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12.01.2005
 

Wieso sind Sprachen schwierig?
Und warum einige mehr als andere?

Diesen Fragen widmet sich der New Yorker Linguist John McWhorter in einem Beitrag für das World Question Center der Zeitschrift Edge.

Seine Antwort ist allerdings nur bedingt verallgemeinerungsfähig, denn wo haben schon in jüngerer Vergangenheit zwei hominide Rassen nebeneinander gelebt?



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Kommentare zu »Wieso sind Sprachen schwierig?«
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Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 12.01.2005 um 19.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=180#162

Das World Question Center hat sich für 2005 etwas einfallen lassen: Great minds can sometimes guess the truth before they have either the evidence or arguments for it (Diderot called it having the "esprit de divination"). What do you believe is true even though you cannot prove it? Einige der Antworten sind nun im Internet nachzulesen. Verständlicherweise hat man diese Frage nicht der KMK vorgelegt. Ihre Antwort hätte wohl gelautet: "Wir glauben, ohne es beweisen zu können, daß die 1996er Rechtschreibreform Gerhard Augsts den Schreibanfängern und den Wenigschreibern große Erleichterungen gebracht hat." Dies allerdings mit Augenzwinkern gesagt, denn so ganz überzeugt war davon wohl nie jemand, und im letzten Jahr der turbulenten Einführungsphase ist man es schon gar nicht. Von Rechtschreibung ist in den Antworten zur Edge Question 2005 ansonsten nicht die Rede, und was der linguistische Senior Fellow John McWhorter vom Manhattan Institute - ohne es beweisen zu können - zum Nebeneinander von hochentwickelten und primitiven Sprachen in Indonesien ausführt, legt auch ohne die Annahme der Existenz von "little people", "a different species of Homo", die Deutung als Kreolisierung nahe, wie am Ende des Beitrags zu lesen steht. Interessanter ist der folgende Satz, der von Gerhard Augst stammen könnte: Most languages are much, much more complicated than they need to be. They take on needless baggage over the millennia simply because they can. Fragen wir uns also - mit Blick auf unser eigentliches Thema - warum die Rechtschreibung der uns geläufigen Sprachen so schwierig ist, was das für deren heutige Verwendung bedeutet, und ob eine Vereinfachung möglich oder wünschenswert wäre.

Feststellung Nr. 1: Am Anfang war die Schreibform aller europäischen Nationalsprachen eine Lautschrift, und zwar auf der Grundlage der im frühen Mittelalter gebräuchlichen Lautwerte des lateinischen Alphabets. In diesem Stadium konnte man wirklich von geplanter und experimenteller "Schreibentwicklung" reden. Da die neuen Nationalsprachen und deren Dialekte sich in dieser Phase und später - ungeplant - lautlich weiterentwickelten, war auch die beständige Anpassung der orthographischen Praxis gefragt. Dabei erwies es sich jedoch, daß sich die ursprünglich bewußt geplanten Schreibungen verselbständigt hatten. Fast immer übernahmen sie die neuen Lautungen, ohne daß orthographisch etwas verändert wurde. Das englische Wort "team" hat so in seiner weit über tausendjährigen Schreibgeschichte seine ursprüngliche Form behalten können, obwohl der ursprüngliche Diphthong (lang äa) am Ende der altenglischen Periode zu einem offenen "e" (unser langer ä-Laut) monophthongisiert wurde, sich dann im Mittelenglischen zu einem geschlossenen "e" (unser eh) entwickelte und im Frühneuenglischen schließlich zu einem langen "i" wurde. Dieses Verfahren der Beibehaltung der einmal vorhandenen Schreibformen hat den außerordentlich angenehmen Nebeneffekt, daß die älteren Dokumente lesbar bleiben. Engländer und Amerikaner von heute können ohne Schwierigkeiten mittelenglische Texte lesen, obwohl sie in ihrer Entstehungszeit ganz anders ausgesprochen wurden. Im Französischen und im Deutschen ist das nicht anders. Bei uns ist man sich dieser Tatsache meist nicht bewußt. Wer aber die deutsche Orthographie für eine Lautschrift hält, irrt sich sehr. Überall müssen Kinder und Jugendliche sich in jahrelangem Mühen mit dem überlieferten Schreibwortschatz vertraut machen, um ein Bildungsziel zu erreichen, für das es nicht einmal ein deutsches Wort gibt, so selbstverständlich ist es: literacy. Die neuerdings übliche Darstellung der Laut-Buchstaben-Beziehungen in Wörterbüchern und orthographischen Regelwerken ist eine überflüssige linguistische Spielerei. Praktischen Wert hat sie nicht. Durchgreifende Vereinfachungen der historisch tradierten Schreibformen würden den kontinuierliche Prozeß der Textüberlieferung unterbrechen und somit die gegenwärtigen Sprachbenutzer von einem Teil der kulturellen Vergangenheit abschneiden. Das Englische würde wegen der schwer lesbaren lautschriftlichen Gestalt der Internationalismen zudem seinen Charakter als Weltverkehrssprache verlieren.

