Verbreitung des Wörterbuchs, die eine durchschlagende Wirkung verhinderte. Es waren vor allem die "Machtverhältnisse" und die Entschlossenheit der Politiker, an ihrem längst als verfehlt erkannten und verfluchten Projekt festzuhalten. Es war aber auch die Scheinplausibilität jener falschen Alternative: Reform oder alter Duden. Der Gedanke einer empirisch begründeten und auf den ersten Blick fatal liberalen Rechtschreibung war sogar vielen Mitstreitern nicht schmackhaft zu machen. Wieviele Briefe und Telefonate habe ich hinter mich gebracht, nur um die Freunde davon zu überzeugen, daß mein Ansatz nicht ins Chaos führt! Das war manchmal schier zum Verzweifeln. Dabei konnte meiner Ansicht nach die Beschäftigung und das Arbeiten mit meinem Wörterbuch doch überhaupt keine Zweifel an der Machbarkeit und dem großen Gewinn aufkommen lassen. Aber die fixe Idee, die schon die Reformer umgetrieben hatte, daß man doch unmöglich die Schreibweise von "beiseitelegen" oder "trockenreiben" dem Belieben überlassen könne, beherrschte auch viele Reformgegner. Es war eigentlich derselbe Regelfetischismus hier wie dort.


Herr Wrase hat in mühevoller Kleinarbeit nachgewiesen, daß mein Wörterbuch zu viel weniger Fehlern führt, ohne die Qualität der Texte zu beeinträchtigen. Was will man mehr? Es wäre richtig gewesen, auf diesem Wege weiterzugehen, aber leider ist fast niemand gefolgt, und die Politik ging sowieso andere Wege. Wir mußten uns mit den albernen Thesen der Karlsruher Gutachter herumschlagen, mit der absurden Tätigkeit des Rechtschreibrates (mir liegen die überaus lächerlichen Dokumente seiner "Korpusarbeit" von 2008 vor) usw. Da hatte die Vernunft nie eine Chance.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 06.11.2010 um 04.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17029

Sie formulieren die Aufgabe so, daß sie unlösbar wird, lieber Herr Achenbach: »Die "traditionelle Rechtschreibung" bleibt so lange eine Schimäre, wie man nicht genau angibt, worin sie eigentlich besteht.«

Aber immerhin läßt sich genauer angeben, was Haarspaltereien sind. In der sogenannten GZS zum Beispiel sind es Unterscheidungen, die zu markieren Orthographie ein untaugliches Mittel ist (groß schreiben/großschreiben) oder die festzulegen Sprachkundlern nicht zusteht ("wörtliche" und "übertragene" Bedeutungen). Soweit die Leute der Meinung sind, daß hängenbleiben etwas anderes als hängen bleiben bedeutet, werden sie vom Spatium entsprechend Gebrauch machen – jeweils vorschreiben darf man ihnen diese Meinung jedoch nicht.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.11.2010 um 03.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17028

Aber Herr Achenbach, mit Ihrem Beitrag tun Sie so, als gäbe es das Wörterbuch von Professor Ickler nicht. Sie machen uns keine Freude, wenn sie bei dieser Thematik dessen Existenz ignorieren. Da steht ziemlich genau drin, über welche Schreibungen sich die Sprachgemeinschaft vor der Reform einig war.

Natürlich gibt es immer Grenz- und Zweifelsfälle, gerade wenn Sie es mit der Wirklichkeit zu tun haben und nicht mit einem am Schreibtisch ersonnenen autoritären Plan zur Beseitigung von Zweifelsfällen. Grenz- und Zweifelsfälle haben es nun mal an sich, daß der eine den Fall eher jenseits der Grenze ansiedeln möchte und der andere diesseits derselben Grenze. Die Antwort darauf lautet: "Liberalität an den richtigen Stellen", das heißt, Zweifelsfälle sind und bleiben Zweifelsfälle und sollten der Wahrheit und Nützlichkeit wegen nicht wegdefiniert werden.