Feststellung Nr. 2: Unter der Hand der Schreibenden haben die ursprünglich auf die Wiedergabe der Lautung beschränkten Orthographien Züge entwickelt, die es gestatten, weitere semantische Informationen graphisch auszudrücken. Dabei sind die Sprachen freilich unterschiedliche Wege gegangen. Im Deutschen spielen besonders die Wahl von Klein- oder Großschreibung bzw. Getrennt- oder Zusammenschreibung eine Rolle. In beiden Fällen ist die Entwicklung noch im Fluß. Die Großschreibung der Substantive und der substantivierten Wörter anderer Klassen macht geschriebene deutsche Sätze nicht nur übersichtlicher, sondern lenkt den Blick zugleich auf die eigentlichen Gegenstände der Aussage. Kleinschreibung von Substantiven bzw. die Blockierung der Substantivierung kehrt diese Botschaft um. Daraus hat sich die Nebenfunktion entwickelt, die Verwendung eines Wortes im übertragenen Sinn zu kennzeichnen: Wer "im trüben fischt", beschäftigt sich nicht mit modrigem Gewässer, und ähnlich schließt in "durch dick und dünn" oder "im übrigen" die Kleinschreibung die wörtliche Bedeutung aus. Die Zusammenschreibung drückt primär einen lautlichen Zug aus, nämlich die Anfangsbetonung zweier oder mehrerer zu einem Wort zusammengezogener Morpheme. Das gilt durchgängig für Substantive und Adjektive. Bei zusammengesetzten Verben (die eigentlich "Zusammenrückungen" heißen sollten) kommt zusätzlich hinzu, daß sie häufig eine neue Bedeutung vermitteln, die sich nicht aus der Addition der Teilbedeutungen ergibt. Vereinfachungen in allen diesen Fällen wirken sich zwar nicht so desaströs aus wie bei der traditionellen Einzelwortschreibung. Sie erschweren aber den Lesevorgang und beschneiden die Ausdrucksmöglichkeiten des Schreibers.

Eine weitere Besonderheit des Deutschen ist die Existenz von amtlich erlassenen Rechtschreibregeln. "Most languages are much, much more complicated than they need to be", urteilt McWhorter. Sagen wir lieber: Die deutsche Rechtschreibregelung ist sehr viel schwieriger, als sie es sein müßte. Wie man Einzelwörter und Wortstämme schreibt, lernt man als Leseerfahrung oder im Unterricht kennen. Nur selten ist hier ein Blick ins Wörterbuch nötig, etwa bei "Weidmann" oder "Waidmann"? Ungeläufige Fremdwörter wären ein anderer Fall. Das ist auch bei Engländern und Franzosen so. Ganz am Rande sind übrigens auch ein paar Regeln sinnvoll: Am Wort- oder Silbenschluß ändert man "ss" zu "ß"; den Plural von "eau" schreibt man "eaux"; nach kurzem Vokal verdoppelt man den Endkonsonanten vor "-ed" und "-ing".

Ansonsten benötigen Deutschschreibende nur ein paar Hinweise zur Groß- und Kleinschreibung und zur Getrennt- und Zusammenschreibung, aber bitte kein Linguisten-Gobbledygook. Hier sollte der Schreiber auch erfahren, was er im Zweifelsfall tun soll, und Lehrern sollte ins Gewissen geredet werden, auf diesem Boden hoher deutscher Schreibartistik vorsichtig mit dem Rotstift umzugehen. Die ganze Schreibgemeinschaft aber sollte sich klarmachen, daß ihr kollektives Verhalten gegenüber ungewöhnlichen Schreibungen die Lackmusprobe auf ihre demokratische Gesinnung darstellt.

Was alles auf unsere Feststellung Nr. 3 hinausläuft: Alle Kultursprachen haben aus historischen Gründen und infolge der Notwendigkeiten hochentwickelter Schreibpraxis schwierige Orthographien. Deren Erwerb ist ein herausragendes Bildungserlebnis, und ihre Existenz sichert die kulturelle Kontinuität. Daran Hand zu legen wäre ein Akt der Barbarei. Freilich benötigt nicht jedermann die ganze Fülle der Ausdrucksmöglichkeiten, die die Hochform einer modernen Rechtschreibung zur Verfügung stellt. Toleranz ist deshalb die einzig mögliche Antwort auf wie auch immer bedingtes schlichtes Schreiben und andererseits auf das ungewöhnliche Schreiben der Kreativen.



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.08.2018 um 17.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=180#10967

The reason languages with fewer speakers are more complicated is not because the complexity befits their speakers in some way, but because for a language to be spoken by massive numbers of  people tends to mean that it was imposed on nonnative speakers at some point, and therefore beaten up by the mundane fact that it´s tough to really learn a language after adolescence.

In other words, the complex kind of language is a norm—it´s the way almost every language on earth has become over countless millennia of stepwise accretions of “mess.” First a feminine gender marker, then a subjunctive mood, next some evidentials, later a language becomes tonal—one never knows just what will happen, but something will, and then something else, and then something else. After a while you have the awesome mess that is a language. The only thing that interferes with this norm is the odd circumstance of people learning a language as adults rather than as children— something that has happened mostly in recent millennia as technology has allowed vast and rapid population movements. (John McWhorter: The language hoax. Oxford 2016:67)

https://de.scribd.com/doc/283737739/MCWHORTER-John-H-The-Language-Hoax

In größeren Sprachgemeinschaften könnte auch das Lernen der Hochsprache durch Dialektsprecher vereinfachend wirken.

McWhorter meint, daß alle Sprachen, wenn auch in verschiedenem Maß, unnötig kompliziert sind. Zu diesem Ergebnis kommt er nicht zufällig als Kreolsprecher und -forscher. Vgl. "Most languages are much, much more complicated than they need to be. They take on needless baggage over the millennia simply because they can." (http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=180#162)

Zur ganzen Diskussion s. hier: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=719#22963


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.08.2018 um 16.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=180#10968

Jeder bemerkt es, wenn die Standardsprache Dialektwörter aufnimmt. Weniger auffällig, aber vielleicht bedeutsamer ist die Vereinfachung der Standardsprache dadurch, daß Erwachsene sie lernen, seien es Fremdsprachige oder eben Dialektsprecher – der Grundvorgang der Kreolisierung (vgl. McWhorter). Das „zerrüttete“ Tempussystem der deutschen Hochsprache, das zur Zeit keine konsistente grammatische Beschreibung erlaubt, hängt vielleicht damit zusammen, daß sowohl Nord- wie Süddeutsche ein jeweils verschiedenes System und keine Intuition für das hochsprachliche haben, das auch nie in der Volkssprache verankert war.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.09.2020 um 07.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=180#11116

Im Reiseteil der Zeitung wird über die Reste von "Unserdeutsch" berichtet, einem Kreol, das in der kurzlebigen Kolonie Deutsch-Neuguinea entstand und heute nur nioch hundert betagte Sprecher haben soll, die meisten inzwischen in Australien.

Als eine Art sprachlicher Widerstand gegen das oktroyierte Deutsch der Missionare entwickelten die Schüler schnell ihre ganz eigene Sprache, die sie „Kaputtene Deutsch“ oder „Falsche Deutsch“ nannten. Eine Sprache, die wie Deutsch anmutete und ohne Prügelstrafe gesprochen werden konnte. In Wirklichkeit ist sie aber eine innovationsreiche Mischsprache, deren Wortschatz zwar überwiegend auf dem Deutsch der Missionare basiert, deren grammatische Struktur aber im örtlichen Tok Pisin verwurzelt ist, das die meisten Kinder von Haus aus sprachen. (FAS 27.9.20)

Sondersprache als stiller Widerstand - das paßt in die heutige Zeit, ist aber für die damalige Entwicklung nicht nachweisbar. Es gibt natürlichere Erklärungen dafür, daß die Schüler, die keine gemeinsame Sprache hatten, auf dem Schulhof nicht die deutsche Schriftsprache benutzten, die sie im Unterricht lernten. Es ist auch nicht sicher, daß die meisten Kinder das englischbasierte, ebenfalls recht junge Tok Pisin als Muttersprache sprachen.



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