Auch dann bleibt noch eine Unklarheit: Was ist schon ein Zweifelsfall und was kann man noch als Konsens feststellen? Diese schwierige Aufgabe hat das Wörterbuch von Professor Ickler sehr ausgewogen und klug gelöst. Es versteht sich im übrigen als Vorschlag und als Arbeitsgrundlage, nicht als die alleinige Wahrheit. Wer es etwas eindeutiger haben will, könnte darauf aufbauend einige Zweifelsfälle unterschlagen und eine Normschreibung bei der üblicheren oder aus sonstigen Gründen vorteilhafteren Schreibung ansetzen. Oder umgekehrt: Man kann hier und dort Varianten mit aufnehmen, wenn man der Vielfalt mehr Raum lassen möchte.

Sogar beides nebeneinander: Man kann auf derselben empirisch ermittelten Masse der Schreibungen zugleich ein liberaleres Wörterbuch begründen und ein anderes, das der Eindeutigkeit zuliebe Nebenvarianten unterschlägt und/oder Empfehlungen bei dominierenden Varianten gibt und/oder das Hinweise zum differenzierten Gebrauch anbietet. Das ist kein Widerspruch. Diese verschiedenen Ergebnisse ergänzen sich. Dieses Wörterbuch ist besser für eine bestimmte Nutzergruppe geeignet, das andere Wörterbuch für einen anderen Zweck.

In der konkreten Arbeit zeigt sich, daß man mit diesem empirischen Ansatz zu einem sehr guten und brauchbaren Ergebnis kommt, egal wie sich der Wörterbuchverfasser bei der Varianten- und Empfehlungsfreudigkeit im einzelnen verhält.

Und, worum es hier geht: Es läßt sich vor allem sehr gut erkennen, worin die willkürlichen Haarspaltereien des Duden bestanden. Hierzu haben wir eine sehr große Menge von Beispielen besprochen. Beispielsweise wird man zu dem Ergebnis kommen, daß die Schreibungen bestehen bleiben und bestehenbleiben friedfertig nebeneinander existieren (bei einem Übergewicht der Getrenntschreibung), ganz anders, als es der Duden behauptet hat.

In tausenden Fällen können Sie sehen, daß das Wörterbuch von Professor Ickler dem Sprachgebrauch besser gerecht wurde. Es enthält eben nicht die Haarspaltereien des Duden.

(Es ist nicht leicht, bei diesem Thema das richtige Tempus zu finden: Präsens oder Präteritum? Ich habe manches in der Gegenwartsform formuliert, was mittlerweile eher in der Vergangenheit anzusiedeln ist.)
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 05.11.2010 um 23.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17027

Es ist leicht gesagt, daß man nicht zurück zu den "Haarspaltereien des alten Duden" wolle. Schwieriger ist es, genau zu bestimmen, was diese "Haarspaltereien" eigentlich sind. Gehören die Unterscheidungen zwischen im allgemeinen und im Allgemeinen, zwischen reisessend und Reis essend dazu? Oder gar die Unterscheidung zwischen das und daß (die allerdings nicht vom Duden zu verantworten ist)?

Ich denke, schon in diesem Kreise wäre eine Einigung darüber nicht so leicht.

Die "traditionelle Rechtschreibung" bleibt so lange eine Schimäre, wie man nicht genau angibt, worin sie eigentlich besteht.

Sagt man "wir wollen ja gar nicht zurück zum alten Duden", so setzt man sich dem auf der Hand liegenden Einwand aus, man wolle ja ebenso eine Reform der Rechtschreibung, könne aber nicht angeben, worin sie genau bestehe. Dann sei es doch besser, sich an die ausgearbeitete, an den Schulen schon eingeführte amtliche Reform zu halten, welche Mängel sie auch haben möge.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 05.11.2010 um 15.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17019

Die Alternative „Reform oder Duden“ ist zwar von der Sache her falsch, war aber wohl politisch unvermeidlich. Eine überwältigend große Mehrheit der Deutschen glaubte und glaubt immer noch, daß die Rechtschreibung vom Staat kommt, zumindest nur von ihm garantiert werden kann. Je gewichtiger der Widerstand gegen die Reform ist, desto mehr gerät dieser deshalb in einen unlösbaren Konflikt, genauer: in einen Konflikt, den nur der Staat lösen kann. Sein Rückzug aus der Orthographie ist dabei von vornherein ausgeschlossen. Für die meisten war es schon ungeheuer kühn, überhaupt in Konflikt mit der staatlichen neuen Norm zu stehen. Erträglich wurde das nur durch die Hoffnung, der Staat werde ein Einsehen haben und dem Volk die vertraute Norm wieder zurückgeben.

Das war auch die Hoffnung der aufmüpfigen Verlage, die sich demgemäß durch bloße Beharrlichkeit in die Knie zwingen ließen. Entsprechend lauteten dann ihre Begründungen dafür, den Widerstand aufzugeben: daß dieser den Staat nicht dazu bewogen habe, von seinem Vorhaben abzulassen. Vielleicht hätten sie noch schneller klein beigegeben unter der Androhung, zwar die Reform zurückzuziehen, nicht jedoch das Duden-Privileg wiederherzustellen: „Entweder ihr nehmt unsere Norm, oder ihr bekommt gar keine!“ – Die bittere Ironie der Kleinmütigkeit ist, daß sich jetzt (zumindest vorläufig) die dpa-Hybridorthographie als die tatsächliche neue Norm durchzusetzen scheint.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.11.2010 um 10.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17018

Ja, das war schon richtig; ich denke jetzt mehr an die Konzentration und an die Verzettelung der Kräfte. Manches hat sich von selbst erledigt, die darauf verwendete Arbeit war mehr oder weniger vergeudet. Aber das sieht man leider nicht, wenn man mittendrin steht.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 05.11.2010 um 09.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1360#17016

Hätte ich das damals klarer gesehen, hätte ich vielleicht meine Strategie geändert und das Hauptgewicht auf etwas anderes gelegt.

Das verstehe ich nicht. Was hätten Sie klarer sehen können? Ihre Strategie war doch ganz richtig: Das Argument der Reformpropaganda "Zurück zu den Duden-Haarspaltereien wäre eine Zumutung" hatte eine gewisse Plausibilität, es war stark und verführerisch. Also war es wichtig, ja notwendig, immer wieder zu sagen und zu zeigen, daß die Substanz der traditionellen Rechtschreibung, zu der man zurückkehren sollte, keineswegs mit dem Duden identisch ist und dessen Haarspaltereien NICHT enthält. Auch gegenüber den eigenen Mitstreitern (auch gegenüber mir, bis ich es verstanden hatte) war es nötig, dies immer wieder zu betonen und zu demonstrieren. Zu einer Selbstkritik gibt es doch überhaupt keinen Anlaß. Im Gegenteil, ein sehr großes Lob dieser Aufklärung ist zu jeder Zeit fällig.

Was gibt es da zu zweifeln?
 
 

nach oben


Ihr Kommentar: Sie können diesen Beitrag kommentieren. Füllen Sie dazu die mit * versehenen Felder aus und klicken Sie auf „Kommentar eintragen“.

Sie können in Ihrem Kommentar fett und/oder kursiv schreiben: [b]Kommentar[/b] ergibt Kommentar, [i]Kommentar[/i] ergibt Kommentar. Mit der Eingabetaste („Enter“) erzwingen Sie einen Zeilenumbruch. Ein doppelter Bindestrich (- -) wird in einen Gedankenstrich (–), ein doppeltes Komma (,,) bzw. ein doppelter Akut (´´) werden in typographische Anführungszeichen („ bzw. “) umgewandelt, ferner werden >> bzw. << durch die entsprechenden französischen Anführungszeichen » bzw. « ersetzt.

Bitte beziehen Sie sich nach Möglichkeit auf die Ausgangsmeldung.
Für sonstige Diskussionen steht Ihnen unser Diskussionsforum zur Verfügung.
* Ihr Name:
E-Mail:
(Wenn Sie eine E-Mail-Adresse angeben, wird diese angezeigt, damit andere mit Ihnen Kontakt aufnehmen können.)
* Kommentar:
* Spamschutz:   Hier bitte die Zahl einhundertvierundfünfzig (in Ziffern) eintragen.
 


Zurück zur vorherigen Seite | zur Tagebuchübersicht


© 2004–2018: Forschungsgruppe Deutsche Sprache e.V.

Vorstand: Reinhard Markner, Walter Lachenmann, Jan-Martin Wagner
Mitglieder des Beirats: Herbert E. Brekle, Dieter Borchmeyer, Friedrich Forssman, Theodor Ickler, Michael Klett, Werner von Koppenfels, Hans Krieger, Burkhart Kroeber, Reiner Kunze, Horst H. Munske, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Bernd Rüthers, Albert von Schirnding, Christian Stetter.

Webhosting: ALL-INKL.COM